Die G20 sind überfordert

Weltwirtschaft Jean-Paul Fitoussi, Präsident des französischen Instituts für Konjunkturbeobachtung OFCE, über mangelnde Koordination in der Weltwirtschaft und die Zukunft Chinas

Freitag: In Pittsburgh läuft der dritte Weltfinanzgipfel der G20 innerhalb von zehn Monaten. Die Regulierung der Märkte, die Zähmung der Banken, neue Wege nach der schwersten Krise seit Jahrzehnten – die Agenda ist eigentlich klar. Dennoch muss befürchtet werden, dass es zu keinen wirklich wirksamen Beschlüssen kommt. Bleibt alles, wie es ist?

Jean-Paul Fitoussi: Ich bin ein Mann der Hoffnung. Aber es ist auch klar, dass die G20 das Problem nicht lösen können. Der Gipfel ist eine informelle Institution und keine internationale Organisation. Die Herausforderung besteht heute darin, ein wirklich funktionierendes institutionelles Steuerungssystem auf internationaler Ebene zu schaffen.

Was muss geschehen?

Man muss die Legitimität der internationalen Organisationen erhöhen. Die Quoten beim Weltwährungsfond (IWF) spiegeln die globalen Verhältnisse absolut nicht mehr wider. Es gibt zudem ein Misstrauen vieler Länder dem IWF gegenüber. Unter diesen Bedingungen kann eine internationale Organisation keine gute Arbeit machen. Das Financial Stability Board ist noch weniger repräsentativ. Und hat überhaupt keine Entscheidungsmacht.

Woher kommt das Misstrauen?

Einer der Gründe für die aktuelle Krise liegt darin, dass jene Länder, die die Vormundschaft des IWF während der Asienkrise erlitten haben, ihr politisches System nicht mehr anpassen wollen an eine internationale Organisation, die ihnen Bedingungen aufzwingt, die das Leiden ihrer Bevölkerungen nur verschlimmern. Was haben diese Länder also gemacht? Sie haben sich gegen dieses Risiko, gegen solche Krisen abgesichert, indem sie Währungsreserven angehäuft haben. Das geht nur mit einer Exportstrategie. Aber wenn es ein Land mit Überschuss gibt, muss es auch eines mit Defizit geben.

Wie die USA?

Genau. Man kann sich vorstellen, nach und nach zu einer anderen Reservewährung zu gelangen, als dem Dollar. Diese Währung gibt es sogar schon.

Den Euro?

Nein, die Sonderziehungsrechte des IWF. Es würde reichen, diese Sonderziehungsrechte aufzustocken, damit kein Land mehr auf eine Reservestrategie zurückgreifen muss, die das Wohlergehen seiner Bürger nicht maximiert.

Aber muss man nicht auch die Machtverhältnisse berücksichtigen, sowohl innerhalb der nationalen Gesellschaften, als auch auf globaler Ebene.

Gemeinsam mit Joseph Stiglitz haben Sie mehr internationale Solidarität eingefordert, um die Krise zu überwinden

. Woher soll diese kommen?

Die Frage muss eher in arithmetischer als in moralischer Weise gestellt werden. Es geht darum, dass die Länder die externen Konsequenzen ihrer Politik nicht berücksichtigen, wenn sie über eine Politik entscheiden. Die Krise ist global - wenn sie lokal wäre, könnte ein Land sich durch eine Exportstrategie befreien, wie sie in China oder Deutschland vorherrscht. Wenn das aber alle Länder machen, kommt es zur Katastrophe.

Müsste also besser koordiniert werden?

Die Welt ist ein geschlossenes ökonomisches System. Bisher gibt es keinen Austausch mit dem Mars oder der Venus. Die effizientesten Strategien sind solche, die koordiniert sind, bei denen kollektiv entschieden wird. Ein Beispiel ist der so genannte Multiplikatoreffekt: Wenn der Staat einen Euro zusätzlich ausgibt, kann dieser Euro ganz unterschiedlich wirken: Unkoordiniert ausgegeben kommen nur 80 Cent heraus, bei richtiger Koordination dagegen bis zu drei Euro. Alle müssten also ein Interesse daran haben.

Warum passiert es dann nicht?

Nimmt man die das Beispiel der Konjunkturpakete. Die Regierungen haben Angst, dass sie dadurch vor allem die Wirtschaft der Nachbarländer ankurbeln, wenn die Bevölkerung Produkte aus dem Ausland kauft. Im Ergebnis machen sie viel zu wenig. Was Europa sehr zu schaden droht: die Bevölkerungen haben den Eindruck, dass sich Europa bei der Rettung der Banken zusammengetan hat, aber nicht um die Arbeitslosen zu retten.

Bei der Automobilindustrie versuchen die Regierungen aber Jobs zu erhalten.

Aber auch hier gibt es keine Koordinierung. Alle Länder halten sich eine Automobilindustrie. Sie haben dafür gute Gründe. Sie wollen einen zu starken Abbau von Arbeitsplätzen verhindern.

Weil diese Arbeitsplätze nie wieder kommen würden.

Genau. Doch was die Regierungen tun, ist für mich versteckter Protektionismus. Es hat den gleichen Effekt wie die Wiedereinführung der Grenzzölle. Mit einem abgestimmten europäischen Plan hätte man es viel harmonischer machen können. Und vielleicht hätte man eine Umstrukturierung wie im Energiesektor erreicht. Aber dafür hätte es einer wirklichen Koordinierung in Europa bedurft.

Glauben Sie, dass sich das ändert?

Ich schwanke da sehr. Es gibt Tage, an denen bin ich sehr pessimistisch, denn in einem System, in dem das Einstimmigkeitsprinzip gilt, können sich nicht viele Dinge ändern. An anderen Tagen sage ich mir, vielleicht gibt es den Druck aus der Bevölkerung, die genug hat, die Kosten für das Fehlen einer europäischen Regierung zu zahlen. Und dieser Druck, kann stark werden. Das gibt mir Hoffnung.

Zum Ende möchte ich Ihnen einen Witz erzählen – und Sie sagen, ob das realistisch ist: Nach dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers fällt ein Broker ins Koma. Im Jahr 2012 wacht er wieder auf. Seine erste Frage: Ist die Krise vorbei? „Ja.“ Dann will er wissen, wo der Dow Jones steht. „Bei 14.000 Punkten“. Er freut sich und bestellt eine Flasche Champagner. Als er zahlen muss, sagt die Serviererin: „100 Yuan“.

(Lacht) Die Europäer sind Meister in der Kunst geworden, sich Gefahren auszudenken. Dadurch können sie es ja auch legitimieren, dass sie keine koordinierte Politik machen, sondern eine Politik des Wettbewerbs. Bei dieser Politik ist China der Feind. Aber das Reich der Mitte hat zwar eine riesige Bevölkerung, ist ökonomisch gesehen heute aber ein kleines Land, etwa so groß wir Frankreich. Man kann nicht sagen, dass nur wegen der chinesischen Konkurrenz, alle Länder Probleme bekommen. Oder ruiniert werden. Das ist reine Rhetorik. An der Arbeitslosigkeit in Europa ist nicht China Schuld, sondern es sind die Regierungen in Paris, London und Berlin, weil sie auf eine koordinierte Wirtschaftspolitik verzichten.

Sie glauben also nicht, dass China bald die Weltwirtschaft dominiert?

Ich hoffe, dass China sehr schnell reicher wird. Und wenn das passiert, stellt das Land auch keine Konkurrenz mehr da.

Weil die Löhne und Preise dann auch dort steigen.

So ist es. Und wir in Europa werden sehr glücklich sein, dass es den chinesischen Markt gibt.


Das Gespräch führte Marcus Engler


Jean-Paul Fitoussi, geboren 1942 in Tunesien, ist am renommierten Institut d'Etudes Poliques in Paris. Zuletzt veröffentlichte er, gemeinsam mit den Nobelpreisträgern Joseph Stiglitz und Amartya Sen, den Präsident des französischen Instituts für Konjunkturbeobachtung OFCEReport of the commission on the measurement of economic performance et social progress

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