Im Zweifel gegen die Wissenschaft

Promotion Die Verteidigungsministerin bleibt Doktor. Kein gutes Signal für den akademischen Nachwuchs, aber ein gutes Indiz dafür, Medizin-Promotionen nicht ernst nehmen zu müssen

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Ursula von der Leyen behält ihren Doktortitel und damit ein Stück Würde. Günstig für die Person, jedoch nicht für die Wissenschaft. Nicht um Moral kann es gehen, nicht eigentlich um Anstand, um Sitte oder die leidige Frage, wie viel Ehrlichkeit den Menschen von der Leyen schmückt. Worum sonst geht es Wissenschaft, wenn sie Forschung auf den Prüfstand stellt? Wesentlich geht es um Erhaltung ihrer Funktion, um Grenzziehung, letztlich um Schutz des Systems. Und nötigenfalls um Ausgrenzung jener, die erkennen lassen, dieses System nicht anerkennen zu wollen. Dass medizinische Promotionen oft wenig taugen, wäre abermaliger Erwähnung nicht wert, wäre der vermiedene Titelentzug in Sachen von der Leyen nicht einigermaßen ärgerlich, aus Sicht nicht weniger gar unerträglich für den akademischen Großbetrieb.

Pseudopromotionen fürs Türschild

Qualitativ auffällige Promotionen häufen sich nirgendwo wie in der Medizin. Ein Befund, für den es keines Medizinstudiums bedarf, wie selbst der doktorlose Hausarzt berichten kann. Gegenteilige Ansichten sind inoffiziell bekannt: Das Medizinstudium sei mühsam und langwierig. Ein schneller Doktor gehöre dazu. Garniert wird das Ganze mit der üblichen Beschwichtigungsrhetorik, an der sich trotz Massenplagiaten nichts ändert. Dabei gäbe es Alternativen. Etwa die des vergleichsweise praktisch geschenkten M.D. nach US-Vorbild. Pseudopromotionen könnte man sich so sparen. Nur liegt der organisierten Medizin nichts ferner als Symbolverlust. Alle Versuche, die Mängel der Promotion in den Griff zu kriegen, sind an den mächtigen medizinischen Fakultäten gescheitert, die sich gegenüber Kritik seitens der Restuniversität immunisieren.

Erfreulich für alle Herumdokternden und der Wissenschaftsgemeinde ein Dorn im Auge. Dabei hat der Wissenschaftsrat die studienintegrierte Form der Medizinpromotion wiederholt gerügt. Die Schriften entsprächen nicht dem, was unter Promotion zu verstehen sei, heißt es in 2004 und 2011 publizierten Gutachten. Harte, fruchtlose Worte. Denn Promotionen werden vom Medizinernachwuchs vornehmlich als Upgrade verstanden. Das Türschild dient der Pflege eines Ärztebildes, wie man es aus Vorabendserien kennt. Man müsse Leben retten und nicht Fußnoten, witzeln angehende Ärzte. Dass akademische und ärztliche Kompetenzen lediglich lose gekoppelt sind, weiß jeder.

Sechs Monate hat man an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) geprüft. Eine nicht eben kurze Zeit angesichts eines Elaborats, das in anderen Fächern als Masterarbeit durchginge. Von 62 Seiten sind 27 missraten. Müsste nicht allein ein so krasses Verhältnis von Werkumfang und Plagiaten Anlass bieten, die Doktorwürde abzuerkennen? Die Kommission wollte es anders sehen. Wohlgemerkt: Wollte, denn ebenso hätte sie das Gegenteil entscheiden können, ohne Aussicht auf Verteidigung für die Verteidigungsministerin. Man hat mehr Ent- als Belastendes gesehen. Weil keine Täuschungsabsicht zu attestieren sei, müsse nicht aberkannt werden.

Natürlich sei die Arbeit halb plagiiert. Aber, so beeilt man sich zu relativieren, im einleitenden Teil und nicht im empirischen, was dem Publikum sagen soll, dass es nicht ganz unwichtig ist, an welcher Stelle der Arbeit Wissenschaft am deutlichsten abwesend bleibt. Nur, wie lassen sich akademische Ganzschriften derart aufteilen, wenn schon die Hälfte des Werkes inkriminiert ist? Ist die Promotion zu 35 Seiten noch Promotion und zu 27 Seiten schon missglücktes Machwerk? Das böte eine lukrative Argumentationshilfe für leistungsauffällige Studenten. Auch schwere Mängel sind demnach also kein Grund für Titelverlust. Allein auf die Täuschungsabsicht, nicht auf die Dosis, komme es an, meint man in Hannover wissen zu können.

Fehlerhafte Fehlerbewertung

Näher besehen greift das natürlich zu kurz. Die Argumentation der MHH-Forscher ist, binnenakademisch betrachtet, geradezu abstrus. Täuschungsabsicht ist ein großes Wort. Man sieht sie, wo andere Schlamperei wähnen und man kann sie verneinen, wo die Täuschung ins Auge sticht. Recht lapidar meint die Kommission, es fehle am Muster der Täuschung. Täuschung sei dort, wo System erkennbar werde: gleiche Verschleierungstechnik, ähnliche Machart. Dass gerade die Abweichung von derlei einfältigen Täuschungsversuchen System haben könnte; dass junge Doktorand(inn)en gewiss nicht so unsystematisch darin agieren, etwaiges System systematisch zu präsentieren, kommt den Prüfern nicht in den Sinn. Man sieht die Dinge, wie man sie sehen will, weshalb man mit täuschenden Doktoranden als Dummerchen mit verminderter Trickkompetenz rechnet.

„Fehler, nicht Fehlverhalten“ sieht Hochschulpräsident Christopher Baum. Das sei „ein entscheidender Unterschied“. Wer unterscheidet aber nach welchen Entscheiden? Medizinprofessor Baum muss wissen, dass sein schlichter Spruch verbale Verlegenheit beweist. Wie soll dissertierenden Anglisten, Betriebswirten oder Chemikern - im Regelfall Menschen ohne Mitgliedschaft in Regierungskabinetten - dieser „entscheidende Unterschied“ präsentiert werden? Unterscheidungstricks dieser Art mögen der PR von Hochschulen und Autokonzernen dienlich erscheinen, aus dem Munde eines in sogenannter Exzellenzforschung beheimateten Professors können sie nur humorvoll gemeint sein. Die Behelfsdifferenz von Fehlern und Fehlverhalten ist eingedenk des Ausmaßes angezeigter Fehlnisse selbst fehlerhaft.

Und in Universitäten übrigens ohne Relevanz. Wir sehen als Professoren, Doktorinhaber oder Doktoranden, die wir prüfen und benoten, wenn Absolventen uns hinter die Fichte führen wollen. Jeder methodisch minderbemittelte Student müsste schon bei halber Hälfte der Mängel einer Dissertation à la von der Leyen mit Aberkennung rechnen. Während Strenge beim Normalnachwuchs begrüßt wird, sollen Politiker in fortgeschrittenem Karrierestatus auf Rücksichtnahme hoffen dürfen, um Fallhöhe zu meiden. Noch jüngst forderten das nicht nur verirrte Wissenschaftler, sondern auch jene, die mit dem akademischen System lediglich entfernte Bekanntschaft, dafür aber das Klischee vermeintlicher Elfenbeinturmpedanterie umso hingebungsvoller pflegen.

Philologen und ähnliche Erbsenzähler

Die Kommission in Hannover gibt sich kenntnisärmer, als sie sein kann. Man muss nicht auf Doktoranden schimpfen, die nach wie vor mit minimalem Einsatz glänzen, um ein Maximum akademischer Rendite einzufahren. Man muss hinsehen, wo nach Monaten eine Entscheidung zustande kommt, mit der man sich um simpelste Regeln wissenschaftlicher Praxis nicht schert. Täuschung oder Nichttäuschung ist das eine, Schlechtleistung das andere. Man kann sehen, welche Willkür getrieben wird, geht es nur darum, Täuschung oder Nichttäuschung für Ab- und Anerkennung in Anschlag zu bringen.

Die Versuchung ist groß, mit zweierlei Maß zu messen: mit dem für den leicht opferbaren Standarddoktoranden und jenem, das mit aller Rechtfertigungskunst für Politprominenz angeführt wird. Zu den Stilblüten dieses Verteidigungstalks gehört es, Verjährungsfristen zu fordern. So, als sei ein Doktorgrad ein Hut aus alten Zeiten, den man nur so lange auftun muss, wie es der Kompetenzvermutung dient und auf niederen Rängen gespielt wird.

Niemand muss Medizin, Jura oder Soziologie studieren, um feststellen zu können, ob Zitation gewahrt wird, weshalb Gräzisten Texte über Moral und Pädagogen zum Verfassungsrecht prüfen können. Problematisch wird es, wenn ein Fach gewissermaßen subkulturelle Ansprüche zu verteidigen sucht. Erst recht, wenn man es mit Disziplinen zu tun hat, in deren Reihen gerne mit methodischer Unkenntnis kokettiert wird und man darauf verweist, was früher alles nicht so eng gesehen worden sei; was nichts anderes heißt, als dass Philologen und ähnliche Erbsenzähler nicht zur Familie gehören. Dass späte Mängelanzeige vornehmlich heutiger Existenz digitaler Prüfwege geschuldet ist, spielt offenkundig keine Rolle.

Der Schein der ehrwürdigen Medizin

Was bleibt also vom Verfahren? Die Entscheidung in Hannover ist zumutungsreich und doch wenig überraschend. Sie führt einem breiten Publikum vor Augen, was von Medizinpromotionen zu erwarten ist. Und sie gibt beredt Zeugnis darüber, welche Schleifen man anklebt, um ein literarisches Unglück noch als wissenschaftlich erscheinen zu lassen. Dass wissenschaftliche Maßstäbe ziemlich über Bord geworfen werden, fällt anscheinend kaum ernsthaft auf. Das verbandsmäßig organisierte akademische Spitzenpersonal hüllt sich in Schweigen, was diesmal nicht unbedingt verkehrt sein muss und kaum anders zu erwarten war, nachdem sich so bezeichnete namhafte Vertreter des deutschen Hochschulmanagements in der Causa Schavan mit Verteidigungsreden für die Wissenschaftsministerin und unangemessenen Einlassungen gegenüber der Universität Düsseldorf bzw. ihrer Philosophischen Fakultät unrühmlich hervorgetan hatten.

Unbeholfen wirkt nur noch der Hinweis von Professor Baum, die heutige Ministerin habe neue Erkenntnisse gefunden, obwohl man das gar nicht von einer medizinischen Promotion erwarte. Hört, hört! Es ist solch unbedachtes Verplappern, das (worüber der Mitteilende sich gewiss wenig bewusst ist), alle Kritik der Wissenschaftsverbände in wenige Worte fasst. Die Medizin spricht sich frei, weil sie anders übers Doktorieren zu entscheiden pflegt, als es in anderen Fächern akzeptiert wäre. Man tut den Dingen verfahrensmäßig Genüge. Nicht weniger als das. Aber auch nicht mehr.

Allein bleibt die Frage: Wer braucht diese Medizin an Universitäten? Wer braucht den Schein eines altehrwürdigen akademischen Kernfachs, das seine Zugehörigkeit zum Betrieb vor allem über Missachtung desselben dokumentiert? Die Medizin spielt gefährlich, wenn sie meint universale Prüfmaßstäbe jeweiliger Situation anzupassen, um, wie der Berliner Jura-Professor Gerhard Dannemann es treffend auf den Punkt bringt, zum einen die Hochschule selbst und zum anderen deren prominente - auch privat rege eingebundene - Promovendin nicht beschädigen zu müssen.

Vielleicht sollte es nur noch eigenständige Medizinische Hochschulen geben. So wie in Hannover, wo offenbar manches anders läuft als an normalen Universitäten. Dort könnten sie dann endlich so eigenwillig und eigenständig promovieren, wie es ihnen genehm, und nicht so, wie es an Universitäten gute Gewohnheit ist. Bestnoten auch bei Totalschaden nicht ausgeschlossen. Ob nun Vorsatz oder nicht - im systematischen Täuschen übt sich vor allem die MHH selbst. Und das in alle Richtungen und zum eigenen Wohle.

Marcel Schütz ist Organisationssoziologe an der Universität Oldenburg und promoviert im Kolleg "Kulturen der Partizipation“.

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Geschrieben von

Marcel Schütz

forscht in Organisationen und experimentiert blogweise mit nicht uninteressanten Angelegenheiten mittlerer Reich- und Tragweite.

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