Unverstandene Union

Europapolitik Die EU braucht Reformen. Das sagt sich leicht. Doch die erheblichen Organisationsprobleme dieses Dachverbands finden nur wenig Beachtung

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Das Straßburger EU-Parlament
Das Straßburger EU-Parlament

Bild: DOMINIQUE FAGET/AFP/Getty Images

Die „Brexit“-Debatte beschäftigt die Medien. Was dem Austrittsbegehren der Briten folgt, ist ein reger Wettbewerb um Reformideen zur Struktur der EU. Die Stärke dieser Reaktionen liegt in ihrer leicht zugänglichen, sehr emotionalisierten Betrachtungsweise. Und ihre Schwäche liegt darin, dass spezifische Voraussetzungen und Bedingungen der Organisation EU als Organisation nur rudimentär in Augenschein genommen werden. Eine instruktive Problembeschreibung bietet der Ansatz der „Meta-organizations“ der schwedischen Organisations- und Wirtschaftswissenschaftler Göran Ahrne und Nils Brunsson. Meta-Organisationen sind solche Fälle von Organisation, die nicht primär Individuen, sondern eben Organisationen zu ihren Mitgliedern zählen. Man denke an Krankenkassenverbände, Handwerks-, Industrie- und Handelskammern, an Gewerkschaftszentralen oder eben als besonderen Fall die EU. Alle Meta-Organisationen verbindet ihre markante Abweichung von „normalen“ Organisationen, wie sie als Unternehmen, Krankenhäuser, Vereine, Schulen oder Verwaltungen vertraut sind. Meta-Organisationen beruhen auf einem relativ exklusiv gebildeten Mitgliederkreis. Überhaupt werden neue Mitglieder eher „erkoren“ als rekrutiert. Relativ übergreifend definierte Aspekte entscheiden über den Zutritt von Organisationen, welche für die Verbundorganisation Passung versprechen.

Das Problem: Die Mitgliedsorganisationen können nicht über Weisungen koordiniert werden, da aufgrund gleichberechtigter Zugehörigkeit keine formale Hierarchie gebildet wird. Dies wiederum ermöglicht die Schaffung informeller Allianzen und Koalitionen, die wahrscheinlich werden, da es an formalen Sicherheiten und Schranken in den Mitgliedschaftsbeziehungen mangelt. Diese Konstitution hat markante Folgen: Erstens können Mitgliedschaftsregeln nur äußerst deutungsflexibel, z. B. über rechtlich bereits geteilte oder künftig als teilbar deklarierte Werte, formalisiert werden. Die meisten Meta-Organisationen sind daher auch sehr bemüht, Eintrittskriterien an relativ überschaubaren Normen zu fixieren. In der Folge können Mitglieder in aller Regel auch nicht ausgeschlossen werden; ein folgenreiches Schutzprinzip, das typischerweise für „typische“ Organisationen untypisch ist. Zweitens fehlt es der Meta-Organisation – die ja vergleichsweise abstrakt bleibt – an Mitteln, Kontrolle über ihre Mitglieder auszuüben, da dies die Gefahr von innerer Opposition verstärken und Selbstselektion wahrscheinlich machen würde.

Konsens als Prinzip

Einen diesbezüglich besonderen Fall stellt das Gebilde der EU dar, da man deren Mitglieder üblicherweise gar nicht als Organisationen wahrnimmt. Mitglieder dieses Verbundes sind „ganze“ Staaten – eine auf den ersten Blick ausgesprochen gewöhnungsbedürftige Konstruktion. Müssen „Meta“-Mitglieder bei Aufnahme eine prinzipielle Vereinbarkeit mit dem allgemein definierten Zweck sowie den wirtschaftlichen und politischen Standards des Bündnisses aufweisen, so beruht ihre Mitgliedschaft in aller Regel auf dem Konsensprinzip, das unvermeidlich zu erheblichen Entscheidungsschwächen der Dachorganisation beiträgt. Umgekehrt ist ein Ausschluss unmöglich, schließlich hat die EU wie jede Meta-Organisation ein Interesse daran, keine Teilorganisation zu verlieren und damit Nachahmung und Schwächung des Bundes zu riskieren. Mitgliedsstaaten können somit faktisch ihre Meta-Organisation offensiv behindern, ja gar in Misskredit bringen (wie im Fall der EU fortlaufend gesehen werden kann).

Meta-Organisationen können gerade aufgrund der Unbestimmtheit eines Austritts diesen langwierig gestalten, mit einem umfangreichen Verwaltungsverfahren belegen oder mithilfe juristischen Feinwerks regelrecht erschweren. Die derzeitige Debatte, in der man sich sehr auf das Verfahren und die Konditionen des Austritts Großbritanniens fokussiert, spricht diesbezüglich Bände. Schon im Vorfeld – wie geschehen – werden trennungswillige Mitgliedsorganisationen mit Aussichten auf Vergünstigungen (siehe „Briten-Rabatt“ und Zugeständnisse in der „Griechenland-Krise“) bedacht, um Austrittsszenarien unwahrscheinlich zu halten. Diese riskanten Sonderleistungen der Meta-Organisation EU führen aber bei allem Erfolg (Besänftigung bzw. vergleichsweise Einigung) zugleich zu neuen Schwierigkeiten, da Vorteilsgewährung durch andere Mitglieder beobachtet und früher oder später mit eigenen Aushandlungen (Drohpotenzialen) gegen die Dachorganisation beantwortet wird.

Für einen einmal gewährten Mitgliedsstatus besteht damit ein genereller „Kündigungsschutz“. Hier unterscheiden sich Meta-Organisationen erheblich von „normalen“ Organisationen, die alltäglich Mitgliedschaften eröffnen und auch wieder beenden, da der Eintritt in eine Vereins- oder Arbeits-Organisation relativ zügig erfolgt und es viele Möglichkeiten des Wechsels in eine andere, ähnliche Organisation für bisherige Organisationsmitglieder bzw. Interessenten gibt. Und da politische Konstellationen wie jene der EU sich monopolhaft entwickeln, müssen selbstinitiierte Trennungen für die Mitglieder überhaupt mit einem hohen Maß an Unsicherheit und drohendem Einflussverlust kalkuliert werden.

EU-Bürger als „Schattenmitglieder“

Erscheint die Meta-Organisationsstruktur hinsichtlich Entscheidungsfragen problematisch, so zeigt das Beispiel der EU eine besonders spezielle Variante. Der Grund dafür liegt in ihrer politischen Rahmung, die eine eigentümliche Doppelbindung zwischen Organisation und Staatlichkeit aufweist. Eigentümlich ist diese Doppelbindung, da einerseits versucht wird, formale Organisation so weit wie möglich dezent zu halten, wiewohl doch nur über Organisation politische Kooperation organisierbar ist; und andererseits, da Staatlichkeit ausschließlich multipel in Form von Nationalpolitiken in Erscheinung tritt, obschon doch gerade über Organisation der Versuch unternommen wird, regelrecht „vereinigte“ Staatlichkeit zu präsentieren. Eine weitere, leicht übersehene, Problematik ergibt sich aus der vielfach beschworenen „Unionsbürgerschaft“ der tatsächlichen Bevölkerung der Mitgliedsstaaten, die sachlich richtiger vielmehr als „Schattenmitgliedschaft“ zu bezeichnen wäre. Individuen können nach dem Konzept der Meta-Organisation keinen direkten Mitgliedsstatus beanspruchen, sie gehören, so die Deutung in der Soziologie, zum Publikum (Wähler, Bürger), werden jedoch – der Selbstbeschreibung des EU-Konstrukts folgend – konsequent als relevante Mitgliedergruppe fingiert. Ausgleichsweise wird man von „mittelbaren“ und „unmittelbaren“ Mitgliedschaften ausgehen müssen.

Die Beschreibung der EU als Meta-Organisation vermag in der Organisationsforschung Interesse auf sich zu ziehen. Dennoch scheint sie nicht eben leicht mit den gegenwärtigen Strukturdiskussionen um die Zukunft der EU kompatibel zu sein. Schließlich liegt die Stärke dieses Ansatzes gerade darin, eingedenk der widerspruchsvollen und entscheidungsproblematischen Organisationsstruktur voreilige Erwartungen (und: Entscheidungen) hinsichtlich „richtiger“ Reformen zu dämpfen, die im Übrigen in Endlosschleife Gefahr laufen, wiederum noch richtigere Reformen aus (noch zu) unrichtigen zu erzeugen.

Demokratie im Überschuss

Bei der Vielzahl der Organisationsprobleme, die sich für Analysen fruchtbar machen lassen, lohnt der Blick auf zwei seit langem besonders diskutierte: die Bemängelung von „Detailregulierung“ und jene Kritik, die sich unter der Behauptung von „Demokratiedefiziten“ sammelt. Zunächst zu letztem Punkt: Organisationstheoretisch reflektiert erscheinen Defizite an Demokratie der EU-Organisation nur schwer nachvollziehbar. Viel eher besticht die umgekehrte These. Nicht Defizite an Demokratie machen den EU-Betrieb problematisch, sondern ein Demokratieüberschuss, da demokratiestaatliche und organisatorische Belange der EU unvermeidbar miteinander konfligieren. Während auf nationalstaatlicher Ebene Zwischenschaltung von Organisationsstruktur ausgeschlossen und gerade Unmittelbarkeit demokratischer Willensbildung als Merkmal „funktionierender“ Rechtsstaatlichkeit zu werten ist, wird im Gebilde der EU Organisation umfassend präsent. Dabei ist es unmöglich, Organisation lediglich organisatorisch zu begreifen, was indes gerade eingedenk der Rücksichtnahme auf nationalpolitische Willensbildung geschieht. Mit anderen Worten soll (politische) Organisation zwar funktionieren, aber offensichtlich gerade nicht als Organisation („Apparat“) institutionell hervortreten.

Solche Erwartungsdifferenz bleibt fiktiv, da keine Formalorganisation bekannt ist, die eine lediglich instrumentelle Verwirklichung ihres Betriebs ermöglichen würde (vulgo: nur dafür sorgte, dass der „Laden läuft“). Dies gilt auch für all jene Organisationen, die über ihre „Schauseite“ offensiv mit einer reduzierten, wenn nicht bescheidenen Organisation aufwarten; wie es bei staatlichen, gemeinnützigen und mildtätigen Einrichtungen zu sehen ist, die sehr bemüht sind, institutionelle Facetten der Organisation aufgrund gerade daraus drohender oder bereits verfestigter Legitimationsprobleme (eben der Organisation als Organisation) dezent zu halten. Das strukturelle Problem einer „organisierten“ EU besteht also darin, auf institutionelle Präsentation, ja „Ornamente“ ihrer Organisation schon aufgrund der repräsentativen, völkerrechtlichen Stellung angewiesen und (doch) zugleich „genötigt“ zu sein, die institutionelle Eigendynamik ihres Instanzenzugs möglichst hintergründig zu halten. Das „Institutionelle“ der Organisation muss gegenüber dem Publikum, den Bürgern, verdeckt, mithin sekundär präsentiert werden,gerade um so die Organisation als Institution zu bewahren, stabil bzw. zustimmungsfähig zu halten.

Regulierung als Ausweichpolitik

Eine weitere, im politischen Apparat und dessen Publikum viel diskutierte, Kritik bündelt sich im Punkt der (überhöhten) „Detailregulierung“ und insofern einer (zu) starken Intervention in nationalstaatliche Belange. Dass dieser Pauschalverdacht in Angelegenheiten der EU derart konfliktreich im Raum steht, ist nicht allein aus dem zeitlosen Phänomen der Bürokratie-Debatten an sich zu erklären, sondern gerade aus dem zweckdiffusen und daher unvermeidbar problematischen Organisationsbau der EU. Vor allem scheint es so zu sein, dass so genannte hohe Detailregulierung eine Reaktion der Ausweichpolitik darstellt. Mit anderen Worten, um überhaupt etwas mit/in dieser Organisation erreichen zu können, bedarf es taktischer Verschiebung der Handlungsstruktur; im Ganzen: der Zweckorientierung der Organisation. In der Konsequenz beschäftigt man sich mit dem (vermeintlich) Nebensächlichen und überbrückt routinebildend Mangel an Tätigkeiten von größerem politischem Umfang. Im Übrigen wird der unaufhörliche Zustrom inkonsistenter Entscheidungsbedarfe im politischen System üblicherweise mit – so ein Wort von Niklas Luhmann – „Darüberreden“ beantwortet: „Die Probleme werden als Probleme behandelt mit einer Präferenz für unlösbare Probleme (…), über die man folgenlos reden kann, weil ohnehin nichts Effektives geschehen kann“ (z. B. EU-Steuerpolitik) oder es werden Probleme erfunden „um Problemlösungen zu vermeiden und andere damit zu beschäftigen“, folgert Luhmann.

Organisationsentscheidungen müssen demnach wesentlich anders erwartet werden, als es in größeren Organisationsgebilden ohne politische Rahmung zu sehen ist. Wo der Konsens der Instanzen die Voraussetzung für Entscheidungsfähigkeit darstellt und Nicht- bzw. Ausweichentscheidungen diesen Mangel kompensieren, wird aber – und darin liegt eine Pointe – „Grobregulierung“ nur weiter erschwert und unwahrscheinlich. Was also soll man richtigerweise in und mit solchen Polit-Betrieben anfangen? Die Organisation schafft sich eigene Reserven der Selbstbeschäftigung. Die Routinen und Prozeduren zeigen zwar Tätigkeit an sich, doch bleibt dabei sehr unklar und in der Zuordnung arbiträr, was alles Getane für die Nationalstaaten abwirft oder eben dadurch für die Staaten wieder verloren geht. Diese Überbrückung ist nicht eigentlich als Unterbeschäftigung zu verstehen, sondern dem Umstand geschuldet, dass es sich um eine Programmierung in der Organisation handelt, mit der man permanent an einer noch unfertigen, an „prozessierter“ Zweckbestimmung zu tun hat (was ihr merklich selbst zu schaffen macht).

Was die EU einmal sein kann, ist Angelegenheit eines hypothetischen, zukünftigen Gebildes. Es ist ja nicht eben organisationstypisch, Zwecke derart prozessual über Wohl und Wehe der Mitgliedschaften auszurichten, also die Organisationsexistenz in die Hände der Mitglieder zu legen. Aber paradox wird es, wenn Organisationen permanent im zeitlich-sachlichen so-als-ob-Modus agieren müssen, zukünftige Szenarien voraussetzen und kalkulieren, über deren Verwirklichung man heute – im Voraus – wenig sagen (vor allem wenig dafür, wohl aber dagegen: boykottieren oder austreten) kann. Dass sich solche Organisationsgebilde, die auf künftige, noch „werdende“ Zwecke hinauslaufen, mit verselbstständigten Abläufen, eigendynamisch widerstrebender Aktivität und provisorischer Herstellung von Doppelstrukturen zu befassen suchen, liegt auf der Hand. Letztlich kommt man ja mit Meldungen über die routiniert gefürchteten „Diktate aus Brüssel“ über die Schwelle der Aufmerksamkeit des relevanten Publikums.

Diese Perspektive dürfte die Provokation beinhalten, dass die Ausbildung einer politischen Meta-Organisation vor allem dann Stabilität unter Beweis stellt, wenn sie sich nicht an staatsträchtigen „Mega-Meta“-Lösungen, sondern in möglichst ausgetüfteltem Detailwerk (wozu das inzwischen geschaffene, nach Juristenmeinung hochkomplexe EU-Recht hinlänglich Gelegenheiten bieten dürfte) versucht. Der öffentliche Ärger, der aus alledem herrührt, ist nicht Ausdruck von Dysfunktionalität, sondern Beleg, dass dieses Gebilde so funktioniert, wie es gerade funktionieren kann. Man muss daher eigentlich dahin kommen, die Organisation der EU nicht primär nach Qualitäten ihrer Tätigkeit zu diskutieren, sondern anzusehen, welche Aufgaben wahrscheinlicher sind als andere und inwiefern Tätigwerden (für oder gegen was auch immer) an sich schon Eigenwert – allem daraus resultierenden Ungemach zum Trotz – besitzt. Dahinter offenbart sich der Konflikt von Staatlichkeit und Organisation: Es soll einesteils Staatlichkeit „organisiert“ werden, aber andernteils nur in den Grenzen einer nicht-staatlich fixierten Organisation, obschon doch gerade die Selbstbeschreibung der Organisation konsequent darauf hinausläuft, sich selbst, den Betrieb, gegenüber Staatlichkeit dezent zu halten. Die Frage ist dann, wie groß die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung werden kann, wenn man fürs (Wähler-)Publikum noch als das erscheinen will, was man zu verkörpern (zu organisieren oder genau umgekehrt: zu entorganisieren) sucht.

Reform welcher Form?

Eine jetzt wieder neu befeuerte Reformdiskussion um „die“ Veränderung „der“ EU scheint schon aus Gründen der gewissermaßen politischen Impulskontrolle die erwartbar alternativlose Reaktion nach dem Referendum zu sein. Die Tücken des Reformeifers sind – mit Bezug auf Arbeiten des Uppsala Organisationstheoretikers Nils Brunsson – absehbar. Gerade im Bemühen um „neue Wege“, „Zäsuren“ und „deutliche Signale“ wird eine Dynamik erzeugt, mit der man die besonderen Voraussetzungen, Bindungen und Steuerungsformen und deren Folgen innerhalb der EU weiter ignoriert. Das mag abstrakt erscheinen, doch wird vorausgesetzt, dass gerade konsensuelle Stabilität zum Erfolg und Überleben von Meta-Organiationen besonderen Beitrag leistet, dann wird sich die Frage aufdrängen, wie sehr Reformdruck und Reformallianzen unter dem Eindruck zunehmend disparater Interessenlagen und deren Durchsetzung jene Wirkungen entfalten können, die mit ihnen erwartet werden.

Daneben lässt sich sagen, dass ein Reformprozess für die EU-Organisation ohnehin problematisch ist, da er ja zu neuen Formalstrukturen motiviert, die zulasten des spezifischen Gebildes Meta-Organisation gehen, weil diese womöglich gar nicht als solche verstanden wird und sich Reformmaßnahmen auf eine weitere Ausprägung von staatlichem Gebilde richten – und damit die Grenzen eines zweckdiffusen Zweckverbandes übersteigen. Die Unklarheit all dessen bietet Vorzüge. Kontroverser: Die unterstellte „Wertegemeinschaft“ funktioniert ja gerade deshalb in bester Weise erfolgreich erfolgsschwach, da man es sich vielmals erlauben kann, nicht über Imagination hinauszugehen und nicht zu konkret in eigenen Angelegenheiten werden zu müssen. Die widersprüchliche, interessendifferente, sozusagen „zweckinterpretative“ Gestalt droht ausgerechnet im Bemühen um Stabilisierung der Organisation limitiert und rechtfertigungsbedürftig zu werden.

Dass daraus neue Stabilität für die Organisation gewonnen werden kann, ist schwer zu sehen, wenn man sich der symbolischen Relevanz von Organisationsreformen vergewissert, deren Kraft schnell an ihre Grenzen kommt und nichts anderes erforderlich macht als – natürlich – neue Reformen in Gang zu setzen. Eben das führt in Lagen, in denen Organisationen nicht mit und nicht ohne Reformversprechen auskommen (deren Folgen nicht kommen können, wie sie erwartet werden, doch dafür „unterwegs“ einfach wieder vergessen, verdrängt oder umintendiert werden), weil Reformen permanent variable Ausweichimpulse initiieren. Ohnehin intensiv irritierte Organisationen wie die EU geraten genau dadurch in rekursive „Verstrickungen“, weil alles immer gleichermaßen zu früh und zu spät geschieht und Argwohn und Opportunismus der Beteiligten mit wechselnden Mehrheiten forciert werden.

Wiederum mit Brunsson gesprochen, liegt hinsichtlich Fällen wie jenem der EU „die Schwierigkeit nicht darin, Großorganisationen zu Reformen zu überreden, sondern gerade darin, diese davon abzubringen“. Das eigentlich Riskante besteht dann in dem Umstand, dass im Aufstauen und Überbieten der Reform-Reformen Erzählungen mit Garantien verwechselt werden, die quasi-evident eine „eindeutige Richtung zum Besseren“ suggerieren, wie schon vor Jahrzehnten Niklas Luhmann für politische bzw. Verwaltungsorganisationen feststellte. Auch für die Reformversprechen (in) der Organisation (der) EU wird man hinsichtlich aller Weissagungen und Deutungen im Ungefähren gewiss nicht viel Neues über (bestehende) Stabilität und Grenzen dieser Organisation – um es noch einmal zu positionieren: höchst besonderer Art – erwarten dürfen, dafür aber erahnen, dass Besserung durch Reformen gerade deshalb so beschworen wird, „weil dafür die Beweise fehlen“, positioniert mit ironischer Note Luhmann.

Eine Entscheidung darüber, was die EU-Organisation dereinst sein kann oder nicht, ist letztlich nur gegen sie selbst oder ihre Mitgliedsstaaten und sodann gegen Souveränität und Nationalität zu treffen. Dass beide Szenarien („Vereinigte“-Staaten-Lösung vs. Nationalsouveränität) gerade nicht in Mixtur zusammengehen und im einen wie im anderen Mischungsverhältnis Probleme über Probleme erzeugen, scheint wenig Bereitschaft zur Einsicht zu finden. Doch natürich sind Funktionen von Organisation das eine und Fiktionen (und ihre Unverwüstlichkeit) von Organisation das andere; ein guter Grund also für die nächsten Reformen – und deren Reformen. Das elementare Problem bleibt bei alledem, dass zwar viel über Politik durch Organisation gesprochen, aber nur wenig über Politik in Organisation gesagt wird.

Der Text geht zurück auf einen Beitrag im Rahmen des Kolloquiums Organisationsforschung an der Universität Bielefeld am 1. Juli 2016.

Literatur: Göran Ahrne/Nils Brunsson (2008): Meta-organizations. Cheltenham; Nils Brunsson (2005): Reform als Routine, in: Corsi/Esposito (Hrsg.): Reform und Innovation in einer unstabilen Gesellschaft. Stuttgart; Niklas Luhmann (1971): Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung. Opladen; ders. (2002): Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt/M.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marcel Schütz

forscht in Organisationen und experimentiert blogweise mit nicht uninteressanten Angelegenheiten mittlerer Reich- und Tragweite.

Marcel Schütz

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