Wir sind alle Migranten

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Oder die Beobachtung des merkwürdigen Menschen

Wir Menschen sind zwiespältige, fast absurde Wesen. Was wir als normale Entwicklung empfinden, würde jeden neutralen Beobachter des Lebens auf der Erde sicher sehr erstaunen. Ein außerirdischer Zeitreisender, der uns jahrhundertelang beobachtet, wäre von unserer Spezies vermutlich gleichermaßen fasziniert wie schockiert. Was dies mit Migration zu tun hat, versteht man nur, wenn man die Entwicklungsgeschichte des Menschen nachvollzieht.

Vom Affen zum intelligenten Massenvernichter
Der Mensch hat eine unglaubliche Entwicklung hingelegt. Nach der Weiterentwicklung vom Primaten zum Homo Sapiens vor etwa sechs bis acht Millionen Jahren verlief die weitere Entwicklung zunächst im Kriechtempo. Doch dann ging alles ganz schnell. In einer erdgeschichtlich kurzen Zeitspanne von nur etwa 40.000 Jahren hat der Mensch behauene Steine, dann ausdifferenzierte Werkzeuge und schließlich hochspezialisierte Maschinen konstruiert. Von der Höhle ist er über Hütten und einfache Häuser in riesige Wolkenkratzer und Nullenergiehäuser mit allen Annehmlichkeiten gezogen. War die Fortbewegung anfänglich nur auf allen Vieren möglich, hat er sich später auf den Mond katapultiert und rast heute mit Autos und Flugzeugen über den Globus. Fast biblisch hat die Menschheit die Erde in Besitz genommen und sich weit über alle Tiere aufgeschwungen.

Doch wir Menschen haben nach Keule und Speer auch Massenvernichtungswaffen entwickelt und eingesetzt. Wir verpulvern in kürzester Zeit unsere Ressourcen, heizen die Klimaerwärmung an, rotten Tier- und Pflanzenarten schneller aus, als wir sie benennen können, und vernichten jährlich Millionen Hektar Wald . Wir verseuchen unsere Erde mit atomarer Strahlung und chemischen Giftstoffen. Wir haben den Genozid und den Rassismus erfunden, beuten uns gegenseitig aus und überziehen unsere eigene Spezies immer wieder mit Krieg, Hass und Gewalt. Das Eigenartigste daran ist, dass wir als hochentwickelte Lebensform in der Lage sind, dies alles zu erkennen, zu dokumentieren und teilweise sogar zu reflektierten. Dennoch halten wir diese Entwicklung und uns selbst für völlig normal und glauben immer noch, dass der Mensch am Ende der Entwicklungsstufe steht und die „Krönung“ der Schöpfung bildet. Alle die es wagen, unsere „Fortschritte“ in Frage zu stellen, und eine andere Entwicklung einfordern, werden müde belächelt oder als idealistische Spinner betrachtet. Wie würde unser Zeitreisender unser Dasein und unsere Entwicklung wohl beurteilen?

Vielleicht würde sich einem unbeteiligten Beobachter der Eindruck aufdrängen, dass das moralische Empfinden des Menschen, seine soziale Intelligenz und sein globales Bewusstsein mit seinem sonstigen Hirnwachstum und seiner Entwicklung nicht Schritt gehalten haben. Aus wissenschaftlichem Interesse würde er vielleicht einige Fragen auflisten: Leben die Menschen geistig-moralisch immer noch in der Höhle? Wie kommt es zu dieser Diskrepanz? Warum investieren sie so viel Gehirnschmalz in den Zuwachs von Profit und Macht und so wenig in die geistige und moralische Entwicklung? Warum dominieren bei ihnen häufig die destruktiven, diskriminierenden Handlungen und nicht die friedlichen, nachhaltigen Lösungswege? Warum jubeln im angeblich so fortschrittlichen Europa immer noch Massen rechten Populisten zu, die nichts anderes als Vorurteile, Ressentiments und destruktive Aussagen zu bieten haben?

Der Rassismus offenbart uns, was wir alles nicht verstanden haben
Der außerirdische Zeitreisende, der natürlich weit entfernt davon ist, ein menschliches Wesen zu sein, würde wohl vor allem nicht begreifen, wie wir nach so vielen Jahrtausenden immer noch Hass gegenüber anderen Hautfarben, anderer Herkunft predigen können und warum wir den Rassismus trotz unseres Wissensfortschritts nicht überwinden können. Auch wenn es seinem Wissen widerstrebt, kann er vielleicht nachvollziehen, dass in früheren menschlichen Entwicklungsstufen mit rassistischen Ressentiments Stimmung gemacht werden konnte. Wegen der herrschenden Unwissenheit, konnte die Angst vor Fremden allgemein und vor dem Fremden speziell, schnell in Ablehnung oder sogar Hass befördert werden.

Nach vielen Spekulationen und Umwegen sollte der Mensch heute aber doch verinnerlicht haben, dass Hautfarbe, Augenform, Herkunft, Geschlecht nichts mit Intelligenz, Entwicklungsstand oder moralischer Integrität zu tun haben. Wie kommt es also, dass gerade auch die Europäer mit ihrem unglaublichen Fundus an Wissen, nach mittlerweile hunderten Jahren andauernden Fortschritts dennoch immer wieder Populisten für platte und blödsinnige Ressentiments bejubeln? Dieser Beobachtung müsste eine ernüchternde These folgen: Auch die Menschen in Europa haben Ängste, Vorurteile und andere niedere Instinkte nicht überwunden, sondern mit Erklärungen, Regeln, Werten kaschiert und mit „zivilisiertem Gehabe“ übertüncht. Unser Beobachter notiert nüchtern: Vieles gelernt und noch mehr nicht verstanden.

Warum wir alle Migranten sind
Es bedürfte eigentlich keines Außerirdischen, damit uns deutlich wird, warum alles Gerede von unterschiedlichen Rassen mit unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch wissenschaftlich völlig blödsinnig ist. Lange wurde die Auffassung, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, ignoriert, ja massiv bekämpft. Dabei ist dies keine Weltanschauung, sondern eine simple Tatsache. Die deutsche Öffentlichkeit reagiert dennoch erneut verwirrt, teilweise sogar schockiert, wenn in Untersuchungen festgestellt wird, dass bereits jeder vierte Bewohner unseres Landes einen „Migrationshintergund“ besitzt. Doch streng genommen stammen wir sogar alle von Migranten ab.

Wir sollten mal unser Wissen nutzen und endlich nachvollziehen, wo wir herkommen und wie wir uns entwickelt haben. Europa, Deutschland ist geprägt von unfangreichen Migrationsbewegungen. Die Millionen Gastarbeiter nach dem 2. Weltkrieg bilden dabei nur eine von vielen Gruppen. Allein vor dem 1. Weltkrieg kam damals die gewaltige Zahl von etwa 1,2 Millionen Polen in unser Staatsgebiet. Deutschland als Nationalstaat gibt es noch gar nicht so lange. Davor existierte lange ein Flickenteppich von Königreichen, Herzogtümern und Bistümern. Die wiederum waren Ergebnis auf einer Entwicklung, an der viele verschiedene Volksgruppen von teilweise sehr unterschiedlicher kultureller Herkunft beteiligt waren. Allein die große Völkerwanderung in der Spätantike würfelte die Bevölkerung gerade in Europa komplett durcheinander.

Ganz gleich, welche langen heimischen Stammbaum wir auch präsentieren können, am Ende gehören immer „Nichtdeutsche“ zu unseren Vorfahren und niemand weiß, welche Kulturkreise, welche Volksgruppen eine Familie geprägt haben. Egal, wie blond und blauäugig man auch sein mag, sagt dies gar nichts über seine Wurzeln aus. Auch die „nationalistisch“ gesinntesten Europäer sind das Ergebnis von immer neuen Vermischungen. Wissenschaftlich betrachtet ist diese Durchmischung wichtig, reduziert sich dadurch die Wahrscheinlichkeit von inzestuösen Beeinträchtigungen. Zur weiteren Aufklärung sollten wir aber noch weiter in die Vergangenheit reisen.

Unsere Wiege liegt in Afrika
Genau genommen gibt es nur eine Ursprungsregion für die gesamte Menschheit und die liegt in Afrika. Dies wissen wir schon lange, aber ziehen daraus nicht die richtigen Schlüsse. In Afrika trennte sich die Linie des Menschen von den übrigen Primaten, dort entstanden die ersten menschlichen Rassen und dort entwickelte sich auch der Homo Sapiens. Doch bevor dieser moderne Mensch Europa und die Welt eroberte, wanderte der uns als Neandertaler bekannte Verwandte nach Europa ein. Er war grobschlächtiger und wohl auch weniger weit entwickelt als der moderne Menschentyp. Er konnte sich bis vor etwa 30.000 bis 40.000 Jahren in Europa behaupten. Vor dem Aussterben des Neandertalers zog der moderne Mensch aus Afrika – vermutlich über den Nahen Osten – ebenfalls nach Europa. Dort kreuzten sich die Wege der beiden menschlichen Verwandten. Die meisten Forscher glauben heute nicht daran, dass beide Rassen gemeinsame Nachkommen hatten. Wenn aber doch, dann sind gerade wir – die „überlegenen“ Europäer – auch die Nachfahren einer weniger weitentwickelten Menschenrasse.

Wenn es zu nicht zu einer Vermischung kam, dann stammen alle heutigen Menschen von einer Ursprungsrasse ab. Einer Art, die sich in Afrika entwickelt hat und dann nach vielen Wanderungen kreuz und quer durch die Welt über Jahrtausende zu größtenteils sesshaften Volksgruppen wurde, eigene Sprachen bildete, Kulturen weiterentwickelte und schließlich Nationalstaaten gründete. Die Entwicklung wird weitergehen. Staaten, Kulturkreise werden sich verändern, werden zerfallen und dabei wird Migration immer wieder eine Rolle spielen. Viele Menschen blenden die Vergangenheit aus und denken zudem, dass wir uns an einem Endpunkt der Entwicklung befinden.

Höchste Zeit, die Höhle zu verlassen
Wir Menschen sind meisterhafte Ignoranten und es gelingt uns trotz allen Wissens, uns immer wieder voneinander abzugrenzen, unsere jeweilige nationale Identität über die der anderen zu stellen. Wo wir auch geboren wurden, von wem wir am Ende auch abstammen, wir wähnen uns höhergestellt als die Nachbarn oder die Nachfahren anderer Kulturkreise. Egal ob gegenüber Indianern, Afrikanern oder Muslimen, wir Europäer fühlen uns überlegen, betonen das christlich-kulturelle Erbe, das wir in Verfassungen verankern wollen und das uns abgrenzen soll. Es geht häufig gegen, statt miteinander. Es ist so schön einfach, die verwurzelten Vorurteile zu bedienen, bei Problemen einseitig Sündenböcke zu benennen. Einige können es auch heute nicht lassen und verunglimpfen und beschimpfen diejenigen, die nach ihren eigenen Vorfahren eingewandert sind, zweifeln ihre geistigen Fähigkeiten an. Wenn sie statt Militärkleidung und Springerstiefel Anzug und Krawatte tragen, ihre Botschaften nett verpacken oder mit Halbwahrheiten garnieren, ernten sie damit immer noch viel Applaus.

Selbst gebildete oder aufgeklärte Kreise wollen oder können sich diesem unterentwickelten Verhalten kaum entziehen. Die Gegenwehr gegen Populisten oder deren Vorurteile ist häufig auf zaghafte Debatten in den Feuilletons beschränkt. Parteien, Medien, Unternehmen schrecken vor allzu lautem Widerstand zurück, denn damit könnte man ja eine Mehrheit verschrecken. Unser Zeitreisender ergänzt deshalb nüchtern: Vieles Gelernt und noch mehr nicht verstanden, und die es verstehen, haben Angst vor der eigenen Courage. Genau dies gilt es zu ändern. Wir müssen gerade auch in Punkto Toleranz, Moral und Selbstreflexion endlich die Höhle verlassen. Es ist höchste Zeit, den außerirdischen Beobachter erneut mit den menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten zu überraschen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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