Im Twitter-Teufelskreis

Diskussion um Mord Der Unterschied von Psyche und Gesellschaft ist Hetzern nicht zu vermitteln und sowieso egal. Ihr Geschäftsmodell funktioniert: Eskalation erzeugt Eskalation

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wie bricht man aus dem Twitter-Teufelskreis aus? Das ist eine zentrale Frage
Wie bricht man aus dem Twitter-Teufelskreis aus? Das ist eine zentrale Frage

Foto: Leon Neal/Getty Images

Nach einer knappen Woche steht soviel fest: Der Kindsmord eines aus Eritrea stammenden Zürchers im Frankfurter Hauptbahnhof hat eine Welle der Wut in Gang gesetzt. Nach dem, was als polizeilich gesichert gilt, spricht alles gegen die Tat eines politisch Radikalisierten, gegen Terrorismus, gegen Rache an Institutionen oder Personen, gegen organisierte Kriminalität. Es gibt keine Anhaltspunkte für gruppenspezifisch motivierte Gewalt. Eine politisch-ideologische Tendenz jedweder Art ist nicht erkennbar. Die allfällige Wahn- oder Affekttat ist womöglich die eines in die Gesellschaft gut Integrierten und ohne bekannten Grund psychisch Derangierten. In paranoiden und Wahn- bzw. Affekttaten können die üblichen „Hemmmechanismen ausgesetzt sein“, wie der Psychologe Martin Bliesener vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen auf ZEIT ONLINE ausführt. Der Volksmund spricht vom „Durchdrehen“.

So sehr die Gesellschaft immer wieder mit „Durchgedrehten“ ihre Last hat, so sehr erscheinen auch jene durchgedreht, die beim Kommentieren nicht einmal im Ansatz Selbstbeherrschung und Selbstachtung wahren. Kaum ein soziales Medium bringt die Niedertracht der Vorverurteilung und Fremdenfeindlichkeit ähnlich brachial zum Vorschein wie der Kurznachrichtendienst Twitter, vielleicht neben Facebook. Erwartbar hat die Prominenz der „Alternative für Deutschland“ (AfD) es sich nicht nehmen lassen, gleich nach ersten Meldungen eigenes Kapital aus der Sache zu schlagen; ebenso erwartbar haben ihre Anhänger danach dann eine Meinungsschlacht veranstaltet; der altbekannte Sound: Willkommenskultur gescheitert, Gefahr der offenen Grenzen, unkontrollierte Zuwanderung usw. Es versteht sich, dass diese Auswahl nur die ziemlich harmlose ist. In sicherer Anonymität wurde darüberhinaus massenweise abermals die blanke Menschenverachtung kommuniziert – Meldung Freiwilliger als ehrenamtliche Scharfrichter selbstverständlich inkludiert.

Rohe rhetorische Maßlosigkeit

Dass der solides Deutsch sprechende Eritreer christlichen Glaubens seit 2006 in der Schweiz lebte, über ein Integrationsprogramm bei den Zürcher Verkehrsbetrieben beschäftigt gewesen ist und durch unauffälligen Lebenswandel im idyllischen Wädenswil gerade nicht als der hätte auffallen können, den man sich unter einem traumatisierten Flüchtling oder islamischen Terroristen vorzustellen hat: was soll’s, wen interessiert’s. Buchstäblich wie aus der Pistole geschossene Stegreif-Kommentare wie die des Chefredakteurs der BILD-Zeitung, Julian Reichelt, („NEIN, das ist ganz sicher kein Grund, jetzt jede politische Debatte über die Herkunft des Täters zu unterbinden“) und der AfD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag Alice Weidel in der Zeitung Junge Freiheit („Sind ja nur deutsche Opfer“) verdienen es wirklich nicht, noch weiter kommentiert zur werden, offenbaren sie im Stil der Aufwiegelung doch einzig rohe rhetorische Maßlosigkeit. Dabei wäre es sehr legitim, sich kritisch zu Angelegenheiten wie Identitätsfeststellung, illegalem Aufenthaltsstatus und Kooperation zwischen internationalen Kriminal- bzw. Fahndungsbehörden einzulassen. Das sachliche Niveau dieser berechtigten Anliegen ist aber zu trennen von einer reißerisch-rabiaten Darstellung.

Generell gilt: Wer längst stabil zu einschlägigen Aversionen neigt, dem wird daran gelegen sein, dass nicht die Erzählung vom buchstäblich armen Irren Raum findet, sondern jene vom bösen Schwarzen. Den Irren kann man der Psychiatrie zur Begutachtung bringen, kann man studieren und, am Ende des juristischen Verfahrens, etwaige Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit im Zeitpunkt der Tat bestätigt sehen. Er ist dann einer, über den die Justiz zu richten hat und bei dem sie doch nicht über alles wird richten können. Schuldunfähigkeit nicht ausgeschlossen, so der Göttinger Psychiatrieprofessor Borwin Bandelow gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ein solch gemeingefährlicher Verrückter eignet sich schlecht als Objekt rechter oder sonstiger gruppengerichteter Hetze.

Keine besondere gesellschaftliche Tragweite

Dass Populisten sich nicht mit der Tat eines Verrückten begnügen wollen, ist leicht zu erklären. Denn wird die Sache zum psychiatrischen Fall, geht ihr die Eignung als ideologischer Fall verloren. Ohne künstliches „Sozialisieren“ der Tat bleibt der Skandal aus und das Ressentiment greift nicht. Eben daher muss, dem eigenen radikalen Weltbild folgend, die Hetze erst mal noch hochgefahren werden, um mit Stimmung jene für sich einzunehmen, richtiger: zu beirren, die auf jeden Moment lauern, ihre eigene Derangiertheit auf die übliche unbeholfene Weise mitzuteilen. Auch zivilsierte Politiker fördern, vermutlich medial-symbolisch orientiert, das Sozialisieren der Tat indem sie nun eine verstärkte Polizeipräsenz und zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen an Bahnhöfen forcieren wollen. Dies dürfte ähnlich aussichtsreich erscheinen wie Vorhaben zur Sicherung von Supermärkten, Opernhäusern oder Universitätsbibliotheken gegenüber potenziellen Amokläufern.

Man kann es momentan nicht oft genug sagen: Die Besonderheit des Frankfurter Falls liegt allenfalls in dem Umstand, dass es sich um keinen von „kollektiver“ Tragweite handelt; dass aber eine fatale psychische Angelegenheit eines Einzelnen sich gleichwohl vorzüglich für die verschärfte, in der Sache unbegründete Beobachtung durch die Gesellschaft eignet. Auf den Affekt der Tat reagiert sie zuweilen mit dem Affekt des Zorns. Und zwar – hierauf kommt es an – insbesondere dann, wenn der betroffene Einzelne mit generalisierten Ressentiments und Vorverurteilungen belegt werden kann.

Es ist dies der Grund, warum Familiendramen, Beziehungstaten und Vergewaltigungen regelmäßig dann zur öffentlichen Sache werden, wenn sich ethnische oder sonstige ideologische „Schablonen“ der Schikane hierfür anbieten. Eine Tat des Wahns unmittelbar zur gesellschaftlichen Angelegenheit aufzubauen, läuft – soziologisch rekonstruiert – im Ergebnis auf ein Verkennen der Unterscheidung psychischer (Individuum, Bewusstsein) und sozialer Systeme (Kommunikation, Gemeinschaft) hinaus. Aber was interessiert manchen, unterscheiden zu können, wenn es dem eigenen Interesse nicht dient?

Eine Frage lautet wieder einmal, wie im sozialmedialen Raum auf solche Eskalation zu antworten ist. Viele sind bemüht, all die Hetze mit moralischen Mahnungen und Rügen zu übertönen. Es ist ein ermüdender Kampf. Wettert man gegen das Milieu der Rechten, bekommt man gut und gerne hundert oder tausend Likes aus den eigenen Kreisen. Aber das ist ein höchstpersönlicher Profit der Aufmerksamkeit in den ersten Stunden und Tagen der Krise. Groß profitieren können die Hetzer selbst, die ja exklusive Beachtung durch ihre Opponenten erfahren. Es kümmert sie wenig, von den üblichen Elite-Verdächtigen (Redakteure, Wissenschaftler, Politiker) mit anklagend formulierten Retweets vorgeführt zu werden. Im Gegenteil, sie reagieren mit Spott, Häme und Emoticons. Aus Eskalation erwächst noch mehr Eskalation und darauf folgt neue (Gegen-)Reaktion und Re-Eskalation. Der Twitter-Teufelskreis ist perfekt. Im Blick auf die sogenannten „Echokammern“ der Web-Boshaftigkeit haben Appelle und Mahnungen bereits über Jahre keinerlei Änderung bewirkt. Die Kurve der digitalen Radikalisierung zeigt nach oben.

Keinen Nerv für Twitterhass und Krawall

Daher wird man einen Weg finden müssen, raffinierter, selektiver, reduzierter oder mal nicht zu reagieren und den Teufelskreis der Hetze mit der Aufmerksamkeit der Ersterregung nicht zusätzlich zu nähren. Das fällt jedem zivilisierten Menschen und besonders den politisch Engagierten schwer. Konservative Zurückhaltung und Mäßigung werden schnell als Leisetreterei oder Arroganz des Wegsehens gerügt. Die Frage, warum dies alles ohnehin am Großteil der Bürger vorbei geht, dürfte überhaupt leicht zu beantworten sein. Weil die meisten Leute keinen Nerv dafür haben, sich in Twitterhass und Krawallmache einzuschalten, ihren Jobs und ihrem Privatleben nachgehen wollen, auf Distanz bleiben. Ganz normales Leben eben.

Nicht alle Verrückten der Gesellschaft werfen sich oder andere vor den Zug; sie leben gar unerkannt unter uns und ihre Anpassungsprobleme reichen von psychischen Konflikten bis hin zu diffusem Hass oder zur konkret auf Gruppen gerichteten Gewalt. Manches davon wird man aushalten müssen; und dabei noch begreifen und dafür werben, nicht alles zum Drama einer Gesellschaft werden zu lassen, das bei näherem Hinsehen kleiner ausfällt und genau deshalb großen Schrecken bereitet: menschliche Tragödien. Den nur achtjährigen Jungen aus Frankfurt bringt keine Debatte zurück ins Leben und für den Mann aus Eritrea ist es so gut wie gelaufen. Vielleicht wäre damit schon Wesentliches gesagt.

Marcel Schütz ist Research Fellow an der Northern Business School Hamburg. Er lehrt Soziologie an der Universität Bielefeld und befasst sich u.a. mit der Forschung zu Devianz, Unfällen und Katastrophen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marcel Schütz

forscht in Organisationen und experimentiert blogweise mit nicht uninteressanten Angelegenheiten mittlerer Reich- und Tragweite.

Marcel Schütz

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden