Politik der unsichtbaren Hand

Mikropolitik Angestellte sehen sich oft als kleine Rädchen. Nur geht das Bild vom machtlosen Mitarbeiter bisweilen an der Realität vorbei

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Mitarbeiter führen Weisungen ihrer Arbeitgeber gehorsam aus. Sie selbst sind nahezu machtlos – offiziell. Doch der auf den Namen „Dieselgate“ getaufte VW-Abgasbetrug hat die Frage aufgeworfen, wer auf welcher Position wann, was, mit wem von der groß angelegten Täuschung wissen konnte. Und bereits die nicht erst aus heutiger Sicht verdächtigen Sticheleien und Hinterhaltattacken von Altpatriarch Ferndinand Piëch gegen seinen Widersacher Martin Winterkorn ließen im Frühjahr feinsinnige Rankünen im Wolfsburger Konzern erahnen.

Aus der Organisationsforschung ist seit langer Zeit bekannt: Die informalen, nicht ausgesprochenen und nicht offiziell geduldeten Abläufe der Organisation überragen in ihren Ausmaßen zumeist die formalen; also jene, die aktenkundig sein dürfen und die erlaubte Außendarstellung der Organisation präsentieren. Davon profitieren nicht zuletzt die Mitarbeiter, die mit ihren mehr oder weniger sichtbaren Aktivitäten in allzumal großen Organisationen eigene Interessen forcieren, welche (offiziell) nicht unbedingt mit jenen des Hauses vereinbar sind. Schließlich steckt der Arbeitsalltag voller Taktiken, derer sich Beschäftigte aller Ränge gerne klammheimlich bedienen.

Die Rede ist dann von Mikropolitik. Der Arbeitsforscher Oswald Neuberger zählt dazu alle „Techniken, mit denen Macht aufgebaut und eingesetzt wird, um den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern und sich fremder Kontrolle zu entziehen“. Strategische Koalitionen und Allianzen werden in Großorganisationen gebraucht, um Karriere(n) zu machen, Interessen zu lancieren, um die Ideen anderer zu plagiieren, zu boykottieren oder zu pushen, um die einen auf den Sockel zu heben, die anderen aus dem Weg zu räumen.

Mikromanöver jenseits des Organigramms

Das Verhalten innerhalb dieser Grauzone verstößt gegen das, was als sozial erwünscht gilt. Aus ökonomischer Sicht darf es Mikropolitik gar nicht geben. Das Ideal ist ein rationaler Akteur, der nur an die Rendite der Firma denkt. Kommt es jedoch in der Praxis zu mikropolitischen Aktivitäten, drohen Sanktionen. Vor Beförderungen winken Psychotests, um „Risikokandidaten“ in einer Exceldatei der Personalabteilung notieren zu können. Die Feinde der Mikropolitik greifen zuweilen auf Techniken derselben zurück.

Mikropolitik wird verteufelt. Es sei denn, man profitiert von ihr. Bei Gelegenheit wird mitgespielt. „Jetzt bin ich aber mal dran!“, schallt es aus der Kaffeeküche, bietet sich auf etwas krummem Wege ein Aufstiegsposten. Je komplexer die Hierarchie, desto stärker die Gefühle, nicht das Kuchenstück zu erhalten, das einem zusteht. Ausgerechnet in Konzernen versacken viele mikropolitische Handlungen in diffusen Kanälen. Niemand weiß genau, wer was mit wem im Schilde führt, aber man ahnt und man wittert, ständig und überall. Der Rest aber ist Schweigen.

Arbeitszeugnisse behaupten, der Marketingleiter habe „eigene Interessen stets zurückgestellt“, die Lageristin „nur zum Wohle des Hauses gehandelt“. Solche Passagen würdigen Mitarbeiter, die keiner kennt. Betriebe müssen sich in diesem Als-ob-Modus beschreiben, um saubere Verhältnisse vorzutäuschen. Die Ehrlichkeit, dass Anerkennungs- und Verteilungskämpfe an der Tagesordnung sind, wird keiner honorieren. Mikromanöver sind nicht allein die Sache jener, die im Organigramm einen Hut aufhaben.

Unterwachung von Vorgesetzten

Gängige Vorstellungen von Konzernhierarchien erscheinen demgegenüber auffallend technokratisch: Der Vorstand steht oben an der Spitze und erteilt unaufhörlich neue Ansagen, die von Hierarchieebene zu Hierarchieebene gehorsam umzusetzen sind. Diesen in detaillierten Steuerungsgrafiken dargestellten Instanzenzug nehmen viele Mitarbeiter schon deshalb nicht ernst, weil er erstens vielerorts beinahe quartalsweise neu erfunden wird und zweitens, wo es geht, man lieber die eigenen kleinen Dienstwege beansprucht.

Zu-sagen-Haber gibt es also auch jenseits der Spitze und offizielle Berichtslinien wirken dann wie schmückendes Beiwerk. Der 1998 verstorbene Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann hat in einer seiner früheren Arbeiten auf die „Kunst Vorgesetzte zu lenkenhingewiesen. Luhmann stellt dabei der gängigen Überwachung des Personals die „Unterwachung von Vorgesetzen“ (durch die Untergebenen) gegenüber. Der Kern des Gedankens: Mitarbeiter kennen viele Möglichkeiten, das Verhalten ihrer Vorgesetzten zu eigenen Zwecken zu gestalten.

Im Übrigen sei vor der unterschätzten Macht mittlerer Ebenen und von Vorzimmerdamen sei gewarnt: Nach oben wird gefiltert, nach unten dichtgemacht. Nüchtern betrachtet wirkt Mikropolitik von der Vorstandsetage bis in die Werkshalle. Symbolisch inszenierte Verhaltenskataloge ändern daran wenig. Doch noch eine andere Politik ist für Organisationen ausgesprochen wichtig: die der Symbole.

Eine frühere Fassung dieses Beitrags erschien in der Frankfurter Rundschau.

Marcel Schütz ist Doktorand der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften im Fach Organisationssoziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marcel Schütz

forscht in Organisationen und experimentiert blogweise mit nicht uninteressanten Angelegenheiten mittlerer Reich- und Tragweite.

Marcel Schütz

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden