Durch die Straßen Ost-Jerusalems geisterte zu Weihnachten ein Gerücht: Gemeinsam planen die Regierungen in Ramallah und West-Jerusalem, die palästinensischen Parlamentswahlen am 25. Januar zu verhindern. Wie alle Verschwörungstheorien schien auch diese plausibel. Denn die ungleichen Partner Mahmud Abbas und Ariel Sharon verband die Furcht vor einem Erfolg der Islamischen Widerstandbewegung Hamas. Der umstrittene Status Jerusalems sollte dazu herhalten, ihren Wahlerfolg in letzter Minute zu verhindern: In Israels unteilbarer Hauptstadt wollte die israelische Regierung keine Palästinenser wählen lassen. Die Antwort der palästinensischen Autonomieregierung schien zwingend: Ohne Wahlen in Ost-Jerusalem - Hauptstadt des künftigen Staates Palästina -
- würde es überhaupt keine Wahlen geben. Die Verschwörung, wenn es je eine gegeben hatte, war vollends obsolet, als es klare Worte aus Washington gab. In Ost-Jerusalem darf nun doch gewählt werden. Zwar sind auch die USA kein Freund der Hamas, wohl aber von Wahlen. Ihr ambitioniertes Reformprojekt in der Region, das den Kräften des Dschihad das Wasser abgraben soll, braucht Erfolge. Dafür ist das kleine, aber an Symbolik so reiche Palästina gut genug.Hinter der Furcht vor einem Wahlerfolg der Hamas verbergen sich allerdings Interessen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Unter der Führung von Ariel Sharon hat Israel entschieden, dass Frieden mit den Palästinensern nicht möglich sei. Hamas wolle keinen Frieden, sondern ein islamisches Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer. Mahmud Abbas hingegen wolle vielleicht Frieden, aber sei zu schwach, um für die Sicherheit zu sorgen, die Voraussetzung für Frieden sei. Israel müsse darum unilateral für seine Sicherheit sorgen: die Westbank zerstückeln, die Lücken in der Sperranlage schließen, das abgetrennte Land in Besitz nehmen, den geräumten Gazastreifen sich selbst und seinem Elend überlassen.Was aber, wenn der Trend anhält, der Hamas unterwegs zum Wahlsieg sieht? Je näher das Votum rückt, um so größer wird der Stimmenanteil, der ihr vorausgesagt wird. So selbstsicher sind die palästinensischen Nationalreligiösen, dass sie sogar die Verbannung ihrer Kandidaten aus Ost-Jerusalem hinnehmen. Für den Fall, dass sie in letzter Minute doch noch daran gehindert werden, an der Wahlurne die Ernte des Befreiungskampfes und der effizienten Sozialarbeit einzufahren, werden sie wohl die Waffen wiederaufnehmen.Eine neue Rolle als loyale Kraft in der Opposition oder gar als Partner in einer Koalition der nationalen Einheit hingegen könnte die Hamas-Führung zwingen, Farbe zu bekennen. Sie hat bereits bewiesen, dass sie ihren "bewaffneten Arm" disziplinieren kann. Das mit der Autonomiebehörde vereinbarte Stillhalteabkommen wurde in den eigenen Reihen durchgesetzt. Vieles deutet überdies darauf hin, dass Hamas den bewaffneten Kampf einstellen will, wenn Israel Verhandlungen über einen souveränen Staat Palästina mit der "Grünen Linie" als Grenze nicht länger im Wege steht. Von der Zerstörung Israels und der Errichtung eines Staates Palästina auf dem gesamten Territorium westlich des Jordan ist im Hamas-Wahlprogramm jedenfalls nicht mehr die Rede. Wenn das erneuerte politische System der Palästinenser, zu dem im Übrigen noch die Unabhängigen als dritte Kraft gehören, das staatliche Gewaltmonopol wieder herstellt und Verhandlungen über eine tragfähige Zwei-Staaten-Lösung verlangt - könnte Israels Regierung das verweigern?Wer wollte eine Antwort wagen? Wer weiß heute, mit welcher Regierung es die Palästinenser zu tun haben werden? Und wer kennt das Erbe, das Sharons amtierender Nachfolger erklärtermaßen antreten will, falls er die Wahlen in Israel am 28. März gewinnt? Was Sharon wollte, weiß nur Sharon selbst. Man kann ihn nicht fragen - aber man kann die Logik hinter seiner Politik rekonstruieren. Lange bevor er im März 2001 Regierungschef wurde, hatte der Ex-General einen Plan mit Landkarte entworfen, wonach Israel Gebiete entlang der "Grünen Linie", das Jordan-Tal sowie mehrere Korridore dazwischen annektieren würde, in denen jahrzehntelang der Siedlungsbau forciert wurde. Im Gegenzug wollte man die dicht bevölkerten palästinensischen Gebiete den Palästinensern überlassen, die auf diese Weise kein zusammenhängendes Staatsgebiet erhielten, sondern Enklaven, umgeben und kontrolliert von Israels Siedlern und Soldaten.Ob Sharon als Ministerpräsident an dieser Planung festhielt, ist nicht bekannt. Sollte er sie nicht ad acta gelegt haben, ließe sich der Abzug aus dem Gazastreifen als ein erster Schritt deuten, einen zerstückelten und schwachen palästinensischen Staat an der Seite eines starken israelischen Staates zu platzieren, der vom Mittelmeer bis zum Jordan reicht. In einem solchen Szenario wäre eine palästinensische Führung, die sich mit Hilfe einer politikfähigen Hamas als seriöser Verhandlungspartner präsentiert, ein Störfaktor.Angesichts des augenblicklichen Formhochs von Hamas sind die Besorgnisse der regierenden Fatah gewaltig. Ihr droht der Verlust von Macht und Pfründen. Daraus lassen sich unterschiedliche Konsequenzen ziehen. Die Reformkräfte der Fatah wollen trotzdem das Risiko der Wahlen eingehen, um die alte Nationalbewegung an Haupt und Gliedern zu kurieren. Sie sind nicht vollauf identisch mit der viel zitierten junge Garde, die auch schon in die Jahre gekommen ist. Mahmud Abbas gehört zur Gründergeneration und hielt doch lange an Wahlen fest, weil er keinen anderen Weg sah, die Legitimität seiner Führung zu erneuern. Andererseits sind Angehörige der mittleren Generation wie Mohammed Dahlan, der Minister für zivile Angelegenheiten, den Israel und die USA gern als Hoffnungsträger sehen, offenbar tief verstrickt in die Machenschaften, die für das derzeitige Chaos im Gazastreifen verantwortlich sind. Die Entführungen, Erpressungen, Besetzungen öffentlicher Gebäude, Schießereien und dergleichen mehr gehen auf das Konto bewaffneter Gruppen, die mit den Sicherheitskräften und folglich mit der Fatah liiert sind.Volkes Stimme glaubt zu wissen, warum man die Banden gewähren lässt. Anarchie ist ein guter Vorwand, um die Wahlen abzusagen. Hat es Recht? Unter den Waffen schwingenden jungen Männern sind sicher auch welche, denen es nach fünf Jahren Intifada schwer fällt, auf das Prestige und Einkommen des Befreiungskämpfers zu verzichten, ohne einen Job in Aussicht zu haben. Wie der Politologe Fawaz Abu Sita kürzlich bemerkte, könne man den Anführer einer Al-Aqsa-Brigade nicht wieder zum Gemüsejungen machen. Kann man nicht? Knüpft sich an die palästinensischen Wahlen nicht auch die Erwartung, den Konflikt zu zivilisieren? Dazu freilich muss es lokale Märkte geben, die funktionieren, Arbeitsplätze zu Hause und vorerst noch im Nachbarland, sichere Straßen, eine leistungsfähige Infrastruktur, ein vertrauenswürdiges Rechtssystem. Geht das überhaupt unter einer Besatzung? Sicher ist, dass es nicht geht, wenn weiter geschossen und gebombt wird. Hamas wird benötigt, damit das Schreckensszenario eines palästinensischen Gemeinwesens, in dem sich die Grenze zwischen Befreiungskampf und gewöhnlicher Kriminalität zusehends verwischt, nicht zur unausweichlichen Realität wird. Hamas wird gebraucht, aber nicht ante portas, sondern pro domo.Der palästinensische Nationalrat (seit 1996)Gesamtzahl der Mandate88Fatah (Harakat al-Tahrar al Filistini / Liberation Movement of Palestine55Unabhängige Fatah7Unabhängige Islamische Front4Christen Palästinas3Unabhängige Abgeordnete15Andere4
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