Roberto Saviano: Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra

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Savianos erschütternde Dokument über die Macht der Camorra, ihre Verflechtungen, ihre Opfer ist die mutigste journalistische und schriftstellerische Leistung der europäischen Gegenwart, die ich kenne. Ein aufwühlendes Buch schaurigen Inhalts, brillant recherchiert und mit einer bildlichen Sprache ausgestattet, die jeden Leser atemlos zurücklässt.

Der diplomierte Philosoph und Journalist Roberto Saviano wurde 1979 mitten in der Hochburg der Camorra, nördlich von Neapel geboren. In den 80er-Jahren versorgte sein Vater ein Opfer der Camorra und wurde daraufhin zur Warnung zusammengeschlagen. Nach jahrelangen Recherchen veröffentlichte Saviano 2006 „Gomorrha“, das eine Mischform aus journalistischer Reportage und dokumentarischen Roman darstellt.

Nachdem das Buch ein Welterfolg wurde, musste der Autor wegen der Racheankündigungen der Camorra untertauchen. Er lebt seitdem versteckt an wechselnden Orten und kann kein normales Leben mehr führen. Dennoch wird er auch von hochrangigen Politikern, wie Silvio Berlusconi, beschimpft, die ihn als Nestbeschmutzer sehen. Hotels weigern sich, ihn zu beherbergen, Fluggesellschaften wollen ihn nicht befördern – Angst regiert nun Savianos Alltag. Doch er hat gerade auch in Süditalien viele Anhänger gefunden. „Hört ihm zu“ sprühten Bürger Neapels an ihre Häuserwände. Seine Popularität ist nach der erfolgreichen Verfilmung von „Gomorrha“ durch Matteo Garrone noch gestiegen.

Roberto Saviano beschreibt in seinem Buch detailliert die Praktiken des organisierten Verbrechens und dessen Vernetzung mit legalen Wirtschaftsstrukturen und der Politik. Er schreibt über die Wand des Schweigens, die sich aus Angst, Druck, Ignoranz und Opportunismus aufbaut und die durch nur wenige Menschen durchbrochen wird. Als Beispiel schildert er die Zeugenaussage einer mutigen Kindergärtnerin, die einen Killer der Camorra identifizierte. “Ein Teil ihrer Familie hat sich von ihr distanziert, ein Abgrund der Einsamkeit tat sich vor ihr auf. Eine Einsamkeit, die man besonders schmerzlich im Alltag spürt, (…) und die Freunde sich immer seltener und schließlich überhaupt nicht melden. (…) Was das Handeln der Kindergärtnerin so anstößig machte, war, daß sie es für selbstverständlich, natürlich und notwendig erachtete, Zeugnis abzulegen. Wer eine solche Einstellung hat, glaubt noch an die Wahrheit. Aber in einem Land, wo das wahr ist, was Geld einbringt, und das eine Lüge, was einem zum Verlierer macht, bleibt solch eine Entscheidung nicht nachvollziehbar. Und so kommt es, daß selbst die Menschen, die einem nahestehen, plötzlich irritiert und sich von demjenigen entlarvt fühlen, der den Grundregeln des Lebens zuwiderhandelt, dessen Regeln sie selbst ganz fraglos akzeptiert haben. Akzeptiert haben ohne Scham, denn letztlich muß es ja so laufen, weil es schon immer so gelaufen ist, weil man aus eigener Kraft ohnehin nichts ändern kann und es daher besser ist, seine Kräfte zu schonen, in den alten Bahnen zu verharren und so zu leben, wie es einem zugestanden wird.”

Dennoch lässt Saviano den Leser nicht hoffnungslos zurück. Immer wieder gibt er anderen ein Vorbild, in dem er nicht schweigt, nachforscht, aufdeckt und anklagt. „Als läge der Sinn des Lebens einzig und allein im Überleben. Wissen, verstehen und ergründen ist daher nicht bloß eine moralische Pflicht, es ist eine Überlebensfrage. Ohne diese Selbstverpflichtung ist kein menschenwürdiges Dasein möglich“.

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