Was darunter liegt

DIE 57. FILMFESTSPIELE IN VENEDIG In vielen Filmen rangiert der gute Wille vor dem Anliegen der Kunst

Auch dieses Jahr führte nur ein Weg zum Lido: über das Wasser der venezianischen Lagune, das sich je nach Wetter grün oder braun färben und sein wankelmütiges Temperament zeigen kann. Während letztes Jahr viele Filme die Grenzen des Intimen ausloteten, den Körper ins Zentrum stellten und dabei oft im - umstrittenen - Reich der Sinne landeten, schien der Wettbewerb dieses Mal vor lauter gutem sozialen Engagement zu strotzen. Einen ganzen Katalog von gesellschaftlich wichtigen Fragen zu Faschismus, Mafia, Terrorismus, Immigration, Unterdrückung, Rassismus, Homosexualität hatte Festival-Chef Alberto Barbera in seinem Programm zusammengestellt. Und hatte außer Michelle Pfeiffer, Richard Gere, Claudia Schiffer und Sharon Stone kaum Glamourgäste in den weißen Filmpalast geladen, als wolle er dem Ruf der Architekturbiennale am gegenüberliegenden Ufer folgen: Less esthetics, more ethics.

Clint Eastwood und seine Space Cowboys eröffneten das Festival lässig und heldenhaft. Dann konnten engagierte Filme wie Liam von Stephen Frears über den aufkommenden Faschismus im Liverpool der dreißiger Jahre oder Sally Potters The Man who cried über die operettenhafte Odyssee einer von Christina Ricci gespielten russischen Jüdin das Feld übernehmen, ohne emotional zu berühren. Zählt der gute Wille oder die Kunst der Erzählung?

Ausgerechnet der Meister der bissigen Sozialsatire stellte sich als Streichelbär heraus: Robert Altman lässt in Dr. T and the women Richard Gere einen überlasteten Gynäkologen spielen, in dessen Wartezimmer sich die bonbonfarbene weibliche Klientel aus der neureichen Oberklasse ungeduldig drängelt. Dr. T ist reich, glücklich verheiratet, verehrt und begehrt, aber hinter den sanften Knopfaugen Richard Geres wächst die Unruhe vor dem Sturm: Zwar kann er die Frauen mit professioneller Zurückhaltung untersuchen, aber ihren intimen Geheimnissen nie auf die Spur kommen. Da er es allen Recht machen will, versteht er plötzlich die Welt der weiblichen Psyche nicht mehr und wird zum Spielball.

Altman zeigt die vielen blondierten Frauen aus der Umgebung des sanften Doktors als schrille Karikaturen, die texanischen Soap-Operas entstammen könnten. Während die Luxusweibchen sich beim Shopping vergnügen, gehen die Männer in aberwitzigen Tarnanzügen Enten schießen: So skizziert Altman die lächerlichen Selbstdarstellungen, ohne wirklich an der Fassade zu kratzen. Wenn Dr. T's Ehefrau Kate (Farah Fawcett) plötzlich unter dem Hestia-Syndrom leidend kindisch wird, seine unabhängige Geliebte (Helen Hunt) ihn sitzen lässt und sich die Hochzeit seiner Tochter in Luft auflöst, sucht Altman den Tornado zu entfachen. Sein mildes Alterswerk löst aber bloß einen Sturm im Wasserglas aus.

Wie man die Wurzeln einer Gesellschaftsschicht virtuos mit feinen Schnitten freilegt, zeigte dann der französische Altman, Claude Chabrol. In Merci pour le chocolat lösen sich die Rituale und Gewissheiten eines von Isabelle Huppert und Jacques Dutronc gespielten Schweizer Bürgerpaares langsam auf, als es erfährt, dass ihr Kind auf der Geburtsstation mit einem anderen verwechselt wurde. Isabelle Huppert wirft als gelangweilte Chefin einer Schokoladenfabrik ihre intriganten Netze aus, während ihr Mann in seinem Klavierspiel den Sinn für die Realität verliert - ihr zerbrechliches Ehe-Arrangement wird zu einem gruseligen Spiel der Abhängigkeiten.

Auch Woody Allen stellt die Unzufriedenheit eines alten Paares in den Vordergrund. Small Time Crooks beginnt so turbulent wie schon seit Jahren nicht mehr: Das Paar Woody Allen und Tracy Ullman findet einen unwiderstehlichen Rhythmus im ehelichen Schlagabtausch. Kleinganove Ray hält sich - nicht ohne Ironie - für das »Hirn« und tüftelt mit seinen tumben Freunden einen Plan aus, um ans schnelle Geld zu kommen. Im Keller eines gemieteten Lokals graben sie einen Tunnel zum Banksafe, während oben seine Frau - zur Tarnung - Selbstgebackenes verkauft. Obwohl der Banküberfall missglückt, werden Ray und Frenchy zu Millionären. Und suchen als blutige Kunstbanausen die Anerkennung der New Yorker Highsociety. Nach der anfänglich rasanten Screwball-Comedy steuert Allen in ruhigere Gewässer und spielt ironisch mit dem Mythos einer »typisch« amerikanischen Erfolgsgeschichte. Dabei erinnert Tracy Ullman an eine ehrgeizige Diva im Stil von Ivana Trump. Allens Durchschnittsamerikaner Ray dagegen steigt schnell aus dem Rausch des sozialen Aufstiegs aus und will lieber vor dem Fernseher Bier trinken, als im Museum oder in der Oper Interesse zu heucheln. Das ungleiche Paar lebt sich auseinander und findet sich doch wieder - arm aber glücklich. Mit diesem Wunder feiert Allen am Ende seiner sanften Konsum- und Sozialkritik seinen romantischen Traum von dauerhaften Gefühlen.

Von zerbrechlichen schwulen Beziehungen und einer selbstzerstörerischen Leidenschaft erzählt der Franzose Barbet Schroeder in seinem kolumbianischen Film Our Lady of the assassins: Ein älterer Schriftsteller verliebt sich in einen mordenden Straßenjungen. In einer Atmosphäre voller Chaos, Hass und Gewalt suchen beide in der Kirche Zuflucht. Obwohl mit hoher Auflösung und großer Tiefenschärfe gefilmt, verschwimmen Schroeder die Konturen. So werden die sinnlosen Blutbäder durch die Sicht des verliebten Helden oft als Operettengewalt verharmlost.

Vielschichtiger skizziert der Maler Julian Schnabel in seinem Film Before Night Falls das Leben des unterdrückten schwulen kubanischen Schriftstellers Reinaldo Arenas. Wie in einer Collage lässt er Archivaufnahmen von Castros flammenden Revolutions-Reden auf die Schikanen an Andersdenkenden prallen. Und zeigt, wie ein totalitäres Regime sich in Schauprozessen gegen die subversive Wirkung von freiem Sex und Poesie zu wehren versucht. Javier Bardem spielt den Drang des Schriftstellers nach Freiheit verletzlich-kraftvoll und wurde dafür in Venedig als bester Darsteller geehrt. Schnabel zeichnet wie schon in seinem ersten Film Basquiat das Scheitern eines Künstlers an der (kommunistischen) Gesellschaft. Anfangs findet der farbenfrohe und experimentierfreudig fotografierte Film eine poetische Balance zwischen Leiden und Lebenslust. Als Arenas nach New York exiliert und dort an Aids stirbt, beginnt Schnabel dagegen, im Pathos zu schwelgen. Für das Porträt seines rebellischen Idealisten und Genussmenschen bekam Schnabel den Großen Preis der Jury, die dieses Jahr von Milos Forman präsidiert wurde.

Um sich von gutgemeinten, aber schematischen Melodramen wie A man who cried von Sally Potter zu erholen, konnten die Festivalbesucher in die Mitternachtsvorstellungen der Reihe Träume und Visionen flüchten, sich vom eleganten Thriller What lies beneath von Robert Zemeckis überlisten und erschrecken oder von der aberwitzigen Verfolgungsjagd in Tsui Harks Time and Tide mitreißen lassen.

In dieser Traum-Reihe und nicht im Wettbewerb lief auch Tom Tykwers Der Krieger und die Kaiserin. Tykwer hatte vor zwei Jahren seine Lola von Venedig aus erfolgreich ins Rennen um die Welt geschickt. Wieder sind seine Figuren auf der Flucht, wollen diesmal eher vor sich selber und ihrer Vergangenheit wegrennen. Sie sind nur selten außer Atem, das Tempo hat sich verlangsamt. Tykwers psychologische Liebesgeschichte zwischen dem desillusionierten Bodo (Benno Führmann) und der feenhaften Krankenschwester Sissi (Franka Potente) ist zugleich ein elegantes, ehrgeiziges und verzwicktes modernes Märchen, ein Heimatfilm aus Wuppertal. Seine ins Kino verliebten Einstellungen amüsierten in Venedig das italienische Publikum.

Wie so viele Festivalfilme beginnt auch Freedom im Wasser: Der litauische Regisseur Sharunas Bartas lässt zwei Männer und eine Frau nach einem missglückten Drogenhandel in der marokkanischen Wüste stranden. Sie suchen nach Nahrung und Wasser. Daraus entwickelt Bartas in langen unbewegten Einstellungen ohne Worte eine archaische Reise zu den Ursprüngen, zur existenziellen Einsamkeit. Sein Film fragt nach Nächstenliebe und Solidarität in einer lebensbedrohlichen Lage. Seine Metaphern bleiben verschlüsselt, unversöhnlich. Sie sprechen vom verlorenen Paradies, von der Vergänglichkeit. Der Mann hat die Frau zurückgestoßen und stirbt allein am Strand, bevor er das Meer erreichen kann. Dann übernehmen die Geräusche der Natur wieder die Tonspur.

Zu Recht ging der Goldene Löwe nach Asien, das als innovativer Kinokontinent auf den großen internationalen Festivals immer wichtiger wird: Der Iraner Jafir Panahi startet in Dayereh/Der Kreis wie in Schnitzlers Reigen einen Stafettenlauf, bei dem die Kamera von einer Figuren zur nächsten gleitet. Anders als Abbas Kiarostami, der für seine Filme Kinder und männliche Hauptfiguren wählt, wagt sich Kiarostamis früherer Assistent Panahi an die - wegen der Zensur oft - verborgenen Geschichten: die der iranischen Frauen.

Mit Blick für die kleinen Details zeigt er realistisch und exemplarisch den Kampf von acht iranischen Frauen gegen die täglichen Diskriminierungen in einer islamischen Männergesellschaft. Obwohl der Film streckenweise wie ein didaktischer Katalog der Erniedrigungen wirkt, schaffen sich die Darstellerinnen auch in der bedrückenden Atmosphäre einer ständigen Überwachung in einzelnen Situationen ihre innere Freiheit. Wenn eine Prostituierte von der Polizei angehalten und ins Gefängnis gefahren wird, raucht sie schweigend und setzt sich über die Verbote der Männer hinweg, als habe sie nichts mehr zu verlieren. Im Gefängnis wird sie dann auf alle Frauen treffen, die der Film streckenweise begleitet hatte. Ein Soldat schließt das Guckloch ihrer Zelle, und eine schwere Eisentür fällt ins Schloss: So schließt sich der klaustrophobische Kreis. Trotzdem scheint Panahi die Hoffnungen auf Reformen in seinem Land nicht zu begraben. Er feiert die weibliche Zivilcourage als Waffe gegen verkrustete Vorurteile und Verbote.

Als eine ähnlich starre Macho-Welt zeigt Tony Gatlif in Vengo die von Flamenco-Musik begleitete Blutrache unter spanischen Zigeunern in Sevilla. So endete das diesjährige Festival des Sozialen mit Vengo zwar tragisch und blutig, suchte aber einen Ausweg aus dem Kreislauf der Gewalt und wollte wie viele andere gutgemeinte Filme auch zum Umdenken anregen.

Möglicherweise aber gab es dieses Jahr noch ein ganz anderes, ästhetisches Leitmotiv. Schon die schöne Schwimmerin aus dem gezeichneten Trailer des Festivals war symbolisch: Wenn sie ins Wasser taucht, wird sie zur Meerjungfrau im hypnotischen Fluss der Kinobilder und Erinnerungen. Der Tod James Deans, das Begehren der Greta Garbo, die Verzweiflung von Ingrid Bergman, die Angst von Vivian Leigh unter der Dusche Hitchcocks ziehen an ihr vorbei. Solche Reisen ins Reich des Unbewussten bot Venedig diesmal vor allem albtraumartig. Denn viele Filme hatten ganz unterschiedlich mit dem Wasser und dem darin Verborgenen gespielt. What lies beneath? Die Gewissheiten und Identitäten kamen ins Fliessen. Bei amerikanischen Pragmatikern wie Allen und Altman kann ein Rohr- oder Wolkenbruch der Geschichte eine neue Richtung geben. Bei Zemeckis taucht Michelle Pfeiffer in der Badewanne zurück in die verdrängten Erinnerungen. Bei Tykwer, Schnabel oder Bartas wird das Meer zum Symbol der Freiheit und zur unüberwindlichen Grenze. Dann aber endete der Sieger-Film in einer kargen Zelle. Von Wasser keine Spur. Das Festival hatte endlich festen Boden unter den Füssen. Und die launige Lagune wahrte ihr Geheimnis.

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