Schon am ersten Tag hatten sich graue Wolken über den stolzen Palmen an der Croisette zusammengezogen. Letztes Jahr hatte ein schwacher Wettbewerb am historischen Glanz und Glamour gekratzt. Cannes unter der künstlerischen Leitung von Thierry Fremaux, so unkte vor allem die amerikanische Presse, müsse nun ernsthaft um den Abstieg aus der ersten Festival-Liga zittern.
Diesmal standen die Zeichen auf Sturm. Denn die französischen "Intermittents" - Schauspieler, Bühnenarbeiter und Techniker aus Theater, Film und Fernsehen, die schon im vergangenen Jahr Widerstand gegen den Abbau ihres weltweit einzigartigen Sozialversicherungsmodells geleistet und zahlreiche Festivals lahmgelegt hatten, wollten sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit auf dem roten Teppich Gehör verschaffen. Erinnerungen an den Mai ´68 wurden wachgerufen, als das Festival von den Regisseuren bestreikt und schließlich abgebrochen werden musste. Es kam jedoch anders.
Die Sabotage-Wut der "Intermittents" wurde von der Festivalleitung diplomatisch ins festliche Protokoll integriert und auch in der Auswahl der Filme bewiesen Thierry Frémaux und Festival-Präsident Gilles Jacob Flexibilität. Der Wettbewerb wurde abgespeckt, die sonst oft übergewichtige Präsenz der französischen Werke auf drei beschränkt und verstärkt auf junge Regisseure und Überraschendes aus Asien gesetzt. Nicht zuletzt traute man sich, nach elf Jahren Durststrecke wieder einen deutschen Film, Hans Weingartners Die fetten Jahre sind vorbei einzuladen, ohne sich aus der ergrauten Ahnenreihe der üblichen Verdächtigen à la Wenders, Schlöndorff oder Herzog zu bedienen.
Aufbruchsstimmung in Cannes also? Gespannt sah man der Reaktion von Filmemachern aus aller Welt auf das weltweit von Krieg und Terrorismus angeheizte Klima entgegen. Die einen - wie Wong Kar-wai mit 2046 - suchten den Rückzug ins Innere von Häusern und Familien. Andere Regisseure dagegen trauten sich in die Außenwelt, um Gewalt und vor allem Rachegelüste zu beschwören - wie der stilistisch phantasievolle Koreaner Park Chan-wook in seinem Film Old Boy (ausgezeichnet mit dem Grand Prix), in dem er das Spiel mit Brutalität, Inzest und abgründiger Bosheit auf die Spitze griechischer Tragik treibt. Am angriffslustigsten aber zeigte sich der Dokumentarfilmer Michael Moore. Er kam, sah und siegte.
Der schwergewichtige Störenfried verkörpert den Widerstand gegen die neue (amerikanische) Weltordnung und konnte damit prompt die goldene Palme aus der Hand des Jury-Präsidenten Quentin Tarantino in Empfang nehmen. So kam auch sein Produzent, Cannes-Kritiker und Miramax-Boss Harvey Weinstein, in den Genuss, die Trophäe zu schwenken und die Adelung des lange missachteten Dokumentarfilmgenres zu besiegeln.
In seinem hitzigen Pamphlet Fahrenheit 9/11 bläst Moore zum Kreuzzug gegen die Politik seines Erzfeindes George W. Bush. Anders als bei seiner Attacke auf den amerikanischen Waffenwahn in Bowling for Columbine beschränkt sich Moore diesmal in seiner Selbstinszenierung als dreister Fragesteller und gibt den Opfern der Bush-Politik das Wort. Das Publikum in Cannes feierte ihn dafür mit endlosen Standing Ovations.
Moore wütet gegen die Mächtigen, die das terroristische Chaos seit der Attacke auf die Twin Towers zu politischen Zwecken nutzen und stellt seine politischen Gegner mit manipulativen Parallelmontagen an den Pranger. Am liebsten aber rückt er desillusionierte amerikanische Soldaten, irakische Frauen und die weinenden Familien der Hinterbliebenen ins Bild, um auch dem letzten Zuschauer und Wähler die Konsequenzen von Bushs Krieg gegen das Böse vor Augen zu führen.
Der Österreicher Hans Weingartner, der das deutsche Kino elf Jahre nach Wim Wenders End of Violence zurück in den Wettbewerb hievte, geht dagegen mit der Lust zum politischen Engagement subtiler um. In Die fetten Jahre sind vorbei dringen drei junge Idealisten aus Berlin in Villen der Reichen ein, um sie zu verunsichern. Poetischer Widerstand? Ihr gewaltloser Kampf gegen den Kapitalismus endet mit einer Entführung und dem Bröckeln ihrer Ideale - auch wenn Weingartner, beseelt vom Utopiehunger seiner drei "Erziehungsberechtigten", ein glückliches Ende aufzeigt. Der Regisseur findet eine gelungene Balance aus politischem Engagement, Gefühl, Theorie und Humor und konnte damit das Publikum erobern. Vom Großteil der französischen Kritiker wurde sein Film jedoch als zu naiv belächelt und bei der Preisverleihung ging er leer aus. Die Kritiker der Libération etwa hielten sich lieber an die spröde Studie Marseille von Angela Schanelec, die in der Nebenreihe Un certain regard gezeigt wurde.
Mit Pedro Almodóvars düsterem Melodram La mala educacion war das Festival auf einer beinahe symbolischen Note eröffnet worden. Die autobiographisch gefärbte Geschichte einer Jugendliebe in der Klosterschule dreht sich in raffiniert verschachtelten Erzählebenen voller Eifersucht und erstaunlich betulich gefilmter Leidenschaft um den von einem katholische Padre begangenen Kindesmissbrauch. Ein Trauma, das sich dramatisch auf das spätere Leben des Jungen auswirkt, der als Junkie endet. Die Moral? Schlechte Weichenstellungen in frühen Jahren können verheerende Folgen haben?
Denn neben den nach dem 11. September sich auffällig häufenden Racheszenarien, zu denen auch Kill Bill von Quentin Tarantino zu zählen wäre, sorgten sich viele der in Cannes versammelten Regisseure in kriegerisch bewegten Zeiten um die Möglichkeiten einer besseren Zukunft und stellten daher das Schicksal der Kinder ins Zentrum ihrer Geschichten: Der Japaner Kore-eda Hirokazu erzählt in Nobody knows neorealistisch und sensibel von vier Kindern, die nach dem unerklärlichen Verschwinden ihrer Mutter ganz auf sich gestellt sind und ihre eigenen Überlebensregeln lernen müssen. Ein verlassenes Kind spielt auch in Olivier Assayas´ Film Clean eine Hauptrolle. Nach der Überdosis ihres Mannes muss sich hier die junge Rockstarwitwe Emily (Maggie Cheung) selber vom Heroin befreien, um das Sorgerecht ihres Sohnes zurückzugewinnen, der sich in der Obhut des - beeindruckend von Nick Nolte gespielten - Großvaters befindet. Assayas porträtiert die Suche, die Einsamkeit, die Lebenslügen und den Kampf gegen die verschiedenen Formen von Abhängigkeit seiner Heldin. Wie von einer inneren Unruhe getrieben spielt Maggie Cheung in diesem erstaunlich unsentimentalen Melodram so beeindruckend realistisch, dass sie als beste Darstellerin des Festivals ausgezeichnet wurde.
Die Überraschungen des Festivals kamen aus Asien. So zeigt der Thailänder Apichatpong Weerasethakul in seinem experimentellen Tropical Malady die Liebesgeschichte eines Soldaten und Bauernsohnes in kontemplativen Einstellungen, bevor sich die Menschen im tropischen Dschungel dann in mysteriöse Fabelwesen verwandeln und der Regisseur seiner malerischen Phantasie freien Lauf lässt. Angesichts solcher ästhetischer Wagnisse enttäuschten einige der etablierten Autorenfilmer durch umweltschonendes Recycling der eigenen Ideen. Emir Kusturica erzählt vor dem Hintergrund des Bosnien-Krieges mit dem üblichen barocken Ideenrausch die Liebesgeschichte eines serbischen Eisenbahn-Ingenieurs - Fanfaren, Konfetti, Arschtritte und fliegende Betten. Walter Salles reist in Diarios de Motocicleta mit dem jungen Medizinstudenten Ernesto Guevara auf dem Motorrad von Argentinien bis nach Venezuela. Mit christlichem Glauben an das Gute zeigt Salles das langsam erwachende revolutionäre Potential des späteren Che, der als Herzensbrecher die Frauen zum Schmelzen und die Leprakranken zum Träumen bringt. Am Ende seiner etwas staubigen Helden-Revue mit Hauptdarsteller Gael Garcia Bernal liefert Salles nur ein weiteres Heiligenbild, das dem Che-Mythos ergeben dient, anstatt ihn zu bereichern oder zu brechen.
Wong Kar-wai hatte lange die höchsten Erwartungen geschürt. Seit Jahren wurde sein Science Fiction-Spektakel mit Maggie Cheung angekündigt und dann immer wieder verschoben. Der Regisseur schien für immer im Schneideraum verschollen. In Cannes zeigte er beinahe in letzter Minute sein provisorisch zusammengeschnittenes Opus 2046 und siehe da: es ähnelte seiner letzten melancholischen Liebesgeschichte In the mood for love. Diesmal verdreht nicht mehr Maggie Cheung ihrem von Tony Leung mit unnachahmlicher Eleganz gespielten Zimmernachbarn den Kopf, sondern die junge Zhang Ziyi. Er, der Schriftsteller, will in seinem Roman im Jahr 2046 den verlorenen Erinnerungen nachspüren. Dabei landet er aber in den von Wong Kar-wai so frenetisch beschworenen sechziger Jahren. Wieder sucht die Kamera und das Licht Christopher Doyles auf den Gesichtern und Körpern nach den lange aufgestauten Begierden und Gefühlen, wieder gibt es Zeitlupen und Gesten, wieder schaffen Opernarien und luxuriöse Seidenkleider einen unnachahmlichen Sog, eine zeitlose moodyness. Wong Kar-wai lässt sein Melodram in einem hochstilisierten Innenraum spielen, nur selten wagen sich seine unglücklich liebenden Helden zur Zigarettenpause auf das Hoteldach. Sein Held sieht die Zukunft voller androider weiblicher Kreaturen und die Vergangenheit mit sinnlichen Raubkatzenfrauen, aber in der Gegenwart wollen sie nicht heimisch werden. Der Regisseur scheint sich in der Endlosschleife seiner eigenen Ästhetik verbarrikadiert zu haben. Erstickend schön. Wong, Salles oder Kusturica - die Festivalveteranen gingen leer aus.
Zum Glück suchte Altmeister Jean-Luc Godard in Notre Musique zwischen privatem und öffentlichem Chaos der Gefühle zu schlichten. Inspiriert von Dantes Göttlicher Komödie liefert er ein Mosaik über die Hölle des Krieges, das Fegefeuer der Märtyrer in Sarajewo und anderswo, um schließlich seine Vision vom Paradies in den stärksten und klarsten Bildern des Festivals zu zeigen: Eine junge Frau findet den (inneren) Frieden an einem überirdisch schönen See, der von amerikanischen Marines bewacht wird. Das zerbrechliche und bedrohte Glück: in Cannes kam ihm ausgerechnet der ewige Misanthrop Godard am nächsten. Ein Hoffnungsschimmer.
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