Grenzen der Kontrolle

Compliance In vielen Unternehmen sollen ganze Abteilungen darauf achten, dass Mitarbeiter sich regelkonform verhalten. Eine aktuelle Studie zeigt wie anders die Realität aussieht

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Seitdem der Abgasbetrug im Hause VW für ausgiebige mediale und politische Entrüstung sorgte, erfährt das altbekannte Krisenthema Compliance wieder viel Beachtung. Compliance, was zunächst einmal so viel meint wie „Regeltreue“, wird als fester Bestandteil von Unternehmen gefordert. Was aber wäre, wenn das Umgehen und Unterlaufen von Regeln in vielen Arbeitsabläufen nicht abnormale Ausnahme, sondern normalen Alltag darstellt?

Soziologen werden nicht müde, in diesem Zusammenhang von „brauchbarer Illegalität“ zu sprechen. Der Begriff wurde vor einem halben Jahrhundert von Niklas Luhmann eingeführt. „Illegal wollen wir ein Verhalten nennen, das formale Erwartungen verletzt. Ein solches Verhalten kann gleichwohl brauchbar sein“, schreibt der 1998 verstorbene Gesellschaftstheoretiker (und gelernte Jurist) in seinem Grundlagenwerk „Funktionen und Folgen formaler Organisation“. Luhmann, der vor seiner späten akademischen Laufbahn viele Jahre in Verwaltungen zubrachte, musste es wissen. Gemeint sind die tagtäglichen Abweichungen im Arbeitsleben. Diese sind praktisch oder wirtschaftlich nützlich, können jedoch – und darin liegt der Clou des Gedankens –, weder betriebsintern noch außerhalb offen kommuniziert werden könnten.

Erwartungsgemäß erregen derartige soziologische Fremdbeschreibungen zur üblichen Regeluntreue im Wirtschaftssystem den Unmut jener, die hierin blanken Zynismus wähnen, wie es vor einigen Wochen der Publizist Götz Eisenberg auf den NachDenkSeiten tat, der gleich direkt ein „Verschwinden der Moral aus der Wissenschaft“ beklagt und „heruntergekommene“ Soziologie zu erkennen meint. Andernorts wird – wie ein Kommentar von Holger Steltzner in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zeigen kann – die empirische Beobachtung der regulären Regelabweichung schlicht als „plump“und „leichtfertig“ diskreditiert; verbunden mit dem Vorwurf, man versuche am Beispiel VW „die gesamte deutsche Industrie madig zu machen“.

Was aber bringt all das Echauffieren, wenn die Praxis in Organisationen eben sehr viel turbulenter aussieht, als es die Vertreter moralischer Appelle und Wissenschaftsrügen ertragen wollen? Welche konkreten Probleme entstehen, wenn Arbeitsverhalten immer häufiger von eigenständigen Compliance-Abteilungen überwacht werden soll, zeigt eine aktuelle Studie des Arbeits- und Organisationsforschers Jens Bergmann von der Universität Hannover: Die Compliance-Manager eines Konzerns können die Effekte ihres Tuns kaum bemessen, stehen aber unter dem Druck, Erfolge präsentieren zu müssen. Ihre Kontrollmittel erweisen sich als wirkungsarm, da geografische Distanz die Durchsetzung hemmt und die Abteilung intern nicht ernst genommen wird.

In dieser Lage begeben sich die Compliance-Manager auf das heikle Terrain der Regelabweichung, die doch gerade sie zu minimieren suchen, indem sie Kommunikationsabläufe in einer Weise gestalten, die eigene Probleme möglichst ausblendet und Mitteilungspflichten umgeht. Man verstößt selbst gegen das Formale, da man Achtung nur auf dem Papier erfährt. Die Kontrolleure finden Wege, sich eigener Kontrolle zu entziehen, wissen um ihre Fassadenfunktion und geben sich wenig zufrieden damit, auf jene reduziert zu werden. Ein gutes Bild nach außen gibt man zwar ab, allein der Abbau von Unsicherheit misslingt. Das, was zu beaufsichtigen ist, darüber weiß man wenig Bescheid. Das wissen wiederum auch die Kollegen, weshalb das Ansehen der Abteilung leidet.

Kontrollinstanzen, so verdeutlicht die Studie, stärken also nicht zwingend formale Regeln. Und umgekehrt bietet Regelwerk keine Gewähr für stabile Kontrollmittel. Womöglich kommt es zur Flucht in informale Praktiken, also in die der eigenen Statussicherung dienliche, brauchbare Illegalität. Natürlich bedeutet das nicht, dass so das einzig mögliche Szenario von Compliance aussehen muss. Gleichwohl zeigt die Organisationsforschung immer wieder, dass sich Regelverstöße über lange Zeit einschleichen und sich gegenüber formaler Kontrolle oft als besonders robust erweisen können. Dennoch: Kaum zu unterschätzen ist der zentrale Vorteil von Compliance für die Außendarstellung von Betrieben – gegenüber Investoren, Kunden, Politik.

Wie über Compliance in Wirtschaft und Recht gedacht und geschrieben wird, damit befasst sich derzeit auch ein Forschungsprojekt an der Universität Oldenburg. Mehr Informationen: www.compliance-forschung.de.

Marcel Schütz ist Doktorand der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften im Fach Organisationssoziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Literatur: Jens Bergmann (2015): Vom Versuch „mit dem Arsch an die Wand zu kommen“: Paradoxien der Compliance-Kontrolle. In: von Goddeck, V./Wilz, S. M. (Hrsg.): Formalität und Informalität in Organisationen. Wiesbaden, S. 237-260.

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Geschrieben von

Marcel Schütz

forscht in Organisationen und experimentiert blogweise mit nicht uninteressanten Angelegenheiten mittlerer Reich- und Tragweite.

Marcel Schütz

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