Aus dem roten Feuerball schreiten die blonden Göttinnen. Sie tragen goldene Dessous und weiße Flügel. Von einer amerikanischen Unterwäschemarke waren Laetitia Casta, Gisèle Bündchen, Heidi Klum und andere Models für eine Benefiz-Gala mit der Concorde eingeflogen worden. Mit ihrem glamourösen Auftritt im Auftrag des blatternnarbigen Miramax-Tycoons Harvey Weinstein stahlen die Elfen der in Cannes versammelten Filmwelt die Schau. Sie stöckelten über den Laufsteg und ließen die Grenzen zwischen Film, Fernsehen, Musik, Mode und Showbusiness weiter verschwimmen.
Denn während im letzten Jahr in Cannes einfache realistische Geschichten mit der Goldenen Palme für Rosetta triumphierten, kehrten diesmal die alten Kinogenres des Kostümfilms und des Musicals als hybride Mischformen zurück. Dabei hatten auffällig viele Regisseure außerhalb ihrer Heimatländer gedreht. Global Players im Weltdorf, wo die nationalen Grenzen von den finanziellen Kreisläufen längst weggespült werden?
Diesen bunten Gemischtwarenladen des Wettbewerbs hatte Festivalchef Gilles Jacob möglichweise zum letzten Mal zusammengestellt. Sonst macht er aus seiner Vorliebe für zeitgenössische Stoffe keinen Hehl, aber diesmal konnte er der Flut an historischen Stoffen nicht ausweichen. So hatte er zwar das Festival mit Roland Joffés Vatel, einem Fresko vom Hof Ludwigs XIV., eröffnet, es aber mit einer braven Farce über den Aufstieg und Fall eines kanadischen Models in Stardom von Denys Arcand abgeschlossen. Und damit einen harmlosen Seitenhieb gelandet auf die Ausbreitung der Sponsoren wie L'Oréal, die ihre Schönheitsbotschafterinnen strategisch ins Blickfeld rücken. Obwohl der Jurypräsident Luc Besson die Amerikaner wieder mit Cannes versöhnen sollte, kamen auch diesmal keine großen amerikanischen Studiofilme in den Wettbewerb, sondern eher "unabhängige" Produktionen.
Zur Konfusionen mit der Wirklichkeit hatte Neil LaBute seine Nurse Betty ins Rennen geschickt: Die blonde und pausbäckige Kellnerin Betty lässt alles stehen und liegen, wenn der von ihr vergötterte Doktor Ravelle aus der Soapopera Love and Passion auftaucht. Als ihr Mann wegen seiner Drogengeschäfte im Wohnzimmer ermordet wird, weicht sie der Realität aus und fährt nach Los Angeles, um ihren Traumdoktor zu treffen. Neil La Bute spielt dabei ähnlich wie Weir in TrumanShow mit dem Realitätsverlust der Fernsehnation und Renée Zellwegger verkörpert diesen naiven Glauben an die Scheinwelt mit gnadenloser Konsequenz. Und obwohl im Film die Trennung zwischen Fernsehen und Alltag verschwimmt, soll das Ende wieder versöhnlich stimmen, zur Identifikation mit der leichtgläubigen Betty einladen. So sucht LaBute doch noch den kleinsten gemeinsamen Nenner der Kinozuschauer: die Fernsehfamilie. Er will sie streicheln. Auch wenn es der Köder eines kalten Vampirmediums bleibt.
Von den Coen-Brüdern wurde auf der Croisette der befreiende Witz erwartet. Aber ihre dünne Geschichte von drei ausgebrochenen Sträflingen in den dreißiger Jahren wird auch von Musicaleinlagen nicht getragen. Brother where art thou? sollte eine moderne "Odyssee" am Mississipi werden und nebenbei die verstockten Südstaatler und ihren Rassismus auf die Schippe nehmen, aber auf der Strecke bleibt eine blasse Nummernrevue, in der sich die Figuren bloß um die Narrenkappe streiten. So treten die Coens auf der Stelle.
Exemplarisch für die Mischung aus klassischen Stoffen und modernen Formen war Olivier Assayas, der bisher auf zeitgenössische, fiebrige Autorenfilme spezialisiert zu sein schien. Anders als seine jungen französischen Kollegen Arnaud Desplechin mit Esther Kahn oder Patricia Mazuy mit Saint-Cyr stellte er in Cannes seinen Kostümfilm Lesdestinées sentimentales als modernes Beziehungsdrama vor. So konzentrierte er die Familiensaga des Romanciers Jacques Chardonne einer protestantischen Cognac-Dynastie auf ein intensives Kammerspiel, das sich vom Anfang des Jahrhunderts bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs erstreckt. Dort spielt Charles Berling den unglücklich verheirateten Pfarrer Jean Barnery, der sich in seine wilde Cousine Pauline (Emmanuelle Béart) verliebt und mit ihr aus der drückenden Atmosphäre seiner rigiden Umgebung an einen Schweizer See flieht. - Bis ihn die gesellschaftlichen Verpflichtungen wieder zurückrufen, um die elterliche Porzellanfabrik zu retten. Assayas arbeitet mit großen Ellipsen, um die dreissigjährige Beziehung zwischen Jean und Pauline vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen und der zweiten industriellen Revolution zu fokussieren. Er zeigt mit Hilfe des Lichts und der Natur, wie sich die Verliebtheit fern von allen Zwängen zu einem gemeinsamen Kampf um die Beziehung wandelt; Emmanuelle Béart lässt ihre Pauline leuchten, spielt sie mit einer zurückhaltenden Sinnlichkeit gegenüber einem Charles Berling, der auf der symbolischen Suche nach dem reinen Porzellan ist und mit einer intellektuelleren Sicht die abrupten Richtungswechsel seines Lebens verstehen will. Assayas filmt daher die Porzellanherstellung mit einer dokumentarischen Genauigkeit; als wolle er in seiner Duo-Saga der Geheimformel der Liebe auf die Spur kommen. Als sei Assayas selber von dem Wunder überrascht: wie zwei Menschen sich trotz harter Schicksalsschläge in einer reifenden Beziehung durchs Leben tragen können.
Der schwedische Regisseur Roy Andersson lieferte mit Lieder vom zweiten Stock eine apokalyptische Sicht auf die (schwedische) Gesellschaft in der sich bleichgesichtige Figuren - als seien sie von Otto Dix gemalt - durch eine grünliche Phantomstadt bewegen, die von Verkehrsstaus lahmgelegt wird. Vom Zauberer, dessen Trick blutig endet, Managern, die ihren Porsche schieben oder einem alten Paar, das keine Zeit für den Sex findet, lebt Anderssons lakonischer Galgenhumor der täglichen Erniedrigungen. Er punktiert jede Szene, bis sich die absurde Komik erschöpft. Wenn seine Hauptfigur Karl mit der Asche seiner abgebrannten Firma durch das Chaos läuft, kommentiert der Regisseur nur trocken "Wir schwimmen in einer Suppe von absurden Werten und Traditionen", und beruft sich auf die Bergpredigt, aber von Nächstenliebe ist in seinem Film keine Spur. Die Unschuld in Gestalt eines weißgekleideteten Mädchens lässt Andersson ins Bodenlose fallen. Auch wenn am Ende jeder sein Kreuz abwirft und im graublauen Niemandsland auf einer Müllhalde entsorgt, bleibt eine ratlose Stille zurück.
Auch Michael Haneke will auf moralische Dilemmas und die täglichen Feigheiten hinweisen. In seinem neuen Film nach dem Tiefschlag der Funny Games machte er sich diesmal unter den Fittichen des französischen Produzenten Marin Karmitz auf die Suche nach dem Code Inconnu ("UnbekannterCode") unserer Zivilcourage.
Nur ein Stück Papier in der Hand einer rumänischen Bettlerin verbindet in Paris anfangs Hanekes Figuren, deren Alltag er mit seinen Fragmenten einfangen will: eine von Juliette Binoche gespielte Schauspielerin und ihr Freund, ein Kriegsfotograf, eine malinesische Familie und eine rumänische Bettlerin.
Was mit der Zeichensprache von taubstummen Kindern beginnt, ist wieder eine Suche nach dem Leerlauf der Kommunikation, eine Studie über die öffentliche und private Gewalt und fragt danach, ob die Realität überhaupt angemessen wiedergegeben werden kann.
Haneke verfolgt die Schicksale seiner Figuren, aber sein sezierender Blick scheint sich im multikulturellen Paris besänftigt zu haben; So entstehen mit Juliette Binoche Szenen, die dem starren didaktischen Rahmen sprengen: Wenn sie von einem perversen Regisseur in die Enge getrieben wird, weil sie ihr "wahres Gesicht" zeigen soll; Wenn sie in der Métro belästigt wird, sich im Supermarkt mit ihrem Freund streitet, oder wenn sie beim Bügeln vorm Fernseher die Schreie aus der Nachbarwohnung am liebsten überhören würde - werden die täglichen Feigheiten und Grenzsituationen deutlich, die gewaltsam explodieren können. Aber zum ersten Mal schleicht sich eine menschliche Wärme in Hanekes Labor: Da darf dann Juliette Binoche sogar ihrem sturen Freund an den Hals springen. Ohne daraus unbedingt etwas zu lernen!
Pavel Loungine wollte mit seiner Hochzeit dagegen das Chaos im heutigen Russland aus dem Bauch heraus porträtieren: Auf einer wodkaseligen Feier treffen sich alle seine ländlichen Helden - der Apparatschik, der neureiche Städter, der debil-unschuldige Bräutigam, die berechnende, schöne Braut - als habe sich seit Tschechows Kirschgarten-Zeiten an den Verhältnissen der russischen Provinz nichts geändert; als würde die Politik nur als ferne Pflanze im verfilzten Moskau vegetieren. Sie dürfen sich besaufen, Ohrringe klauen, Blumen essen, alte Lieder schmettern, herzerweichend Liebe feiern und vergewaltigen, aber Loungine scheint so von der natürlichen Wucht seiner Darsteller mitgerissen zu sein, dass er ihnen jeden Exzess und jede Dummheit verzeiht: Im Namen des Volkes scheint er nach seinen kritischen Filmen über das Russland nach der Perestroika wie TaxiBlues oder Luna Park zur einer Michalkow-nahen Eloge der ewigen russischen Seele zurückgekehrt zu sein: Loungines Handkamera wirbelt virtuos hautnah um die Körper herum und setzt die erstaunliche Energie der Schauspieler frei: Die Jury ehrte sie mit einer besonderen Erwähnung. Aber nach Loungines rauschendem Fest bleibt eine Katerstimmung zurück.
Das chinesische Wunderkind Wong Kar-wai ist nach den frenetischen Reisen von Chungking Express, Fallen Angels und HappyTogether wieder zur melancholischen Ruhe seiner Anfänge zurückgekehrt. So wirkt In themoodfor love wie eine Fortsetzung von Days ofBeing wild; in dem schon Tony Leung und Maggie Cheung ein kompliziertes Paar spielten. Jetzt lernen sie sich als Nachbarn im Hong Kong der 60er Jahre kennen und merken, dass sie von ihren Ehepartnern betrogen werden. Sie arbeitet als Sekretärin, er ist Journalist einer lokalen Zeitung, und ganz langsam wächst ihre Anziehung bei gemeinsamen Essen und durch versteckte Zeichen. Mit symbolischen Spielen halten sie sich auf Distanz, und Wong filmt ihre Rituale mit immer wiederkehrenden spanischen Musikstücken als ein melancholisches Geheimnis, das keine Bilder vom Ehebruch liefert. Seine Kamera gleitet an den hochgeschlossenen Seidenkleidern der Maggie Cheung herunter, um dem Spiel ihrer Finger zuzusehen oder den Rauch ihrer Zigarette einzufangen. Oder sie filmt die lässige Eleganz, die geheimnisvolle Trauer auf dem Gesicht Tony Leungs (der dafür als bester Darsteller ausgezeichnet wurde), denn Wong will ihre unmögliche Liebe über die Körpersprache und das Licht erzählen. Darin zeigt er sich - bis in die hypnotischen Zeitlupenaufnahmen beim Treppensteigen, den Wegen der Verliebten - noch radikaler als Assayas als Stilist der Gefühle. Sein Film beginnt als dokumentarische Bestandsaufnahme und endet in den alten Steinen eines kambodschanischen Tempels, in der Tony Leung das Geheimnis seiner Liebe ablegt. So führt Wong die Gefühle in eine endlose Schleife. Der sich niemand entziehen kann.
Am Ende des Festivals aber waren die Grazien vom Laufsteg vergessen, weil ihnen ein hässliches Entchen mit Stupsnase und Kassenbrille ihnen am Fliessband die Schau gestohlen hatte: Björk als tschechoslowakische Einwanderin Selma in Lars von Triers Dancer in the Dark. Zwei Jahre nach seinem Dogmatischen Siegeszug, dem Fest der Idioten hatte der Däne sein Keuschheitsgelübde gebrochen und lag mit seinem Spagat zwischen realistischem Dogma-Dokument, Musical und Melodram ganz im diesjährigen Cannes-Trend von Stilbrüchen und Mischformen. Während Joel Coen sich mit seinem Südstaaten-Musical Oh Brother where art thou? in eine Nummernreveue verrannte, Olivier Assayas mit seinen Destinées sentimentales ein Kostümepos zum modernes Beziehungskammerspiel konzentrierte, und Wong Kar-wei sein hypnotisch melancholisches Melodram In themoodfor love eine verhinderten Liebe feierte. Bei Lars von Trier liefen dagegen solche Genre-Fäden spielerisch und gewitzt zusammen. Wie eine Videoinstallation, ein klassisches Melodram und eine nervös geschnittene Dogma-Übung.
Seine Heldin Selma (Björk) lebt in einer kleinen Hütte in der amerikanischen Provinz und arbeitet in der nahegelegenen Fabrik, wo sie mit ihrer mütterlichen Kollegin Cathy (Catherine Deneuve) die Sehnsucht nach amerikanischen Musicals teilt. Aber sie erblindet. Unaufhaltsam. Um ihrem Sohn durch eine kostspieligen Operation vor einem ähnlichen Schicksal zu schützen, sammelt sie ihre Ersparnisse in einer kleinen Keksdose. Als das Geld eines Tages verschwunden ist, nimmt das Melodram seinen Lauf, und das moralische Dilemma bricht auf. Von Trier schickt seine Heldin wie schon Emily Watson in Breaking the Waves auf eine Gratwanderung zwischen dem Glauben an das Gute und dem Scheitern an der Realität.
Wieder verkörpert Björk die kindliche Unschuld mit einer rohen Wucht und einem sturem Willen zum Glück, die in Cannes den Zuschauern die Tränen in die Augen trieben. Sie wirkt völlig ungeschützt und zerbrechlich. Aber wenn der Druck der gesellschaftlichen Realität zu groß wird, flieht sie ins Reich der Musik: Dann beginnen die Arbeiter oder ein ganzes Gericht zu tanzen - zum Rhythmus von Metallpressen oder Güterzügen. In diesen Musikeinlagen liefert von Trier mit den zerstückelten Bildern seiner zahlreichen Videokameras im ausweglosen Sturz seiner verzweifelten Heldin einige unbeschreibliche Glücksmomente: Er verweigert sich einer zuckrigen Hollywood-Tradition und lässt seine Tänzer lieber mit der Zahnbürste als mit der Federboa wedeln. In der sich überschlagenden oder flüsternden Stimme der isländischen Sirene von Violent behappy berühren sich extreme Freude und Trauer schmerzhaft: diese wilde Einsamkeit trägt Björk als Schauspielerin und Sängerin durch den Film. Bis sie sich - zu Unrecht ? - in einer Zelle wiederfindet und vergeblich nach den inneren Tönen sucht, die sie wieder zum Träumen bringen könnten. Auf seiner Reise durch die eigenen inneren Widersprüche zwischen Realität und Phantasie landet von Trier schließlich bei der Angst vorm Sterben: Wenn für Selma Bild und Ton ausfallen, kann das Kino im Kopf nicht weiterleben. Aber Dancer in the dark endet trotzdem nicht ausweglos. Er schärft den Blick, wühlt auf. Als Björk ihren Darstellerpreis dann schüchtern ans Sternchenkleid drückte, sollte sie nach den zerstrittenen Dreharbeiten doch noch "violent happy" sein. Die Fee strahlte. Der Zauberer von Trier stand linkisch mit seine goldenen Palme daneben. Wie im Märchen. So versprach er dann doch noch Erlösung. Denn wenn sie nicht gestorben sind ...
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