Der Politiker hinter dem Mythos

Kommunismus Von Stalin protegiert, von Hitler ermordet: So klar Ernst Thälmanns Rolle als Opfer des Faschismus ist, so ambivalent ist die als Vorsitzender der KPD. Eine Spurensuche

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Thälmann bei einer Kundgebung der KPD 1925
Thälmann bei einer Kundgebung der KPD 1925

Bild: FPG/Getty Images

März 1954: Die gesamte Parteiprominenz ist erschienen. Weder Ministerpräsident Otto Grotewohl noch Präsident Wilhelm Pieck oder SED-Chef Walter Ulbricht wollen sich die Premiere entgehen lassen. Auf großer Leinwand und in Farbe gibt es »Ernst Thälmann, Sohn seiner Klasse« im Berliner Friedrichstadt-Palast zu bestaunen.

Für damalige Verhältnisse handelt es sich um eine extrem aufwendige Produktion, die über sechs Millionen DDR-Mark kostete. Anderthalb Jahre später erscheint dann der zweite Teil: »Ernst Thälmann, Führer seiner Klasse«. Der ist ebenso aufwendig inszeniert: 34 Hauptdarsteller, hunderte Nebendarsteller und mehrere tausend Komparsen sind an insgesamt 143 Drehtagen beschäftigt.

Die Filme über den früheren Vorsitzenden der Kommunistischen Partei (KPD) werden zu Kassenschlager in der DDR. Kaum ein Kind, das sie nicht später in der Schule vorgeführt bekommt. Im sowjetischen Einflussbereich werden sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Zwischen Mythos und Verdammung

Aber nicht nur das: Die Filme haben auch einen wichtigen Anteil daran, dass sich in der DDR ein umfangreicher Mythos um den ehemaligen KPD-Vorsitzenden entwickelt. Thälmann, den die Nazis August 1944 im KZ Buchenwald ermordet haben, wird regelrecht zum Märtyrer stilisiert und als nahezu unfehlbarer Parteiführer dargestellt. Das illustriert ein Blick in die verschiedenen DDR-Bücher über seinen Umgang mit Parteigenossen: Thälmann kritisiert politische Kontrahenten nicht – nein: er entlarvt deren falschen Positionen. Thälmann unterbreitet den Genossinnen und Genossen keine politischen Vorschläge – vielmehr weist er ihnen den »richtigen Weg«.

Es entsteht ein ganzes Geflecht von Erinnerungsorten, Gedenktagen und sonstigen Zeremonien. In der DDR gibt es mindestens zehn Thälmann-Gedenkstätten, etwa 15 Denkmäler, über achtzig Gedenksteine sowie zahlreichen Büsten und Tafeln. Dazu kommen Filme, Bildbände, Wanderausstellungen und Schulungsmaterialien. Dutzende Geschichtsschreiber zimmern an der Thälmann-Legende, deren Ziel es ist, die Herrschaft der SED historisch zu untermauern. Dementsprechend wird ein Bild konstruiert, das in keinem Widerspruch zur offiziellen Linie stehen darf.

Umkehrt ist die Haltung im Westen. In den Zeiten des Kalten Krieges werden Kommunisten kriminalisiert, selbst wenn sie Überlebende des Naziterrors sind. Ihre Partei, die KPD, wird 1956 verboten und Thälmann kommt hier – außer von den entsprechenden linken Gruppierungen – keine Ehre zuteil. Im Gegenteil: Während seine Nazimörder Jahrzehnte lang unbehelligt in der Bundesrepublik leben können, wird er als »Provinzpolitiker mit demagogischem Talent« oder als »Gegner der Demokratie« dargestellt.

Doch wer ist der Politiker Ernst Thälmann wirklich – jenseits aller Mythen?

Der aufrechte Thälmann

Zunächst einmal handelt es sich bei dem am 16. April 1886 geborenen Hamburger um einen aufrechten Kritiker von Ausbeutung und sozialer Ungleichheit. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, seine Eltern haben einen Kolonialwarenladen in der Hansestadt. Der Vater sitzt zeitweilig wegen Hehlerei im Gefängnis, weswegen Ernst schon früh im elterlichen Betrieb mithelfen muss.

Im Alter von 16 Jahren verlässt er sein Elternhaus, wohnt zeitweilig in einem Obdachlosenasyl und später in einer Kellerwohnung. Er schlägt sich als Ungelernter mit Gelegenheitsjobs im Hafen durch, arbeitet als Heizer auf einem Frachter und ist kurze Zeit als Landarbeiter in den USA tätig. Die Lage der arbeitenden Klasse erlebt er also am eigenen Leibe. Er sieht, dass es im Kaiserreich weder soziale Gerechtigkeit noch Demokratie gibt. Um das zu ändern, tritt er im Jahr 1903 – im Alter von 17 Jahren – der SPD bei.

Bald wird Ernst Thälmann auch zu einem Gegner von Krieg und Imperialismus. Im August 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, kritisiert er die Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den kaiserlichen Kriegskrediten. Gemeinsam mit tausenden anderen verlässt er seine Partei aus Protest gegen deren Kriegskurs und schließt sich Ende 1918 der neugegründeten USPD an, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Auch als Soldat macht er keinen Hehl aus seiner Ablehnung des Krieges. Obwohl zweimal verwundet, wird er nicht befördert, da er den Vorgesetzten wohl zu sehr revoltiert. Einmal kommt er sogar vor ein Kriegsgericht, wird aber freigesprochen. Im Oktober 1918 desertiert er schließlich gemeinsam mit vier befreundeten Soldaten, indem er aus dem Heimaturlaub nicht mehr an die Front zurückkehrt.

Unter den Arbeitern seiner Heimatstadt genießt Thälmann derweil große Popularität. Hierbei spielt sicher auch der Habitus als einfacher Arbeiter eine Rolle, den er bis zum Schluss beibehält. Teddy, wie er liebevoll von seinen Anhängern genannt wird, steigt schnell in der Hamburger Arbeiterschaft auf. Bereits 1904 tritt er dem Zentralverband der Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter Deutschlands (Transportarbeitergewerkschaft) bei, wo er bald Vorsitzender der Abteilung Fuhrleutewird. Im November 1918 beteiligt er sich an der Revolution in Hamburg. Ab März 1919 wird er Vorsitzender der Hamburger USPD und zieht für die Partei in die Bürgerschaft ein. Als sich der linke Flügel der USPD schließlich im März 1920 der Kommunistischen Partei Deutschlands anschließt, wird Thälmann Leiter der Hamburger KPD.

Karriere in der KPD

Schon bald macht Thälmann auch Karriere in der Gesamtpartei. Im Jahr 1924 übernimmt der linke Parteiflügel um Ruth Fischer, Arkadij Maslow und Werner Scholem die Führung der KPD. Diesem Flügel gehört auch Thälmann an, der Mitglied des Polbüros wird.

Die neue Führung besteht zu großen Teilen aus Intellektuellen, weshalb Thälmann gewissermaßen eines der »proletarischen Aushängeschilder« des Zentralkomitees (ZK) ist. In der Folge wächst sein Bekanntheitsgrad innerhalb der Partei rasant, vor allem weil er im Frühjahr 1925 der Kandidat der Kommunisten bei der Reichspräsidentenwahl ist. Außerdem übernimmt er den Vorsitz des Rot-Frontkämpfer-Bundes, einer außerparlamentarischen Vorfrontorganisation der KPD. Als im August 1925 schließlich die Ruth-Fischer-Führung abgesetzt wird, wird Ernst Thälmann KPD-Vorsitzender und bleibt es bis zum Beginn der Nazidikatur.

In Thälmanns Zeit als Parteivorsitzender fallen einige politische Erfolge der KPD: zum Beispiel die Reichstagswahl 1932, wo die Kommunisten mit 16,9 Prozent der Stimmen drittstärkste Kraft werden. Oder auch der Volksentscheid zur Fürstenenteignung im Jahr 1926, den die KPD anstößt und gemeinsam mit Sozialdemokraten und Gewerkschaften durchführt. Diese Einheitsfrontkampagne scheitert zwar an formalen Hürden, gilt aber als riesiger Mobilisierungserfolg. Den linken Organisationen gelingt es, 14,4 Millionen Menschen für die entschädigungslose Enteignung des deutschen Adels zu mobilisieren. Das sind 4,8 Millionen Stimmen mehr, als SPD und KPD gemeinsam bei der Reichspräsidentenwahl im Jahr zuvor er­halten haben. Überhaupt gibt es keine einzige Wahl in der Geschichte der Weimarer Republik, wo die politische Linke zusammen so viele Wählerinnen und Wähler mobilisieren kann.

Stalinisierung der Partei

Aber diese Erfolge sind nur die eine Seite. Zum Gesamtbild gehört auch, dass Ernst Thälmann als KPD-Vorsitzender hauptverantwortlich ist für eine fundamentale Verwandlung seiner Partei.

Als die Nazis 1933 an die Macht kommen, ist die KPD nur noch eine Karikatur ihrer selbst. In den frühen 1920er Jahren – also in den ersten Jahren nach ihrer Gründung – handelt es sich noch um eine lebendige und diskussionsfreudige Partei. Breite innerparteiliche Demokratie ist eine Selbstverständlichkeit. Die kommunistische Presse steht unterschiedlichen, oft konträren Positionen offen, die Parteitage dieser Jahre sind gekennzeichnet von freien Diskussionen und solidarischen Auseinandersetzungen. Oppositionelle haben bei Versammlungen jederzeit die Möglichkeit, ihre Positionen in langen Koreferaten darzulegen.

Doch am Ende der Ära Thälmann ist die KPD eine weitgehend undemokratische und bürokratische Führerpartei. Diskussionen werden meist unterbunden, Konflikte nicht politisch, sondern organisatorisch, also durch Ausschlüsse und Repressalien »gelöst«. Kritiker belegt das Thälmann-ZK mit Redeverboten oder entfernt sie kurzerhand aus der Partei. Damit einher geht eine ideologische Erstarrung: Die politischen Positionen der KPD werden immer dogmatischer – oder wie es die Historikerin Sigrid Koch-Baumgarten ausdrückt: Die Sowjetunion wird »zum heiligen Land stilisiert, Marx, Engels, Lenin (…) wie Religionsstifter verehrt«.

Stalinismus in der Sowjetunion

Diesen Prozess bezeichnen Historiker als »Stalinisierung«. Seinen Ursprung hat er außerhalb Deutschlands, nämlich in der Sowjetunion. Dort setzt sich Mitte der 1920er Jahre Generalsekretär Stalin im Fraktionskampf innerhalb der Kommunistischen Partei durch. In der Folge führt er eine Politik durch, die allem widerspricht, wofür seine Partei in der Vergangenheit eingetreten ist. Stalin entmachtet die noch verbliebenen Arbeiterräte und legt die Leitung der Betriebe in die Hand von Managern. Auch Akkordarbeit wird eingeführt, die Freizügigkeit der Arbeiter massiv eingeschränkt und Streiks unter der Androhung der Todesstrafe verboten. Zudem nehmen Stalin und seine Genossen viele gesellschaftspolitische Errungenschaften aus der Revolution zurück, etwa verschiedene Frauenrechte: Scheidungen werden nun wieder erschwert, Abtreibungen verboten und stattdessen eine Mutterschaftsmedaille eingeführt. Homosexualität wird wieder unter Strafe gestellt. Und auch der Aufbruch in der Kunst aus den Jahren nach 1917 nimmt ein Ende: Kubismus, Expressionismus und Dadaismus müssen nun dem sozialistischen Realismus weichen.

Um diese Politik durchzusetzen und seine Macht zu sichern, muss Stalin jegliche sozialistische Tradition aus seiner Partei verbannen: Zunächst entfernt er führende Figuren, die nicht auf Linie sind, von ihren Posten. Später wird die alte Garde der Bolschewiki in Lager gesteckt oder ins Exil getrieben und den 1930er Jahren schließlich physisch vernichtet.

Ein Fakt illustriert diese Entwicklung recht deutlich: Von den Mitgliedern des Politbüros des Jahres 1923 sterben nur drei eines natürlichen Todes: Lenin, Stalin und dessen enger Vertrauter Molotov. Alle anderen werden hingerichtet, ermordet oder sie begehen aus Verzweiflung Selbstmord. Unzählige Kommunisten der ersten Stunde – wie Sinowjew, Kamenew, Radek und Bucharin – werden in den großen Schauprozessen von 1936 bis 1938 angeklagt und – nachdem sie unter Folter absurde Geständnisse abgeleget haben – zum Tode verurteilt. Andere, wie Trotzki, werden von sowjetischen Agenten um den halben Globus gejagt und ermordet. Insgesamt sterben während der »großen Säuberungen« mindestens eine halbe Million sowjetischer Kommunisten. Zu Recht hat der Historiker Hermann Weber, die Stalinsche Säuberung als »größte Kommunistenverfolgung aller Zeiten« bezeichnet.

Anderseits muss Stalin auch auf ideologischer Ebene die kommunistische Tradition ausmerzen. Daher verwandelt er den Marxismus in eine Art Staatsreligion. Die Schriften der marxistischen Theoretiker werden aus ihrem historischen Kontext gerissen und Phrasen daraus als Erklärung für die aktuelle Politik verwendet.

Beispielsweise entwickelt Stalin nun die Theorie des »Sozialismus in einem Land«. Er argumentiert, dass es sehr wohl möglich sei, den russischen Sozialismus im nationalen Rahmen zu verwirklichen. Das widerspricht allen früheren internationalistischen Ansichten der Kommunisten. Aber es entspricht genau dem Interesse der Parteibürokratie, die außenpolitische Stellung der Sowjetunion zu sichern. In konkrete Politik umgemünzt bedeutet das, Bündnisse mit kapitalistischen Staaten einzugehen. Nicht mehr auf der Agenda steht hingegen, die Weltrevolution voranzutreiben, denn mögliche Aufstandsversuche kommunistischer Parteien könnten ja das Verhältnis Moskaus zu den anderen Staaten verschlechtern.

»Säuberung« der KPD

Deshalb reicht es nicht aus, die KPdSU umzuwandeln, sondern auch die kommunistischen Parteien außerhalb der Sowjetunion müssen auf Linie gebracht und zu Instrumenten der sowjetischen Außenpolitik gemacht werden. Da die KPD die wichtigste Kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion ist, vollzieht sich die Wandlung hier am schnellsten.

Ernst Thälmann fällt dabei eine besondere Rolle zu: Er wird zum langen Arm Stalins. Zu den unrühmlichen Kapiteln in seiner Biografie gehört es, dass er verschiedenen oppositionellen Strömungen aus der KPD drängt – erst seine ehemaligen Verbündeten auf dem linken Parteiflügel um Ruth Fischer, dann die »Rechten« um Heinrich Brandler und schließlich die »Versöhnler«. Zehntausende Kommunisten verlassen im Lauf der 1920er Jahre die Partei, etliche von ihnen werden ausgeschlossen, oft unter absurden Anschuldigungen. Von den 350.000 bis 400.000 Mitgliedern, die die KPD im Jahr 1920 hatte, sind sieben Jahre später (1927) nicht einmal mehr 40.000 in der Partei, obwohl die KPD trotzdem noch knapp 130.000 Mitglieder hat. Es findet also ein regelrechter Austausch der Mitgliederschaft statt.

Auch auf diese Weise wird die alte sozialistische Tradition ausgerottet: Große Teile der alten Garde aus dem Spartakusbund oder der Vorkriegssozialdemokratie müssen die Partei verlassen. Stattdessen steht nun eine politisch unerfahrene Mitgliederschaft einer scheinbar übermächtigen Führung gegenüber.

Der Stalinisierungsprozess verläuft keineswegs gradlinig und es gibt auch viel Widerstand in der Partei. Doch letztlich sind Stalin und Thälmann erfolgreich: Ende der 1920er Jahre ist die KPD schließlich eine entdemokratisierte, vom Apparat bürokratisch beherrschte Partei.

Sozialfaschismus

Dieser neue Zustand bedeutet, dass die KPD nun tatsächlich jede Wendung mitmacht, die Moskau vorgibt. Das vielleicht fatalste Beispiel dafür ist die »Sozialfaschismusthese«.

Als Hitlers NSDAP ab Ende der 1920er Jahre immer stärker wird, ist die KPD-Führung überhaupt nicht in der Lage, dieses Phänomen angemessen zu analysieren. Geradezu inflationär verwendet sie den Begriff »Faschismus«. Ihrer Meinung nach ist er in Gestalt der von Reichspräsident Hindenburg eingesetzten Präsidialkabinette bereits seit 1930 an der Macht. Überhaupt bezeichnet die Leitung der KPD alle anderen parlamentarischen Parteien als »faschistisch«: »Kampf gegen den Faschismus heißt Kampf gegen die SPD, genauso wie es Kampf gegen Hitler und die Brüningparteien heißt.«

Die »Sozialfaschismus­these« übernimmt die KPD aus Moskau. Demnach sind Faschismus und Sozialdemokaratie »keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder«, wie Stalin einst schreibt. In den späten 1920er Jahren greift die Kommunistische Internationale diese These wieder auf. In der tiefen Krise der Weltwirtschaft sei die Sozialdemokratie der »Hauptfeind«, da sie die Arbeiter davon abhalte, gegen den Kapitalismus zu kämpfen.

Dementsprechend lehnt das ZK um Thälmann – das vor wenigen Jahren noch die Fürstenenteignungskampagne mit der Sozialdemokratie durchgeführt hat – einen gemeinsamen Widerstand mit der SPD gegen Hitler ab: »Die Sozialfaschisten wissen, dass es für uns mit ihnen kein gemeinsames Zusammengehen gibt. Mit der Panzerkreuzerpartei, mit den Polizeisozialisten, mit den Wegbereitern des Faschismus kann es für uns nur Kampf bis zur Vernichtung geben.«

Eine fatale Haltung. Dies zeigt sich spätestens nach der Machtübernahme, als sich Sozialdemokraten und Kommunisten Seit an Seit von Hitler KZs wiederfinden.

Abhängigkeit von Stalin

Wie abhängig Thälmann von Stalin ist, wird aber bereits im Jahr 1928 deutlich – während der sogenannten Wittorf-Affäre. John Wittorf, der Fraktionsvorsitzende der KPD in der Hamburgischen Bürgerschaft, hat Gelder unterschlagen, die in der Sowjetunion für streikende deutsche Arbeiter gesammelt wurden. Thälmann, ein Freund und Förderer Wittorfs, weiß über den Vorgang Bescheid, versucht ihn aber zu vertuschen. Die Unterschlagung kommt trotzdem ans Licht, woraufhin das ZK Ende September 1928 Thälmann all seiner Funktionen enthebt.

Doch dann interveniert Moskau. Auf Druck von Stalin hin ändern die meisten Mitglieder der Parteiführung plötzlich ihre Meinung – und rehabilitieren Thälmann. Der Fall festigt die Macht des KPD-Vorsitzenden ungemein. Doch zugleich illustriert er, dass dieser nun vollständig von Stalins Gunst abhängig ist.

Fatal wird diese Abhängigkeit während der Nazizeit. Thälmann wird bereits 1933 verhaftet und sitzt mehr als zehn Jahre im Gefängnis. Die gesamte Zeit hofft er inständig, dass ihm Stalin hilft, freizukommen. Das bezeugen vor allem seine Briefe aus den Jahren 1939-1941, also der Phase des Hitler-Stalin-Paktes, wo es tatsächlich denkbar war, dass Stalin einen Gefangenenaustausch vorschlägt. Doch der sowjetische Staatschef ignoriert Thälmanns Hilferufe und lässt seinen ergebenen Anhänger im Stich, bis dieser schließlich 1944 von den Nazis ermordet wird.

Damit teilt Thälmann das Schicksal tausender Kommunisten seiner Generation. Doch die besondere Tragik seiner Situation ist: Er wird nicht nur von Hitler ermordet – sondern es geschieht gewissermaßen mit Stalins Billigung. Möglicherweise ist dieser zu der Einschätzung gelangt, dass ihm ein toter Thälmann – der sich zum Märtyrer stilisieren lässt – zukünftig nützlicher sein kann als ein Lebendiger.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marcel Bois

Historiker, Autor von "Kommunisten gegen Hitler und Stalin" (Klartext 2014).

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