Interview Für die schottische Schriftstellerin Denise Mina sind Kriminalromane erst dann relevant, wenn sie einen ganzheitlichen Blick auf ein Verbrechen werfen
Krimis aus schottischer Produktion werden seit einigen Jahren als „Tartan Noir“ vermarktet. Was hat es damit auf sich? Denise Mina, die in Glasgow lebende schottische Schriftstellerin, sagt, das Label suggeriere, dass die schottischen Autor:innen eine Szene bildeten. Das sei aber mitnichten so, fügt sie bei unserem per Mobiltelefon geführten Gespräch hinzu: „Auf uns trifft eher zu, was Johnny Rotten einmal über Punk gesagt hat: ,Alle dachten, es wäre eine Bewegung, eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die sich ständig treffen – aber das war Unfug.’“ Wollten wir dennoch den Terminus Tartan Noir bemühen, so kämen wir nicht umhin, eben jene Denise Mina zur „Königin des schwarzen Schottenkaros“ auszu
szurufen. Nicht etwa, weil sie am meisten verkauft – hier fällt sie hinter Val McDermid oder Ian Rankin zurück; auch nicht, weil sie die härtesten Krimis schreibt – diese zweifelhafte Ehre gebührt wohl Allan Guthrie oder Alan Parks; und schon gar nicht, weil ihre Romane die witzigsten sind – hier liegen Stuart MacBride und Christopher Brookmyre uneinholbar vorn.Gegenseitige GefallenWas Mina so besonders macht, sind zunächst einmal ihre Wandlungsfähigkeit und die Konsequenz, mit der sie auch erfolgreiche Reihen mit bestens eingeführten Figuren beendet, um etwas völlig Anderes zu beginnen. Bei den Plots beeindruckt ihr Gespür für Themen von Aktualität und Relevanz, die Klarheit ihres Blicks auf soziale Schieflagen, eine Sprache, die scheinbar mühelos zwischen verschiedensten Milieus oszilliert. Mina zeigt die brüchigen Zusammenhänge zwischen der abgehobenen Arroganz der Mächtigen und der manchmal ruppigen Hilflosigkeit der Machtlosen, verfällt dabei aber nie ins Analytische oder Dozierende. Das hat vor ihr in Schottland wohl nur William McIlvanney, der 2015 verstorbene „Godfather of Tartan Noir“, ähnlich überzeugend exerziert. Im kürzlich im Argument Verlag erschienenen Kriminalroman Götter und Tiere, dem Mittelteil von Minas zwischen 2009 und 2014 entstandenem Quintett um Alex Morrow, bekommt die Glasgower Polizistin es unter anderem mit einem Überfall auf eine Postfiliale zu tun, bei der ein ehemaliger Taxifahrer erschossen wird. Aber auch zwei ihrer Polizisten bereiten ihr Sorgen, Stichwort Korruption. Parallel erzählt Morrow von den amourösen Verstrickungen eines Politikers. Und natürlich ist auch Morrows Halbbruder Danny wieder dabei. „Die beiden stehen in der schönen schottischen Tradition des anderen Selbst“, sagt Mina, „wenn sie Dr. Jekyll ist, dann ist er ihr Mr. Hyde.“der Freitag: Frau Mina, Sie haben sich zuletzt viel mit true crime beschäftigt, inwieweit haben tatsächliche Ereignisse die Reihe um Alex Morrow beeinflusst?Denise Mina: Oft waren es nur Vignetten. Blinde Wut etwa beruht auf dem Fall eines Londoner Börsenmaklers, der gleichzeitig zwei Familien hatte, die nur wenige Straßen voneinander entfernt lebten. Erst als er pleite ging, flog er auf. Und in Götter und Tiere habe ich einen Sexskandal aus dem Jahr 2006 verarbeitet. Tommy Sheridan, damals ein sehr populärer Politiker, wurde in der News of the World vorgeworfen, regelmäßig Sexclubs zu besuchen. Er verklagte die Zeitung, und obwohl jeder wusste, dass er log, bekam er Recht. Eine faszinierende Geschichte, die zeigt, wie politische Macht Menschen korrumpiert.In „Götter und Tiere“ geht es auch um Korruption innerhalb der schottischen Polizei. Wie sehr basiert das auf Tatsachen?Na ja, man muss sich klar machen, dass Schottland winzig ist, gerade mal gut fünf Millionen Einwohner hat. In einer Stadt wie Glasgow wäre es auffällig, wenn er oder sie auf einmal in Sneakers für 300 Pfund herumläuft oder ein superschickes Auto fährt. Bei Korruption in Schottland geht es folglich weniger um Umschläge mit Geld als um gegenseitige Gefallen.Im Roman will Alex’ krimineller Halbbruder Danny die Kontrolle über das Taxisystem übernehmen. Was hat es damit auf sich?Ein Taxifahrer erzählte mir einmal, dass ein neues System eingeführt worden wäre, das aufzeichnet, wer wann und wohin gefahren ist – das gibt Verbrechern Informationen, die sie nicht haben sollten. Und er erzählte, er fürchte, dass sein Wagen in Brand gesteckt werden würde, wenn er nicht einem bestimmten Taxiunternehmen beitritt. In Glasgow werden die Taxis von Gangstern kontrolliert – wer die Taxis besitzt, dem gehört die Stadt, könnte man wohl sagen.Alex Morrow ist keine dieser getriebenen Einzelgängerfiguren, die man aus vielen Krimis kennt. Haben Sie sie bewusst als eine Art Anti-Dirty-Harry angelegt?Geschichten sind machtvoll, Narrative beeinflussen, wie Menschen die Welt sehen. Romane mit Frauen als unzuverlässigen Erzählern, von Gone Girl bis Girl on a Train, haben durchaus die Idee verbreitet, dass Frauen generell unzuverlässig sind. Man muss also aufpassen, was man erzählt und wie man es erzählt. Und ich finde das Narrativ, das in vor allem US-amerikanischen Krimis Standard ist – der meist männliche Cop, der einen Verbrecher jagt und zur Strecke bringt, oft, indem er ihn umbringt – extrem schwierig. Nicht erst seit „Black Lives Matter“ und der Erkenntnis über den strukturellen Rassismus in der Polizei sind Romane über Cops, die innerhalb des Systems integer bleiben, extrem fraglich geworden.Sind auch deshalb die Morrow-Romane immer aus verschiedenen Perspektiven geschrieben?Ja, weil mich interessiert, wie ein Verbrechen eine Gemeinschaft, zum Beispiel eine Familie, zerstören kann, oft über Generationen hinweg. Kriminalromane sind für mich erst dann relevant, wenn sie einen ganzheitlichen Blick auf ein Verbrechen werfen und sich am Ende ein Panorama auftut.Ihre Polizistin Alex Morrow ermittelte zuletzt 2014, von der Journalistin Paddy Meehan haben wir sogar seit 2007 nichts mehr gelesen – sind diese Abschiede für immer?Mit Paddy Meehan wollte ich eigentlich weitermachen, aber dann kamen andere Projekte dazwischen und das Leben – in Form eines zweiten Babys. Aber ich hoffe, dass ich noch dazu komme, denn der Niedergang des unabhängigen Journalismus ist ein Thema, das Aufmerksamkeit verdient. Bei Alex Morrow hatte ich das Gefühl, dass ihre Storyline auserzählt war. Außerdem hatte ich inzwischen mit The Long Drop meinen ersten Standalone geschrieben und merkte, dass mich das mehr interessierte. Was aber nicht heißt, dass ich Alex nicht vermisse. Im Gegenteil: Sie fehlt mir sehr, weil sie wie ich eine Außenseiterin ist, eine Beobachterin und eine Pessimistin.Was fasziniert Sie an True Crime, wahren Verbrechen?Die Morrow-Romane basieren ja auch auf tatsächlichen Verbrechen und Ereignissen. Was mich jedoch an True Crime besonders reizt, sind die Erzähltechniken. Ich mag es, unakademisch zu schreiben, aber Kriminalromane werden ja in den letzten Jahren immer ernsthafter rezipiert, was eigentlich sehr schade ist. True Crime hingegen benutzt Erzähltechniken wie Vorgriffe und Andeutungen, was ich wirklich liebe. Auf jeden Fall geht es um die Lust am Thrill und um eine bestimmte Art, Geschichten so zu erzählen, dass sie süchtig machen.Zuletzt wurde viel über die Darstellung von Gewalt gegen Frauen, oftmals blond, im Kriminalroman diskutiert; 2018 wurde sogar der „Staunch Prize“ ins Leben gerufen, der Bücher auszeichnet, die darauf verzichten. Was halten Sie davon?Ich denke, dieser Preis war die falsche Antwort auf die richtigen Fragen. Das Problem liegt in der Gesellschaft. Krimis reflektieren diese nur. Sie hätten aber die Möglichkeit, diesen Status Quo zu hinterfragen, das wäre sehr wichtig. Auch deshalb steht in meinem aktuellen Roman The Less Dead [erscheint 2021 bei Argument auf Deutsch, die Red.] eine Sexarbeiterin im Mittelpunkt, einfach, weil solche Frauen in den meisten Krimis nur namenlose Opfer sind. Ich bin mir außerdem ziemlich sicher, dass sich Leser zunehmend für Menschen interessieren, die zu Opfern werden, weil viele von ihnen ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder mit Opfern sympathisieren.Wird Ihre Arbeit heute anders rezipiert als vor gut 20 Jahren?Ich freue mich, dass ich ernster genommen werde. Status ist eine schöne Sache, aber eben nicht alles. Am Anfang meiner Karriere wurde ich öfter gefragt, ob ich Feministin sei, weil meine Hauptfigur eine Frau war. Ich habe dann gern geantwortet: „Ja, ich bin Feministin. Kennen Sie diese schrillen Frauen, die immerzu wütend sind? So eine bin ich.“ Kürzlich wurde ich gefragt, inwiefern es nicht ein Klischee sei, dass ich als Frau eine weibliche Hauptfigur habe. Ist es nicht wundervoll, wie weit wir gekommen sind?Placeholder infobox-1
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