Metropole am Abgrund der Moderne

TV-Serie Wenige Jahre bevor die Nazis die Macht übernehmen, ist Berlin eine pulsierende Großstadt. »Babylon Berlin« lässt uns in diese faszinierende Zeit abtauchen

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Liv Lisa Fries als Charlotte im "Moka Efti"
Liv Lisa Fries als Charlotte im "Moka Efti"

Foto: ARD Degeto/X-Filme/Beta Film/Sky Deutschland/Frédéric Batier

Die liberale Demokratie steckt in einer Krise: Die selbsternannten Volksparteien verlieren zunehmend Mitglieder und Anhängerinnen, eine rechte Partei wird immer stärker und die Zusammensetzung des Bundestags unübersichtlicher. Angesichts dessen warnte der Politologe Albrecht von Lucke bereits nach der Bundestagswahl vor »Weimarer Verhältnissen«. Der Bayerische Rundfunk und die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« widmeten damals eine ganze Serie der Frage, inwieweit die jüngsten Entwicklungen an die gesellschaftlichen Zustände der 1920er Jahre erinnern. Und selbst Angela Merkel soll in den Koalitionsverhandlungen mit FDP und Grünen davor gewarnt haben, die Fehler jener Zeit zu wiederholen. Das zeigt: Pünktlich zum hundertsten Jahrestag ihrer Gründung erfährt die Weimarer Republik eine bemerkenswerte Renaissance.

Public-private-Partnership der besonderen Art

Im kulturellen Bereich spiegelt sich das neue Interesse an der Zeit zwischen Ersten Weltkrieg und nationalsozialistischer Diktatur vor allem in einem Projekt wider: »Babylon Berlin«, der teuersten Serienproduktion, die jemals für das deutsche Fernsehen gedreht wurde. Es handelt sich um ein Public-private-Partnership der besonderen Art: Produziert wurde die Serie gemeinsam von ARD und Sky. Damit haben sich erstmals ein öffentlich-rechtlicher und ein privater Fernsehsender zusammengetan, um die 38 Millionen Euro aufzubringen, die die Dreharbeiten verschlungen haben. Gleich drei Regisseure, darunter Tom Tykwer, nahmen sich des Mammutprojekts an. Allein schon die Nebenrollen sind mit einer ganzen Riege deutscher Schauspielstars besetzt: Matthias Brandt, Benno Führmann, Hannah Herzsprung, Lars Eidiger und Fritzi Haberlandt.

Der Aufwand hat sich aus Sicht der Produzenten gelohnt. »Babylon Berlin« bescherte dem Bezahlsender Sky Rekordeinschaltquoten. Abgesehen von der siebten Staffel von »Game of Thrones« haben sich dort noch nie so viele Zuschauerinnen und Zuschauer eine Serie angesehen. »Babylon Berlin« ist in fast alle europäischen Länder und nach Nordamerika verkauft und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, darunter vierzehn Grimme- und vier Deutsche Fernsehpreise. Bevor nun ab Ende September die erste Folge kostenfrei in der ARD zu sehen ist, kündigte Regisseur Tykwer bereits eine weitere Staffel an.

Sozial gespaltene Stadt

»Babylon Berlin« spielt im Frühjahr 1929, wenige Monate vor Beginn der Weltwirtschaftskrise. Zu dieser Zeit leben mehr Menschen in der deutschen Hauptstadt als heute. Mit knapp vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zählt Berlin zu den drei größten Metropolen der Welt. Nur New York und London sind bevölkerungsreicher, lediglich Los Angeles umfasst ein flächenmäßig größeres Stadtgebiet.

Ähnlich wie heute ist Berlin auch damals eine sozial gespaltene Stadt: In den grünen Vororten residieren die Banker und Industriellen in ihren mondänen Villen, während das städtische Proletariat in den großen Mietskasernen der innerstädtischen Arbeiterbezirke zusammengepfercht ist. Oftmals leben mehrere Generationen zusammen in den dunklen, kleinen Wohnungen. Nicht selten werden tagsüber die Betten an sogenannte Schlafgänger vermietet, die in Nachtschicht arbeiten und über keine eigene Unterkunft verfügen. Krankheiten breiten sich schnell aus, Invaliden des Ersten Weltkriegs bevölkern die Straßen.

Aber Berlin ist am Ende der »Goldenen Zwanziger« auch ein Ort des gesellschaftlichen Aufbruchs. Nach den bleiernen Jahren des Kaiserreichs wird es nun zur Stadt der Sünde, die gesellschaftlichen Konventionen des alten Preußens brechen auf. Die Menschen experimentieren mit Drogen und Alkohol. In den Nachtclubs können Männer und Frauen jeder noch so ausgefallenen sexuellen Orientierung nachgehen. Es ist das Klima, in dem die Nackttänzerin Anita Berber Karriere machen kann, in dem Bertolt Brechts »Dreigroschenoper« uraufgeführt wird und in dem der Maler Otto Dix sein verstörendes »Großstadt-Triptychon« schaffen kann.

Die gesellschaftliche Stimmung eingefangen

Regisseur Tykwer erklärte kürzlich in einen Interview, »Babylon Berlin« solle sich »so anfühlen, als wird man in eine Zeitmaschine geschmissen und marschiert jetzt einfach durch die Stadt«. Und tatsächlich ist es den Machern auf beeindruckende Weise gelungen, die gesellschaftliche Stimmung im Berlin der späten Zwanzigerjahre einzufangen. Lange Zeit scheint die eigentliche Handlung sogar zurückzutreten, um nur einem Zweck zu dienen: Raum zu schaffen für das Porträt einer Metropole am Abgrund der Moderne.

Da ist zum Beispiel das »Moka Efti«, ein Café- und Tanzhaus, das tatsächlich bis zur Wirtschaftskrise an der Ecke Leipziger-/Friedrichsstraße existierte. In »Babylon Berlin« ersteht es als Varieté mit angeschlossenem Bordell wieder auf. Oben tanzt die Jugend, während im Keller Prostituierte von ihren Freiern aufgesucht und in den Hinterzimmern zwielichtige Geschäfte gemacht werden. Auf der Bühne steht die Russin Nikoros (Severija Janušauskaitė), eine androgyne Gestalt, als Mann verkleidet. Sie performt den eigens für die Serie komponierten Hit »Zu Asche, zu Staub« – und die Menge davor tanzt, als ob es kein Morgen gäbe. Nicht von ungefähr hat die »Süddeutsche Zeitung« das »Moka Efti« als »das Berghain von Tom Tykwers Serien-Berlin« bezeichnet.

Hier geht auch Charlotte Ritter ein und aus. Die weibliche Hauptfigur (ganz zauberhaft dargestellt von Liv Lisa Fries) repräsentiert die ganze Zerrissenheit von jungen Frauen aus der damaligen Arbeiterklasse. Äußerlich entspricht sie voll und ganz der »Neuen Frau« der Weimarer Republik: Sie trägt kurze Haare und kleidet sich modern. Schlaf kennt sie kaum, nachts geht sie lieber feiern und verbringt ihre Wochenenden im beliebten Strandbad Wannsee. Doch letztendlich sind das alles nur verzweifelte Versuche, den ärmlichen Verhältnissen zu entfliehen, aus denen sie stammt. Die enge Wohnung im Proletarierviertel Moabit teilt sie sich mit der schwerkranken Mutter, ihren Schwestern und dem arbeitslosen Schwager. Charlotte träumt von einer Karriere bei der Polizei, wo sie gelegentlich als Aushilfskraft arbeitet. Doch von den männlichen Beamten wird sie selten ernst genommen. Und nicht einmal das Einkommen reicht. Deshalb muss sie zusätzlich immer wieder als Prostituierte im »Moka Efti« arbeiten.

Bei der Polizei lernt sie Kommissar Gereon Rath (Volker Bruch) kennen. Der ist aus Köln mit dem Auftrag in die Hauptstadt gekommen, kompromittierende Fotos zu vernichten. Sie sollen eine Person aus den höchsten Kreisen der Rheinmetropole zeigen, dem direkten Umfeld von Bürgermeister Konrad Adenauer. Auch Rath wird als zutiefst ambivalente Figur dargestellt: Beruflich läuft es gut bei ihm. Er ist er ein ebenso aufrichtiger wie ambitionierter Polizist. Doch privat liegt einiges im Argen: Seit mehr als einem Jahrzehnt hat er ein heimliches Verhältnis mit der Frau seines Bruders, der seit dem Ersten Weltkrieg verschollen ist. Rath selbst nahm auch als Frontsoldat an dem Krieg teil und kehrte – wie etliche seiner Zeitgenossen – schwer traumatisiert zurück. Er leidet unter wiederkehrenden Alpträumen und regelmäßigen Anfällen, die er mit fragwürdigen Substanzen zu behandelt versucht. Tatsächlich litten Tausende Soldaten nach Kriegsende an dieser posttraumatischen Belastungsstörung. »Kriegszitterer« wurden sie genannt. Später brachten die Nazis im Rahmen der Euthanasiemorde zwischen 4000 und 5000 dieser psychisch kranken Veteranen des Ersten Weltkriegs um.

Das politische Berlin

Die Macher von »Babylon Berlin« sind nicht nur recht exakt, wenn sie die gesellschaftlichen Verhältnisse am Ende der »Goldenen Zwanziger« darstellen. Auch die politische Situation ist gut getroffen. So kommt Rath beispielsweise im Lauf der Zeit einem geplanten Staatsstreich durch die »Schwarze Reichswehr« auf die Schliche. Hierbei handelte es sich um illegale paramilitärische Gruppierungen, die tatsächlich in den 1920er Jahren versucht hatten, die Weimarer Republik zu beseitigen. Geleitet wurden sie unter anderem von ehemaligen Angehörigen der Freikorps – also jenen rechtsgerichteten und antisemitischen Kräften, die in der Revolutionszeit 1918/19 brutal gegen streikende und revoltierende Arbeiter vorgegangen waren. Insgeheim unterstützten auch republikfeindliche Generäle der regulären Armee die Schwarze Reichswehr. Sie erhofften sich, dadurch die Begrenzung der Truppenstärke auf 100.000 Mann umgehen zu können, die im Versailler Vertrag festgeschrieben war.

Eindrücklich dargestellt ist auch der Berliner »Blutmai« von 1929. Am 1. Mai jenes Jahres hatte die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) eine nicht genehmigte Demonstration durchgeführt, welche die Polizei mit übermäßiger Härte auflöste. Mehr als dreißig Menschen wurden getötet, fast zweihundert verletzt. Der Befehl war vom sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Karl Zörgiebel gekommen, weshalb die Ereignisse dazu beitrugen, die gegenseitigen Ressentiments zwischen KPD- und SPD-Mitgliedern zu vertiefen. Zum Skandal wurden sie zudem, weil keine amtliche Untersuchung der Todesfälle stattfand und auch kein Polizist angeklagt wurde. In »Babylon Berlin« ist das ein bisschen anders. In der Serie ermittelt zwar die Staatsanwaltschaft, doch der Kern der Geschichte bleibt erhalten: Der Korpsgeist unter den Polizisten ist so groß, dass sich die Kollegen gegenseitig decken und dementsprechend auch hier niemand zur Verantwortung für den Tod der unbeteiligten Zivilisten gezogen wird.

Schon diese beiden Beispiele deuten an, dass »Babylon Berlin« das ganze breitgefächerte politische Spektrum der Weimarer Republik porträtiert. Hier gibt es Monarchisten und Kommunisten, Liberale und Konservative, Sozialdemokraten und Nazis. Sie alle sind recht gut dargestellt und mehrschichtig charakterisiert. Nicht völlig unrealistisch, aber doch unglücklich ist die Tatsache, dass der einzige antisemitische Spruch der Serie von einem Kommunisten und nicht von einem Nazi kommt (allerdings muss man den Machern hier zugutehalten, dass sie diesen Umstand später gut auflösen).

Bei einer anderen politischen Strömung liegen Tykwer und Kollegen derweil komplett daneben. In ihrer Darstellung der Trotzkisten, die in den ersten Folgen der Staffel eine wichtige Rolle spielen, reproduzieren sie hauptsächlich Klischees. In der Realität waren die deutschen Anhänger Leo Trotzkis politische Aktivistinnen und Aktivisten, die sich für eine Reform der immer stärker von Moskau abhängigen KPD einsetzten. Sie verteilten Flugblätter, traten bei politischen Versammlungen auf und publizierten eine eigene Zeitung. Doch in »Babylon Berlin« erscheinen sie wie eine Gangstergruppe aus den entsprechenden US-amerikanischen Filmen über die 1920er Jahre. Sie schmuggeln Gold und legen Waffenlager an. Ohnehin gab es 1929, also zu dem Zeitpunkt, zu dem die erste Staffel der Serie spielt, noch gar keine »trotzkistische« Organisation in Deutschland. Diese entstand erst ein Jahr später. Ebenso wenig mit der Realität haben jene in der Serie gezeigten Pamphlete zu tun, wo die Trotzkisten zur Gründung einer »Vierten Internationale« aufrufen. Letztere gab es zwar tatsächlich und sie wurde auch von den Anhängerinnen und Anhängern Trotzkis gegründet – jedoch erst im September 1938, also fast zehn Jahre, nachdem »Babylon Berlin« spielt.

Glanz und Elend einer Millionenmetropole

Leider finden sich immer wieder kleinere historische Ungenauigkeiten in der Serie. So belebt etwa eine Figur eine andere per Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung wieder – und wendet damit eine Technik an, die damals allenfalls in Fachkreisen bekannt war. Auch der Showdown auf einem fahrenden Zug erinnert eher an »Indiana Jones« als an eine exakte Rekonstruktion der Polizeiarbeit der 1920erJahre.

»Babylon Berlin« ist selbstverständlich eine fiktionale Serie und kein Dokumentarfilm. Trotzdem sind solche leicht vermeidbaren Ungenauigkeiten schade. Denn sie kratzen an dem hohen Maß an Authentizität, das die Macher zuvor mühsam aufgebaut haben. Doch letztendlich ist das Kritik auf hohem Niveau: Insgesamt liefert »Babylon Berlin« einen wunderbaren Einblick in eine untergegangene Zeit. Die Serie zeichnet das Bild einer zutiefst zerrissenen Gesellschaft, erzählt von korrupten Polizisten und adligen Republikgegnern, von kämpferischen Kommunisten und staatstragenden Sozialdemokraten, von proletarischer Verzweiflung und bürgerlicher Selbstgefälligkeit – kurz: vom Glanz und Elend einer Millionenmetropole in einer der bewegtesten Epochen des zwanzigsten Jahrhunderts. Vor allem aber legt »Babylon Berlin« längst vergessene Elemente eines kulturellen Aufbruchs frei, der mit Hitlers Machtübernahme ein jähes Ende fand. Es ist eine Freude, sie in dieser zwölfstündigen Bilderflut wiederzuentdecken.

Babylon Berlin, Deutschland 2017, Regie: Tom Tykwer, Achim von Borries, Hendrik Handloegten, 2 Staffeln mit insgesamt 16 Folgen á 45 Minuten, ab 30. September in der ARD

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marcel Bois

Historiker, Autor von "Kommunisten gegen Hitler und Stalin" (Klartext 2014).

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