Neue Chancen

Bundestag Ende November 2018 trat Marco Bülow aus der SPD aus und arbeitet seitdem als fraktionsloser Dortmunder Abgeordneter im Bundestag. Eine vorläufige Bilanz

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Marco Bülow
Marco Bülow

Foto: Susie Knoll

Es ist schon spannend, wie es manchmal läuft. Genau ein Jahr nach der Pressekonferenz zu meinem Parteiaustritt Ende November 2018 veranstalte ich in demselben Raum eine Debatte mit der ganzen Breite der Klimabewegung und sozialen Initiativen, um mit Abgeordneten über Klimagerechtigkeit zu diskutieren. Es ist bereits die zweite große „Re:claim the House“-Veranstaltung und auch sie zeigt: man kann als Fraktionsloser einiges bewegen, hat wegen der größeren Unabhängigkeit sogar andere Möglichkeiten.

In meiner neuen Funktion kann und will ich jenen Menschen eine Lobby geben, die im normalen Politikapparat nicht oder zu wenig gehört werden. Viele haben das Vertrauen zu den Parteien verloren. Immer mehr Menschen engagieren sich daher politisch außerhalb von Parteien und wenden sich nun immer häufiger mit ihren Anliegen an mich. Für viele Initiativen und Bewegungen bin ich ein wichtiger Ansprechpartner geworden.

Es war ein schwerer Schritt, nach 26 Jahren aus der SPD auszutreten und natürlich wirkt es noch nach. Ich spreche manchmal noch von „wir“ und fiebere mit. Ich bin und bleibe Sozialdemokrat, das gilt auch heute noch. Es macht mich fassungslos, wie sehr die Partei den Weg weiterverfolgt, der sie so weit in den Abgrund manövriert hat. Dies sieht man an vielen Entscheidungen – beispielsweise am unsozialen und völlig unzureichenden Klimapaket, wofür die SPD-Spitze sich auch noch selbst feiert. Ich weiß mittlerweile immer mehr, wie richtig mein Schritt war und es befreit mich auch. Immer noch glauben nicht wenige in der SPD, allein eine neue Spitze könnte doch noch was verändern, könnte umsteuern. Dies wird aber am Widerstand von so vielen scheitern, die etwas zu verlieren haben und die in der Partei fast alle wichtigen Positionen besetzen.

Einflusslos?

Häufig werde ich gefragt, wie ich denn nun Politik mache, welche Rechte ich habe, ob es so überhaupt noch möglich ist, Politik mitzugestalten. Einiges musste ich mir erarbeiten, einiges ist schwieriger geworden, aber es gibt vor allem auch viele neue Chancen. Zudem überschätzen viele den Einfluss von Abgeordneten in den Fraktionen massiv. Auch als parteigebundene*r Oppositionspolitiker*in kann man nur bedingt gestalten: egal, wie gut die eigenen Vorschläge sind, sie werden von der Mehrheit leider per se abgelehnt. Es bleibt aber die wichtige Möglichkeit, Themen anzutreiben, Probleme aufzuzeigen, Debatten anzuregen. Diese Möglichkeiten habe ich auch als Fraktionsloser.

Für Mitglieder einer Regierungsfraktion sieht es mit dem Einfluss recht düster aus, weil die Mehrheit ohnehin den Vorgaben der Regierung folgt. Es herrscht in fast allen Fällen Fraktionszwang und nur ganz wenige Abgeordnete trauen sich, dem zu folgen, was das Grundgesetz vorgibt: dem Gewissen. Also sind die Möglichkeiten sehr begrenzt: der Bundestag ist nicht mehr die Entscheidungsmitte, er kontrolliert nicht die Regierung, erstellt nicht die Gesetze, sondern nickt sie meistens einfach nur ab. Von diesem Druck in den Fraktionen, dem ich auch früher immer versucht habe zu widerstehen, bin ich befreit. So kann ich die Anliegen offen ansprechen, die oft zu kurz kommen, nämlich die von den im Parlament leider stark unterrepräsentierten Menschen in diesem Land. Die spüren es täglich, dass Politik vor allem für die großen Unternehmen und Wohlhabenden gemacht wird. Und sie können das pseudosoziale Schöngerede vieler Politiker*innen nicht mehr hören.

Rechte

Als fraktionsloser Abgeordneter gelten zwar alle Pflichten, aber man besitzt nicht alle Rechte. Ich kann weiterhin schriftliche und mündliche Fragen an die Bundesregierung stellen – und nutze dieses Recht ausgiebig, um Licht ins Dunkle zu bringen. Ich konnte auch meinen Ausschuss frei wählen. Zwar bin ich jetzt sogenanntes beratendes Mitglied, d. h. ich darf nicht abstimmen, da meine Stimme sonst überproportional Gewicht hätte, habe aber Rede- und Antragsrecht, ohne dass mir das eine Fraktionsspitze verwehren kann.

Im Plenum des Bundestages kann ich weiterhin Anträge oder mit anderen Fraktionen gemeinsam Kleine Anfragen stellen. Meine Redezeit im Plenum ist im Vergleich zu den Fraktionen zwar geringer, als Einzelperson ist sie aber nun ungleich länger, da ich theoretisch jede Woche sogar häufiger reden könnte. Den Tagesordnungspunkt, zu dem ich rede, kann ich jetzt genauso frei bestimmen, wie den Inhalt meiner Reden - ohne dass irgendjemand versucht, darauf Einfluss zu nehmen. Dies nutze ich, um die wichtigen Themen Umwelt, Soziales und vor allem auch Lobbyismus in die Debatte einzubringen.

Herausforderungen

In einer Fraktion arbeitet man als Team zusammen, sodass es Spezialist*innen für verschiedene Themen gibt, an die man sich bei Fragen wenden kann. Das bedeutet, dass ich mich bei der Beantwortung von Fragen nicht mehr auf den Rat meiner Fach-Kolleg*innen berufen kann, sondern mich stärker in fremde Themen einarbeiten muss und mich natürlich vor allem auf meine Schwerpunktthemen konzentriere. Die Fraktion und ihre Mitarbeiter*innen fehlen mir bei breiteren Themen und Fragen außerhalb meiner Expertise, so dass sich mein Team in einigen Bereichen intensiver einarbeiten und breiter aufstellen muss.

Chancen

Da ich keine Rücksicht mehr auf Parteikarrieren, Listenplätze oder Aufstellungen nehmen muss, habe ich mehr Zeit, mich auf die Inhalte und Forderungen zu konzentrieren, die mir wirklich wichtig sind. Sich in Parteigremien aufzureiben, mag ein Teil der parlamentarischen Arbeit sein, sie hemmt aber sehr den Blick auf die eigentliche, nämlich die Inhalte und führt dazu, dass sich alle parteitaktisch verhalten. Dass ich nicht mehr hauptsächlich meiner Fraktion, sondern der Bevölkerung gegenüber verpflichtet bin, bedeutet auch, meine Arbeitsweise und Abstimmungen ihnen gegenüber noch transparenter zu machen. Das empfinde ich als Gewinn.

Zudem bin ich weniger Druck ausgesetzt, den einflussreichen Lobbyisten dienlich zu sein, viel Zeit mit ihnen zu verbringen. Habe ich dies vorher schon anders als die meisten anderen Abgeordneten gehandhabt, wende ich mich nun ganz der Zivilgesellschaft zu: denen, die im Vergleich kaum Einfluss haben. Es gibt nicht wenige Initiativen, Bewegungen, Vereine, Einzelpersonen, Nichtregierungsorganisationen, die sich aufgrund ihres Misstrauens gegenüber allen Parteien nicht vor deren Karren spannen lassen wollen. Meine Unabhängigkeit ist hier der Bonus, sowohl in Dortmund als auch in Berlin. Im von mir initiierten Zukunftsforum in Dortmund kann ich verschiedene Gruppen aus dem Klima-, Umwelt- und Sozialbereich zusammenbringen. Auf Bundesebene lade ich beispielsweise die Klimabewegung ins Parlament ein und kann durch meine Möglichkeiten ihren Anliegen im Bundestag Gehör verschaffen.

Bewertung

Meine größte Kritik am Parteiensystem bestand immer darin, dass pluralistische Entscheidungsbildung eine Illusion ist. Die im Grundgesetz formulierte Gewissensfreiheit der Abgeordneten ist eine Farce, da sich die Abgeordneten durch Fraktionszwang und Parteitaktik daran hindern lassen, die Interessen der Allgemeinheit zu vertreten. Meist verliert sich das Anliegen der Bevölkerung, von Selbstständigen und kleinen Unternehmen gegenüber überrepräsentierten mächtigen Wirtschaftsinteressen. Es gibt ein wachsendes Ungleichgewicht auch innerhalb der Lobbyist*innen und die Lebenswirklichkeit von vielen Menschen vor Ort, nehmen wir höchstens noch am Rande wahr.

Seit ich fraktionslos bin, merke ich noch stärker, wie extrem sich die Parteienkrise in Deutschland entwickelt hat. Mein Kontakt zu Bewegungen und zur Zivilgesellschaft zeigt eindeutig, wie tief das Misstrauen Parteien gegenüber geworden ist.

In Dortmund sagte eine Frau auf der Straße: „je fraktionsloser, desto besser.“ Dies darf in einer Parteiendemokratie aber doch nicht sein. Die Parteien müssen sich dringend ändern, öffnen und modernisieren. Sie verlieren immer mehr den Anspruch, die Menschen zu vertreten. Wir machen Politik für die Menschen und die Sache, dies muss auch in einer Partei möglich sein – im Augenblick kann ich als Fraktionsloser diesen Auftrag vielleicht sogar besser erfüllen.

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