Linke Bastion Lido

Liebe zum einfachen Menschen Die 57. Filmfestspiele in Venedig versuchten sich in Opposition zu Berlusconi, zeigten aber viel Mittelmaß aus aller Welt

Die Stimmung war gereizt. Von der Linken wurde der schmale Lido zur Insel der Aufrichtigen erklärt. Denn dem neuen Ministerpräsidenten und Mogul des italienischen Privatfernsehens Silvio Berlusconi ist der linke Biennale-Chef Alberto Barbera mit seinem sozialen Engagement ein Dorn im Auge. Und so wagte sich diesmal kein Minister der neuen Regierung auf das staatlich subventionierte Filmfest.

Als Kampfansage an die Bilderwelt Berlusconis hatte Barbera Nanni Moretti zum Jury-Präsidenten erkoren, einen parallelen Wettbewerb geschaffen, Eric Rohmer einen Ehrenlöwen verliehen und vor allem mit einer Film-Retrospektive des französischen Situationisten und Systemkritikers Guy Debord einen Seitenhieb auf die ausufernde »Gesellschaft des Spektakels« gelandet.

Auch an der Front der Globalisierungsgegner war die Lust am Licht ungebrochen: Nicole Kidman überstrahlte als Hollywood-Star gleich mit zwei Filmen das Festival. Als katholischer Zombie hält sie in Alejandro Amenábars »gothic« Thriller The Others ihre beiden lichtallergischen Kinder von der Außenwelt fern; als gewitzte russische Heiratsschwindlerin treibt sie in Jez Butterworths Komödie Birthday Girl einen weltfernen britischen Junggesellen zum Bankraub. Ob erstickend oder bestrickend: Kidman beherrschte den Lido - bis Johnny Depp mit Schlapphut als Bohemien auftauchte. Im Abschlussfilm From Hell der Hughes-Brüder Albert und Allen macht er Jagd auf Jack the Ripper und raucht sich dann mit Opium ins Jenseits. Trotz des politisierten Festival-Klimas zog daraus jedoch niemand fatalistische Schlüsse.

Ganz im Sinne der linken Bastion von Venedig zeigte Ken Loach in Navigators die Auswirkungen der Eisenbahn-Privatisierung mit düsterem Ende, ohne allerdings den Ton zu treffen, der seine Sozialdramen My name is Joe oder Raining Stones so unwiderstehlich komisch und tragisch zugleich machte.

Geheimnisvoller brachte da Philippe Garrel die Kontraste von Idealismus und Realität ins Spiel. In Sauvage Innocence (Preis der Internationalen Filmkritik) versucht ein junger Regisseur nach dem Tod seiner an einer Überdosis gestorbenen Frau einen Anti-Drogen-Film zu drehen. Aber der junge Regisseur (gespielt vom französischen Schriftsteller Medhi Belaj Kacem) verliebt sich unweigerlich in seine Hauptdarstellerin, die in den Drehpausen Heroin schnupft. Lethargisch klammert er sich ans Drehbuch, während er nach und nach die Kontrolle und dann auch seine Freundin verliert. Ohnmacht als Bestandsaufnahme?

Er macht schon beim Küssen Halt und redet lieber drüber: Woody Allen amüsiert sich auch ohne Bettgeschichte in seinem letzten Opus The Curse of the Jade Scorpion köstlich. Zurück in der Epoche seiner geliebten Vierziger spielt er einen Versicherungsdetektiv, der unter Hypnose zum Juwelenräuber mutiert. Seiner kratzbürstigen Kollegin (Helen Hunt à la Katharine Hepburn) macht er den Hof, den Reizen der vampigen Industriellentochter (Charlize Theron gibt Lauren Bacall) zeigt er die kalte Schulter. Am Ende schwebt er hypnotisiert und verliebt von dannen. Wieder eine Flucht in die Fiktion - folgt böses Erwachen? Kein Meilenstein im Lebenswerk, aber die ungebrochene Lust auf kindische Spielereien scheint jung zu halten.

Mit Spannung wurde die Rückkehr Werner Herzogs zur Fiktion erwartet. In Invincible erzählt er die Geschichte vom starken jüdischen Schmied Zishe Breitbart, der aus der polnischen Provinz ins Berlin der dreißiger Jahre kommt und dort von Magier Hanussen als neuer Siegfried vermarktet wird, sich dann aber an seine jüdische Herkunft erinnert und mit Samson identifiziert. Den Wettstreit zwischen geistiger und körperlicher Stärke inszeniert Herzog als Nummernrevue in Hanussens Kabarett. Für den aufkommenden Faschismus findet er bloß naive Bilder, der politische Rahmen scheint ihn kaum zu interessieren. Herzog konzentriert sich ganz auf die gewitzte Figur Hanussens, auf deren Verwandlungskünste und Machtgelüste, die Tim Roth mit megalomanischem Ehrgeiz verkörpert. Er zeigt, wie sich hinter den Masken des Magiers eine verzweifelte Flucht vor der eigenen Identität verbirgt. Hanussen paktiert mit den Nazis während der bauernschlaue Breitbart sich zum Widerstand entschließt. Scheitern werden sie beide.

Mehr Diskussionen als Invincible löste allerdings der Film Hundstage (Großer Preis der Jury) des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl aus. Bereits über Seidls frühere Spiel-Dokumentarfilme Tierische Liebe und Models waren heiße Kontroversen ausgebrochen. In den von Supermärkten und Reihenhäusern beherrschten Wiener Vororten lässt er verschiedene Figuren in sommerlicher Hitze agieren: Da schwatzt eine Geistesgestörte beim Trampen gnadenlos ehrlich auf ihre Fahrer ein, rattert Werbephrasen und Rang-Listen aus den Medien herunter, bis sie aus dem Auto geworfen wird. Ein kontrollfanatischer Rentner lässt am 50. Hochzeitstag die Haushälterin für sich strippen, kann aber nur seinen Hund streicheln. Eine Lehrerin wird von ihrem jüngeren Liebhaber gedemütigt. Eine verliebte junge Dorfschönheit muss sich nach dem Sex von ihrem eifersüchtigen Freund beschimpfen lassen. Ein vom Tod ihres Kindes traumatisiertes Paar spricht nicht mehr miteinander: Sie besucht Sexorgien und lädt sich Liebhaber ein, während er mit wachsender Wut durchs Haus schleicht. Aber Seidl will die täglichen Demütigungen, Erniedrigungen und Feigheiten so systematisch vorführen, dass er seinen Figuren wenig Momente der Freiheit gönnt, sie nicht vor- sondern bloßstellt. Mit drastischen Szenen will er provozieren, aber mit österreichischem Selbsthass und in der Rolle des »politischen« Aufklärers im Land der Spießer bleibt ihm nur Effekthascherei. In Hundstage wird viel und schlecht gesungen, weil Seidls Figuren die Worte und Gefühle fehlen. Lieblos, regungslos liegen sie in der Sonne. Und tauen nie auf. Aber was steckt dahinter: kalte Wut oder kühles Kalkül?

Mehr oder weniger liebevolle Alltagseinblicke gab es einige im Programm von Venedig, Meisterwerke wurden jedoch vermisst. Walter Salles verrannte sich mit seinem Epos Abril Despedacado in zuviel Gefühl. Die Geschichte einer Blutrache in den brasilianischen »Badlands« zu Anfang des Jahrhunderts entfaltet er in Bildern voller Sinnlichkeit. Aber trotz der spannenden zugrundeliegenden Idee eines brasilianischen Spät-Westerns verliebt sich Salles zu sehr in seine symbolischen Szenen und verliert die Figuren aus dem Blick. So droht touristisches Kunstgewerbe.

Mit leichterem Gepäck schickt Alfonso Cuaron in Y tu maman tambien (Deine Mutter auch) zwei mexikanische Jugendfreunde im Auto quer durch Mexiko. Irgendwie wollen sie zum Meer, aber im Grunde vor allem unterwegs die ältere Cousine (Maribel Verdu) aus Spanien verführen. Während sie sich den erwünschten Sex schon mal auf der Zunge zergehen lassen, ziehen draußen Splitter der mexikanischen Realität vorbei: Militärkontrollen etwa. Oder eine Erzählerstimme unterbricht die Handlung, um (geschichtliche) Hintergründe aufzudecken. So wird ganz beiläufig die Dreiecksgeschichte zwischen den beiden Muttersöhnchen aus unterschiedlichen Milieus und der spanischen Ausländerin zur sexuellen Initiationsreise im erwachsenwerdenden Mexiko.

Eine sanfte Umerziehung betreibt Babak Payami in Geheime Wahl für seine Heimat Iran und gewann damit verdient den Spezialpreis der Jury: Auf einer einsamen Insel wird eine weiße Kiste abgeworfen. Während sich die lethargischen Wachsoldaten noch wundern, taucht eine selbstbewusste verschleierte Frau auf, die mit der Kiste die Stimmen der Bewohner für eine Wahl einsammeln will. Sie trifft auf die unterschiedlichsten Einstellungen und Widerstände. Langsam schmilzt die Skepsis der Männer gegenüber der mutigen und dickköpfigen Demokratie-Botin. Der in Kanada ausgebildete Payami macht daraus kein trockenes Sozialdokument, sondern einen witzigen Streifzug durch die traditionellen Mentalitäten auf dem steinigen Weg von Mitbestimmung und Liberalisierung. Allerdings konnte nach Der Kreis im vergangenen Jahr nicht schon wieder ein iranischer Film gewinnen. So wirkte der goldene Löwe für Monsoon Wedding von Mira Nair wie eine diplomatische Entscheidung. Denn die flach inszenierte Geschichte einer riesigen indischen Hochzeit mit einer Mischung aus viel Tanz und Gesang und einer oberflächlichen Anspielung auf Kindesmissbrauch soll ganz gezielt Türen zum Westen öffnen. So hat die Jury unter Nanni Moretti den kalten österreichischen Blick und die indische Folklore gewürdigt. Aber es hat auch die beiden Hauptdarsteller des bewegendsten italienischen Wettbewerbsfilms, Das Licht meiner Augen, über die schwierige Liebe eines Chauffeurs zu einer herben und verschlossenen Verkäuferin ausgezeichnet. Nicht gerade ein politischer Film, gab der Regisseur Giuseppe Piccione zu, aber vielleicht sei es in Berlusconis Zeiten besonders wichtig, unspektakulären Themen zu folgen und den Alltag der »einfachen« Menschen liebevoll im Blick zu behalten.

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