Zehn Uhr, an einem Freitagmorgen in Los Angeles. Steph Cha sitzt auf einem Sofa in ihrem Zuhause und blickt aufmerksam in die Kamera ihres Computers. Brandsätze, ihr Roman über Rassismus und Gewalt, ist hierzulande vor wenigen Tagen erschienen, in den USA hatte er bereits 2019 Aufsehen erregt.
Steph Cha wirkt sehr konzentriert beim Gespräch, nur gelegentlich zucken ihre Augen, huscht ein Lächeln in ihr Gesicht. „Hier ist gerade mächtig viel los“, erklärt sie. Im Hintergrund kann man Geräusche hören, aber niemanden außer Steph Cha sehen. Was denn los sei, frage ich. Sie erwähnt die Basset Hounds, ihr vier Monate altes Baby, alle unter Aufsicht ihres Mannes, sagt sie, der seit dem Beginn der Coronapandemie im Home Office ist und ihr eine große Hilfe. Zum Schreiben kommt Cha dennoch nicht: „Eine Kurzgeschichte habe ich zustande gebracht, und wahrscheinlich werde ich erst wieder einen Roman beginnen, wenn die Pandemie vorbei ist.“
Drei weitere Romane hat die 1986 geborene Cha geschrieben, seit 2013 der Auftakt ihrer Reihe um die Möchtegerndetektivin Juniper Song erschien. Song ist wie die Autorin selbst Tochter koreanische Einwanderer und großer Fan von Raymond Chandler, diesem Magier des Noir (siehe Kasten), der simple Krimiplots in große Literatur verwandelte. Und wie Raymond Chandlers Held Philip Marlowe watet auch Juniper Song unbeirrt durch den moralischen Sumpf, der diesen manchmal sehr unpassenden Namen „Los Angeles“ trägt.
L.A. aus der Sicht einer Frau
„Chandler ist das wichtigste Vorbild für mich als Autorin“, sagt Cha. „Ich liebe ihn über alles, seit ich im College Der große Schlaf und später alle seine Bücher gelesen habe. Für mich definiert er, wie man über Los Angeles, diese Stadt des hellen Sonnenscheins und der tiefen Schatten, schreiben kann und muss.“
Cha entschied sich schon früh, noch während ihres Jurastudiums, Schriftstellerin zu werden. Mit 22 hatte sie dann die Idee für ihre Figur Juniper Song. Zum einen wollte sie einen Roman schreiben, der sich mit Chandler messen kann – oder zumindest mit ihrem Vorbild in den Ring treten. Zum anderen war ihr sehr bewusst, dass seine Geschichten heute von vielen LeserInnen als altmodisch, misogyn und rassistisch empfunden werden. „Genau das machte es interessant für mich: Chandler in das L. A. von heute zu transportieren und dann auch noch aus der Sicht einer Frau mit Migrationshintergrund zu erzählen.“
Wie andere Frauen einer neuen Generation von Krimiautorinnen, darunter Sara Gran und Attica Locke, nimmt sie klassischen Noir und eignet ihn sich an, bricht mit der männlich definierten Tradition. „Natürlich ist das auch ein feministisches Statement“, sagt Cha. Los Angeles, hat Roman Polanski, der Regisseur des Neo-Noir-Klassikers Chinatown einmal gesagt, sei die schönste Stadt der Welt – wenn man sie bei Nacht und aus großer Entfernung betrachten würde. Steph Chas Brandsätze hingegen ist eine Nahaufnahme: „Los Angeles. Eigentlich das Ende der American Frontier, das Land in der Sonne, das verheißene Land. Hoffnung aller Einwanderer, Flüchtlinge, Pioniere“, heißt es im Roman. „Diese Stadt des Wohlgefallens, der Toleranz, des Fortschritts und der Nächstenliebe grenzte ihre Kinder aus, ließ sie verhungern, tötete sie. Kein Wunder, dass sie brodelte und bebte und kurz vor der Explosion stand.“
So düster, wie sie es hier beschreibt, sieht Cha L. A. nicht, letztlich sind alle ihre Werke Liebeserklärungen an ihre Stadt. Aufgewachsen ist sie im San Fernando Valley, eine gute halbe Autostunde von Central Los Angeles entfernt, wo sie heute zu Hause ist. Ihr Vater, ein erfolgreicher Anwalt, kam vor mehr als einem halben Jahrhundert in die USA, ihre Mutter wenig später. „Ich hatte eine sehr behütete Kindheit, ging auf eine Privatschule – und samstags auf Wunsch meiner Eltern auf eine koreanische Schule.“ Trotzdem entwickelte sie mit den Jahren ein großes Interesse an den unauflösbaren Widersprüchlichkeiten des Melting Pots: „Los Angeles“, sagt sie, „ist durchaus eine Stadt, in der sich Träume erfüllen und Menschen ein besseres Leben finden können.“ Aber sie ist auch ein Ort der extremen Gegensätze – die Stadt breche oft das Versprechen, das sie zu geben scheint.
Wie im März 1991. Steph Cha war fünf Jahre alt, als die koreanische Einwanderin Soon Ja Du in ihrem Lebensmittelgeschäft die 15-jährige schwarze Schülerin Latasha Harlins nach einer Auseinandersetzung in den Hinterkopf schoss. Ein Jahr später, als die Polizisten freigesprochen wurden, die den Schwarzen Rodney King vor laufenden Kameras misshandelt hatten, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen in Los Angeles. Bei Straßenschlachten und Plünderungen kamen mehr als 50 Menschen ums Leben. Auch Koreatown erwischte es, mehr als 1.000 von koreanischen EinwanderInnen geführte Geschäfte wurden abgefackelt. Ein Zusammenhang zum Fall Soon Ja Du, die kurz zuvor nicht wie erwartet wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags und lediglich zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, gilt als gesichert.
Werkzeug der Krise
Der Noir ist die Literatur der Krise: Er hat seine Wurzeln in der Zeit der Großen Depression, als im Gefolge von James M. Cain immer mehr Autoren Los Angeles als „entwurzelte städtische Hölle“ malten, wie Mike Davis in City of Quartz (1990)schreibt. Verhandelt wird das soziale und moralische Klima der Zeit.
Steph Cha sieht in Kriminalromanen „ein effektives Werkzeug, um Menschen für Geschichten über die Gesellschaft und was in ihr schiefläuft zu interessieren“. Für ihren2019 in den USA veröffentlichten Bestseller Your House Will Pay (dt. Titel Brandsätze, Juli 2020) gewann sie den Los Angeles Times Book Prize in der Kategorie Mystery/Thriller. Im Buch wird der Mord an einer schwarzen Schülerin rekonstruiert. Einen Großteil des Personals hat sich Cha ausgedacht, wie das ehemalige Gangmitglied Shawn, der sich nach einem mehrjährigen Gefängnisaufenthalt ein neues Leben aufgebaut hat, das in Gefahr gerät. Cha beschreibt ihn mit großem Einfühlungsvermögen und ohne falsche Sentimentalität. Steph Cha wuchs mit ihren Eltern und zwei jüngeren Brüdern im San Fernando Valley in Los Angeles auf. Sie besuchte die Harvard-Westlake School in Studio City, absolvierte die Stanford University, wo sie Anglistik und Ostasienwissenschaften studierte und erlangte an der Yale Law School den Juris Doctor-Abschluss. Auch ihr Vater, dessen Brüder und ihr Mann haben Jura studiert.
Im Jahr 2013 ist der erste Teil von Steph Chas Krimi-Trilogie mit der koreanisch-amerikanischen Detektivin Juniper Song erschienen, die bereits als junges Mädchen Chandlers Privatdetektiv Philip Marlowe zum Idol hatte. Die Bücher wurden bislang nicht ins Deutsche übersetzt.
Die fiktive Tochter der Täterin
„Ich war damals zu klein, um etwas davon mitzubekommen“, sagt Cha. „Aber als ich von dem Mord an Latasha erfahren habe, das muss so 2013 gewesen sein, war ich sofort wie gebannt. Weil es ein dunkles Kapitel aus der Geschichte meiner Stadt ist und natürlich weil die Täterin Koreanerin ist.“ Sie fing an zu recherchieren, fand unter anderem heraus, dass Soon Ja Du nach der Tat unter neuem Namen ins Valley gezogen war. „Es fühlte sich seltsam an, vielleicht bin ich ihr über den Weg gelaufen, in der Kirche oder auf dem Markt. Die koreanische Gemeinde im Valley ist bei Weitem nicht so groß wie in Koreatown.“
Cha hatte Gefühle von Schuld und Scham, und vielleicht ist der Roman auch ein Versuch, damit umzugehen. „Möglicherweise“, sagt sie, „aber für mich ging es um mehr. Ich wollte zeigen, wie Menschen mit tragischen Ereignissen aus der Vergangenheit umgehen. Es geht mir nicht explizit um Koreaner. Jeder Amerikaner, der sich ernsthaft Gedanken über die Geschichte seines Landes macht, zum Beispiel über den Genozid an den Ureinwohnern und die Sklaverei, muss sich schuldig fühlen.“ Deshalb war für Cha auch früh klar, dass sie diesen Roman nicht nur aus der „koreanischen“ Sicht schreiben wollte. „Das hätte dazu geführt, dass die LeserInnen zu viele Sympathien mit der Familie der Täterin entwickelt hätten.“ Und so erzählt sie die Ereignisse sowohl aus der Perspektive von Grace Park, der fiktiven Tochter Soon Ja Dus, als auch aus der Sicht von Shawn Wallace, dem ebenfalls erfundenen Bruder des Opfers Latasha, die im Buch Ava heißt.
Viereinhalb Jahre hat Cha für diesen Roman gebraucht, es ist ihr schwer gefallen, die Kapitel aus der Shawn-Perspektive zu schreiben. „Ich habe endlos recherchiert und dann fast genauso lange gebraucht, damit es nicht klingt wie recherchiert, sondern authentisch“, sagt sie. „Ich hatte Angst, es nicht richtig hinzubekommen und Shawn und seiner Familie nicht gerecht zu werden, aber diese Angst war letztlich produktiv.“ Deshalb habe sie auch nie befürchtet, wegen kultureller Aneignung an den Pranger gestellt zu werden wie zuletzt etwa Jeanine Cummins, die für ihren Roman American Dirt über das Schicksal mexikanischer Flüchtlinge heftige Kritik einstecken musste. „Ich bin davon überzeugt, dass AutorInnen Identitätslinien überschreiten dürfen, wenn sie es richtig machen. Vielleicht war das Problem mit Cummins, dass sie ihren Roman nicht für Mexikaner geschrieben hat.“
Der Ausgangspunkt von Brandsätze ist real, die im Jahr 2019 spielende Geschichte der Familien von Täterin und Opfer hat Cha komplett erfunden. Trotzdem wirkt sie jederzeit glaubwürdig, nicht nur wenn Cha von Grace erzählt, die lange nichts weiß von dem Mord, den ihre Mutter begangen hat, und die – ähnlich wie die Autorin selbst – extreme Schuldgefühle entwickelt.
Der Roman zeigt ein Los Angeles, in dem der soziale Frieden immerzu in Gefahr ist, gleichzeitig ist er eine Studie über Rassismus. Cha nimmt keine Schuldzuweisungen vor und sucht keine einfachen Lösungen. „Wie die meisten AmerikanerInnen mit asiatischen Wurzeln habe ich natürlich Erfahrungen mit Rassismus gemacht, wurde beschimpft und aufgefordert, zurück in meine Heimat zu gehen“, sagt sie. „Aber ich wurde nie körperlich angegriffen und musste keine Angst vor der Polizei haben. Für mich ist Rassismus keine alltägliche Erfahrung wie für viele Schwarze.“
Als sie die Geschichte 2014 begonnen hatte, war das unter dem Eindruck des Todes von Michael Brown, der in Ferguson, Missouri, von Polizisten getötet wurde, was zu landesweiten Protesten und Ausschreitungen führte. „In den darauffolgenden Jahren wurden immer wieder Schwarze von Cops getötet“, sagt sie. Wenn Leser sie heute darauf ansprächen, dass ihr Buch mit den Protesten wegen des Mordes an George Floyd eine neue Aktualität gewonnen hätte, antwortet sie, dass diese immer schon da war, nur die mediale Aufmerksamkeit nicht dagewesen sei. „Die Reaktionen machen mir Hoffnung, dass sich jetzt wirklich etwas ändert, die Proteste nachhaltig etwas bewegen. Zumindest die öffentliche Meinung zum Thema Rassismus wandelt sich gerade enorm.“
Doch sie macht sich auch Sorgen, die andauernde Coronakrise, die die USA besonders hart trifft, könnte vieles zum Schlechteren verändern. „Ich befürchte, dass die Dinge, die schon vor Corona in der Schieflage waren, weiter ins Rutschen kommen. Zig Millionen Menschen in den USA droht die Zwangsräumung, und das wird die Städte verändern, könnte zu Konflikten, Unruhen und Verbrechen führen. Denn die meisten Verbrechen sind das Resultat sozialer Verwerfungen und von Verzweiflung.“
Sind Krisenzeiten also gute Zeiten für KrimischriftstellerInnen? „Kriminalromane sind ein effektives Werkzeug, um Menschen für Geschichten über die Gesellschaft und was in ihr schiefläuft zu interessieren“, sagt Cha. „Weil sie sich wahrhaftiger anfühlen als andere Literatur. Wenn die Welt am düstersten ist, dann ist definitiv die Zeit für Noir gekommen.“
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