Neoliberale Politiker kritisieren neuerdings gern das sogenannte "Tarifkartell" der Gewerkschaften. Union und FDP fordern eine Abschaffung der Flächentarifverträge. Kanzler Schröder hat bei Vorstellung seiner "Agenda 2010"-Pläne von den Gewerkschaften Zugeständnisse gefordert, auf freiwilliger Basis die Tarifverträge weitgehend für betriebliche Regelungen zu öffnen. Die Beschäftigten zeigten bei bundesweiten Protestaktionen deutlich ihre Wut. Mehr als 11.000 demonstrierten etwa in Köln, Bochum und Herne, 6.000 im Saarlouiser Ford-Werk, 25.000 in Wolfsburg oder 3.500 VW-Arbeiter in Salzgitter. Die Angriffe richten sich auf Flächentarifvertäge, die für viele Arbeitnehmer Mindestbedingungen festlegen. Neben dem Gehalt zählen Sonderzahlungen wie Urlaubsgeld oder der Urlaubsanspruch dazu.
Folgt man Hilde Wagner von der IG-Metall in einem Sammelband zu Problemen des Flächentarifvertrags, sind in der Metall- und Elektroindustrie in Westdeutschland 63 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden. Diese relative Stabilität, so Wagner, zeigt, dass es "auch unter schwierigen Vorzeichen immer noch gelingt, gleiche Konkurrenzbedingungen für die Unternehmen und die Beschäftigten zu definieren und damit Wettbewerb untereinander zu begrenzen". Allerdings ist die Wirkungskraft der Flächentarifverträge in den zurückliegenden Jahren geringer geworden. Dies hat mehrere Gründe.
Da sind zum einen die von den Gewerkschaften vereinbarten Öffnungsklauseln, die Regelungen über Unternehmer und Betriebsräte auf betrieblicher Ebene ermöglichen. In den Tarifverträgen von über 80 Wirtschaftszweigen und Tarifbereichen für rund 15 Millionen Beschäftigte finden sich nach Angaben des WSI-Institutes der Böckler-Stiftung Hunderte von Öffnungsklauseln. Sie beziehen sich auf Löhne und Gehälter, Arbeitszeitdauer und -verteilung, Urlaubs- und Weihnachtsgeld und andere tarifliche Vorschriften. Die bestehenden Regelungen werden breit angewendet: 35 Prozent der Betriebsräte gaben in der WSI-Betriebsrätebefragung 2002 an, dass die tariflichen Öffnungsklauseln betrieblich genutzt werden. Die Entwicklung zur Verbetrieblichung der Tarifpolitik sehen - entgegen den von der CDU suggerierten Verhältnissen - Betriebsräte eher skeptisch. Knapp 38 Prozent der Befragten beurteilen diese Entwicklung "zwiespältig", und 42 Prozent halten es für "generell problematisch", weil dieser Trend zu einer noch stärkeren Belastung des Betriebsrats führt und eine wirkungsvolle Einflussnahme oft kaum noch möglich ist.
Ein weiterer Grund für die nachlassende Bindung der Flächentarifverträge in den Betrieben, sind aber auch die tiefgreifenden Umwälzungsprozesse in der Arbeitsorganisation. Managementstrategien heute zielen meist auf Dezentralisierung ab und nutzen "schlanke Produktionsmethoden". Dies hat dazu geführt, dass weniger Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen direkt angestellt werden. Viele Unternehmen nehmen nur noch ihre Kernaufgaben selbst war, während sie Nebenaufgaben an Dritte vergeben. Das führt zu einer großen Zahl von Zulieferern und Unterauftragsnehmern. Die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse wirkt sich verschlechternd auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten aus. Befristete Verträge, Teilzeitarbeit, Leiharbeit und scheinselbstständige Tätigkeit sowie "Heimarbeit und ihre besondere Ausprägung, die Telearbeit" bringen für alle Beschäftigten Nachteile, wenn sich die Bezahlung an den schlechtbezahlten Randbelegschaften orientiert.
Die Unternehmen orientierten sich im vergangenen Jahrzehnt immer stärker an den Kapital- und Finanzmärkten. Nach dem Shareholder-Value-Prinzip sorgen unternehmensinterne Kontroll- und Steuerungssysteme dafür, die Finanzverhältnisse in den Unternehmen transparent machen. Die Renditevorgaben werden enorm gesteigert. Die Unternehmen richten sich stärker an den Absatzmärkten aus. Dadurch werden die Beschäftigten direkter mit den Zwängen des Marktes in Form konfrontiert: Die Konkurrenzbeziehungen werden verstärkt direkt in die Unternehmen hereingeholt. Beschäftigte sollen "Unternehmer im Unternehmen" sein, Steuerung erfolgt indirekt durch Benchmarks und Kennziffern. Die Unternehmen versuchen, die erhöhten Gewinnrisiken durch eine Variabilisierung bisher fixer Kosten abzufangen. Oberste Priorität haben dabei die Personalkosten und damit das Einkommen der Beschäftigten. Das Ergebnis: Leistungsdruck und Gesundheitsgefährdungen steigen enorm. Arbeitszeitregelungen von Tarifverträgen werden nicht eingehalten, die Bezahlung - durch Öffnungsklauseln - verstärkt vom "unternehmerischen Erfolg" abhängig.
Aber auch innerhalb der IG Metall wird seit der letzten Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie über die "Erneuerung des Flächentarifvertrages" (Wagner) diskutiert. Betriebsräte und Vertrauensleute großer Automobilkonzerne fordern, in der Tarifpolitik zukünftig stärker zwischen ertragsstarken und ertragsschwachen Betrieben zu differenzieren soll. Der Sammelband zeigt jedoch, welche Folgen diese "zweistufige Tarifpolitik" haben wird: in einigen Großbetrieben werden möglicherweise höhere Tarifabschlüsse vereinbart als in den anderen Betrieben. Die Mitarbeiter in kleineren Betrieben werden dann von der Einkommensentwicklung der Branche abgekoppelt. Bereits die Tariföffnungsklauseln benachteiligen Beschäftigte in diesen Unternehmen. Für die IG Metall besteht deshalb die Gefahr, weite Teile der Arbeiterschaft durch die eigene Tarifpolitik zu spalten. Eine Gefahr für die Arbeits- und Lebensbedingungen sind also nicht nur mit den Bestrebungen von CDU, FDP und Unternehmerverbänden verbunden.
Hilde Wagner / Armin Schild (Hrsg.): Der Flächentarif unter Druck. Die Folgen von Verbetrieblichung und Vermarktlichung, VSA, Hamburg 2003, 246 S., 17,80 EUR
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