Volker Rühe hat sich weitgehende Abstinenz verordnet. Nur am Anfang streift der Kandidat kurz den Spendensumpf, in dem er gerade mit zu versinken droht. Ein kurzer Ruf nach "rückhaltloser Aufklärung", das war's. An diesem Abend, der Wahlkampfauftakt der CDU in Kiel steht auf dem Programm, dreht sich bei Rühe alles um Schleswig-Holstein. Um Transrapid und den Bau der Ostseeautobahn A20, um Kriminalität, Bildungspolitik und vor allem um "rot-grünes Versagen im Land". Dazu werden Dias an eine Leinwand geworfen: Rühe beim Boßeln, dem schleswig-holsteinischen Nationalsport, auf einem Fischkutter oder beim Blumenfest. Der 57-jährige gibt ganz den Landespolitiker, der sich von den Turbulenzen im Bund abgekoppelt hat.
Für die unangenehmen Themen ist Rühe beim Wahlkampfauftakt am Kieler Norwegen-Terminal nicht zuständig. Das erledigt, mit fahrigen Gesten und unkonzentrierten Formulierungsversuchen, Wolfgang Schäuble. Verkrampft grinst er in jede Kamera, wiegt sogar beschwingt den Kopf zur Pausenmusik, damit auch der letzte Zuschauer merkt, wie gut gelaunt er in Wirklichkeit ist. Tatenlos muß Rühe zusehen, wie bei der Rede des Parteivorsitzenden die eigene Parteibasis mit Pfiffen und höhnischen Zwischenrufen ihrem Herzen Luft macht. Gerade ist die Schwarzgeld-Beichte des früheren hessischen CDU-Landesvorsitzenden Manfred Kanther über die Sender gegangen. Und Wolfgang Schäuble kämpft vor der Rekordkulisse von über 1.000 Besuchern auf verlorenem Posten.
Rühe betrachtet scheinbar teilnahmslos das Desaster, er wirkt wie gelähmt. Seit Wochen muss er hinnehmen, wie die Umfragepunkte für die CDU munter nach unten purzeln. Sichere zehn Prozent Vorsprung vor Ministerpräsidentin Heide Simonis und ihrer SPD prophezeiten die Demoskopen dem Herausforderer noch im November. Die Wahl schien gewonnen, Rühe sah aus wie der strahlende Sieger. Seit er sich Anfang des vergangenen Jahres entschieden hatte, gegen Simonis anzutreten, hatte der Kandidat alles richtig, die SPD -vor allem auf Bundesebene - alles falsch gemacht.
Schnell hatte Rühe den Schleswig-Holsteinern das Gefühl gegeben, er sei einer von Ihnen, und nur durch eine Laune des Schicksals etwas südlicher, in Hamburg-Harburg, auf die Welt gekommen. Der ehemalige Verteidigungsminister, der ein altes Fischerhaus auf der schleswig-holsteinischen Halbinsel Eiderstedt besitzt und dessen Frau Anne aus dem nördlichsten Bundesland stammt, hatte es alsbald geschafft, "das richtige Maß Nordsee in seinen Blick zu legen" (Die Zeit). Den listigen Vorwurf der Ministerpräsidentin, Rühe sei nur auf der Durchreise von Bonn nach Berlin und an Landespolitik bisher nie sonderlich interessiert gewesen, konterte er verschmitzt: "Es hat noch nie geschadet, wenn einem Höheres zugetraut wird". Ein Seitenhieb auch gegen Simonis, die so gern als Finanzministerin von Kiel nach Berlin gewechselt wäre, aber keinen Ruf von Schröder bekam.
Was immer die SPD auch versuchte: kein Mittel wirkte gegen diesen Mann. Rühe, einst wegen seines rüden Umgangstons Volker "Rüpel" genannt, gewann zusehends an Statur: Er erkämpfte sich den Ruf eines moderaten, wortgewandten Politikers, der sich nicht überzeugend als reaktionär denunzieren ließ. Die Sozialdemokraten hatten die Wahl insgeheim bereits abgeschrieben - die Mitarbeiter der Landesregierung begaben sich auf die Suche nach Posten, von denen aus sich auch nach einem politischen Wechsel Karriere machen lässt. Dann brach die Spendenaffäre über die CDU herein und kippte den Trend grundlegend.
Heute, gut fünf Wochen vor der schleswig-holsteinischen Landtagswahl am 27. Februar - liegt aber die SPD in allen Umfragen wieder um eine Halslänge vorn. Zwei Prozent - Tendenz steigend - beträgt der Abstand, während die potenziellen Koalitionspartner, Grüne und FDP, sich ein totes Rennen knapp oberhalb der Fünf-Prozent-Marke liefern.
Nur wenn die Grünen den abermaligen Sprung in den Kieler Landtag verpassen sollten, hat Rühe noch eine Chance, ab März im Land zwischen den Meeren zu regieren. Denn bei einem knappen Wahlausgang zwischen rot-grüner Koalition und schwarz-gelber Opposition steht Ministerpräsidentin Simonis nur noch der SSW, die von der Fünf-Prozent-Sperrklausel befreite Partei der dänischen Minderheit, als willfähriger Koalitionspartner zur Verfügung.
Seit Wochen sucht Rühe nach der richtigen Strategie, den Absturz seiner Partei zu bremsen. Gefunden hat er sie bis heute nicht. Vielleicht gibt es auch keine. Erst hat er Altkanzler Kohl die Stange gehalten, dann aber dessen geplante Wahlkampfauftritte kurzerhand abgesagt und die "Ära Kohl für beendet" erklärt. Heute wird er nicht müde zu betonen, dass es sich nicht um eine Abstimmung über das Spendengebaren der CDU, sondern um eine Landtagswahl handelt. "Es geht um Schleswig-Holstein" steht treuherzig auf den CDU-Wahlplakaten, die aussehen, als stammten sie aus den fünfziger Jahren. Wechselwähler kann man so nicht gewinnen.
Seit die Spendenaffäre vergangene Woche auch die schleswig-holsteinische CDU endgültig einholte - ihr verstorbener früherer Landeschef Otfried Henning soll als Privatmann 100.000 Mark aus den schwarzen Kassen der Bundes-CDU erhalten haben - ist es für Rühe noch schwerer geworden, landespolitische Sachthemen im Vordergrund zu platzieren. Zumal er zögerte, die Affäre der Öffentlichkeit mitzuteilen. Inzwischen räumt Rühe hinter vorgehaltener Hand kleinlaut ein: "Mir ist es auch egal, wenn mich die Leute nur aus Mitleid wählen".
Es ist vor allem Selbstmitleid, das Volker Rühe derzeit zur Schau trägt. Er, der strahlende Wahlkämpfer, der Simonis schon niedergerungen hatte und dem das sichergeglaubte Ministerpräsidentenamt, ganz unverdient und unverschuldet wieder aus der Hand gerissen wurde. So sieht der Kandidat sich am liebsten. Doch um als überzeugendes Opfer zu taugen, war Rühe als ehemaliger CDU-Generalsekretär selbst zu nah an den schwarzen Konten dran. Kaum jemand nimmt ihm ab, von Kohls Anderkonten nichts gewusst zu haben. Zumal Amtsvorgänger Heiner Geißler sein Wissen über die Konten preisgab und Rühe immer als Ziehsohn des Altkanzlers galt.
Die SPD hat da leichtes Spiel. Sie muss nur ab und zu einstreuen, dass Rühe ja auch mal Generalsekretär der CDU war. Wenn er von den Konten nichts wusste, war er ein inkompetenter Generalsekretär, wenn er was wuss te, ist er ein Lügner, lautet die gemeinsame Wahlkampfbotschaft von SPD und Grünen. Das zieht, verunsichert die Wähler und trifft die schleswig-holsteinische CDU ins Mark. Denn auch in ihr geht - allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz - die Angst um, dass Rühe von den Spenden doch mehr wusste, als er zugibt. Gerüchte gibt es genug.
Die Kieler Sozialdemokraten strotzen derweil vor Optimismus. "Wir können uns nur noch selber schlagen", sagt ein Kieler Genosse und ergänzt: "Am Besten sollte die ganze Partei bis zum Wahlabend geschlossen in den Urlaub fahren".
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