Der britische Dramatiker Mark Ravenhill hat einmal erklärt, wie ein Drama zu schreiben ist, damit es glaubwürdig und lebendig wirkt. Ravenhill empfiehlt von den Motiven der Figuren auszugehen und diese die Handlung vorantreiben zu lassen. In der Tatort-Folge Architektur eines Todes ist es anders herum: die Figuren und die Schauspieler müssen daher Dinge tun, die weder sie noch den Zuschauer überzeugen, damit das konstruierte Puzzle am Ende aufgeht.
Beispiele gibt es viele: Warum flieht die junge Architektin Anett Berger (Julia Dietze), als sie im Dunkeln verfolgt wird, freiwillig in eine halbfertiges Hochhaus, dem absolut sichersten Ort, um von einem Psychopathen in Ruhe massakriert oder eingesperrt zu werden? Oder was würde ihr Kidnapper und Konkurrent, der verweichlichte Peter Kaufmann (Bastian Trost), wohl seiner Chefin, der Stararchitektin Sofia Martens (Nina Petri) sagen, wäre diese zu dem Treffen gekommen, um das er sie gebeten hat? Sorry, ich bin der Perverse, der hinter den Mails und Anrufen steckt, „weil es mir irgendwie gut tut, Dir Angst zu machen, aber ich will doch nur, dass ich mehr Anerkennung bekomme"? Warum haut er nicht einfach ab, als er sieht, dass Anett anstelle von Sofia zum Offenbarungsrendezvous kommt? Letztere ist in ihrem Auto direkt vor der Eingangstür übrigens total unauffällig. Und niemand glaubt, dass Peter den Mumm hat, sie einzusperren. Nicht einmal die Drehbuchautorin (Judith Angerbauer), wenn sie ihn beim Verhör sagen lässt: „Ich wusste gar nicht, dass ich so eine Kraft habe.“ Und warum bricht Sofia in Anetts Wohnung ein, obwohl sie einen Schlüssel hat, um ihre Liebesbriefe zurückzuholen? Warum wird Anetts Leiche erst so spät gefunden. Jeder weiß doch, dass Bauarbeiter schon bei der Mittagspause sind, wenn der Rest der Stadt gerade erwacht?
Aber das ist nicht das Schlimmste.
Solche Schwächen des Drehbuchs würde man verzeihen, würde der Film anderweitig begeistern. Doch die Kommissare schleppen sich müde durch ihren vorletzten Fall. Jörg Schüttauf kreuzt als Kommissar Fritz Dellwo in seinem alten BMW durch die Stadt. Irgendwie wirkt er aus der Zeit gefallen. Schlimmer ist seine Partnerin. Viele der Sätze, die Andrea Sawatzki als Charlotte Sänger spricht, klingen hohler als Blech, sind gesprochen, aber nicht gemeint. Abwesend schleicht sie von Szene zu Szene. Es scheint ihr egal zu sein, was um sie herum passiert und das überträgt sich auf den Zuschauer. Innerlich hat sie den Dienst wohl schon quittiert und bereitet sich auf neue Aufgaben vor. Anfang August hatte sie angekündigt: "Es reicht!" Dass sie sich beim Tatort eine Hintertür auflassen möchte, kann man als Drohung verstehen. Vielleicht will sie sich für ein Remake von Batman ins Gespräch bringen, diesmal mit einem weiblichen Joker. Dabei stünde ein Ersatz schon bereit: Thure Lindhardt, der hier den Callboy Charlie spielt, könnte sie in ihrem letzten Fall vertreten. Mit roter Perücke und einen kräftigen Strich Lippenstift hat er schon dafür geprobt.
Aber im Ernst: Was wollte Charlie mit diesem am eigenen Leibe zelebrierten Vodoo-Zauber eigentlich bezwecken? Ihre verlorenen Seelen erwecken? Sein Job verlangt ihm alles ab. Um die Ladys des Woman Working Web nach Feierabend zu beglücken, muss er sich mit Kokain zudröhnen und sich mit krachiger Elektromusik aufputschen. Ein kaputter Typ in einer kaputten Welt. Dann kommt Charlotte Sänger und gibt ihm den Rest. Charlie „kann nicht mehr“.
Hier kommen wir zum eigentlichen Thema dieser Tatort-Episode. Der Titel ist so platt wie die Fassaden der Bankentürme, wenn man sie umkippen würde. Doch wenn man ihn nicht auf die Einsperr- und Mord-Intrige, sondern auf die ganze Stadt bezieht, wird es interessanter. Wo die Dramaturgie versagt, verspricht der soziologische Blick Rettung. Das Unbehagen, dass einem bei Besuchen in Frankfurt mitunter ergreift, die Autorin und der Regisseur werfen ein Licht darauf: Die Menschen hier sind einbetoniert, die Architektur - als Symbol der sozialen Verhältnisse - hat die Lebensfreude in ihnen umgebracht. Doch dieses Mal sind es nicht die Investmentbanker, Berater oder Werbetexter, die uns das Fürchten lehren. Die Szenerie bestimmen eine Architektin, eine Journalistin und eine Köchin. Sie sind die Spinnen im Girls' Network. Die traditionellen Geschlechterrollen sind vertauscht - Frauen kaufen junge Männer während die Ehegatten sich um die Kinder kümmern („Was macht ihr Mann? Der passt auf die Kinder auf, natürlich“). Für Frankfurt und die alte Bundesrepublik mag dies eine kleine (und traurige) Revolution sein, für den aufgeklärten Zuschauer ist es nicht weiter aufregend. Zum Glück sitzt Eva Kaufmann (Alwara Höfels) mit am Stammtisch. Durch ihre Lebendigkeit wird erst deutlich, wie eingefroren die anderen Figuren sind. Das liegt auch an der Spielfreude der Schauspielerin.
Gegen Ende brechen die Figuren, eine nach der anderen in sich zusammen. Erst Charlie, dann Peter („Ich kann nicht mehr“) und Sofia („Ich steck fest. Ich weiß nicht mehr weiter“). Auch Anett, das Objekt der Begierde wird vom frustrierten Architektingatten in die Tiefe gestoßen, um seine Ehe zu retten. Doch zu retten ist da wohl nichts.
Warum wir uns auf Beziehungstaten stets nach Freitag einrichten müssen? „Weil die Paare sich am Wochenende aussprechen müssen“.
Was vom Stand der Ermittlungen zu halten ist? „Was sagt denn die Fahndung? Nichts, wie immer.“
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