Autorität und Charakter

Macht in Zeiten der Krise In Ausnahmesituationen wird der Ruf nach politischer Härte traditionell lauter. Meist stammt er von denen, die sie vor allem auf andere angewendet wissen wollen.

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Ins Erstaunliche, so sehr es auch überrascht, vermag nicht selten noch Erstaunlicheres zu dringen. Und oft erweist sich dieses noch Erstaunlichere im Nachhinein auch nur als neue Konstellation, als neue Spielweise des Immerselben.
Bewohner anderer Länder, wie etwa Spanien, dürfen aktuell ihre Landkreise nicht mehr verlassen. Zugleich reisen Deutsche quer durch ihr Land, um am anderen Ende mal wieder ganz sie selbst zu sein, um die gute alte Sau herauszulassen. Woher kommt mir eine solche Konstellation noch gleich bekannt vor?

Mehren sich in Ihrem Bekanntenkreis eigentlich auch die Personen, die freudig und erleichtert von anstehenden Mexikoreisen berichten? Dort soll noch (oder wieder) einiges möglich sein, hörte ich jemanden sagen. Als ich fragte, ob er seine Entscheidungen immer davon abhängig mache, ob etwas erlaubt sei oder bestraft werde, verwies er auf das autoritäre Regime, das einem keine andere Wahl lasse, und fragte, ob ich auch schon dazugehöre.
Dass ich das gar nicht kann, weil es ein solches nicht gibt, habe ich zwar deutlich zu verstehen gegeben, von seinem vermeintlichen Freiheitstripp war aber zumindest dieser Zeitgenosse nicht mehr abzubringen. Die staatliche Drohkulisse ist für ihn nicht nur zu harmlos und undämonisch, um sie noch ernst zu nehmen, sie trifft für ihn auch immer die falschen und ist vor allem nicht imstande, ihn von irgendetwas abzuhalten.

Generationen von Soziologen haben sich am autoritären Charakter abgearbeitet, der nur dann sich fügt, wenn eine autoritäre Instanz ihm düstere Strafen prophezeit und zugleich in Aussicht stellt, dass für ihn Mindere noch härter bestraft werden. Am besten für ihre bloße Existenz. Die jetzige Staatsgewalt wird in den Augen vieler Pandemieleugner von einem Staat ausgeübt, der angesichts seiner abwägenden, vorsichtigen Haltung für sie nur schwach sein kann. Manch Machtloser wünscht sich eine andere, eine härtere Machtausübung, beispielsweise indem man die Bevölkerung völlig ihrem Schicksal überlässt, wenn dafür nur das sogenannte normale Leben wieder beginne.
Natürlich muss nicht erwähnt werden, dass Denkmuster dieser Art die notwendige Voraussetzungen für Faschismus sind. Andererseits scheint das manchmal gar nicht mehr so selbstverständlich.

Die jetzige Situation ist eine weitere Demonstration dessen, was geschieht, wenn Gesellschaften unter Druck geraten. Natürlich ist dieser Druck nichts Neues. Gingen Denker um die Jahrtausendwende noch von einem Ende der Geschichte und politisch windstillen Zeiten aus, finden wir uns seit der Finanzkrise 2008 praktisch alle fünf Jahre in einer solchen Krise wieder. Die Gründe? Ungezügelte Finanzmärkte, ein weitgehendes Überlassen von Krisengebieten in ihrem Schicksal. Was die westliche Zivilisation als ferne Bedrohung wähnte, holt sie immer mehr ein.
Das Klima wird uns seine Wucht erst noch spüren lassen, die nächsten Pandemien brüten bereits in den Laboren der Tropenwälder, an die der Mensch dummerweise immer näher heranrückt.

Die große Aufgabe der Zukunft wird nicht sein, Krisen bloß zu verhindern. Es gilt auch, die Schuld an ihnen nicht Machtlosen zuzuschreiben, sie überhaupt besser ins Bewusstsein zu integrieren. Oder schlicht: mit ihnen zu leben, ohne mit Härte gegen Schwächere zu reagieren.

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Geschrieben von

Marius Hulpe

Autor und Spaziergänger

Marius Hulpe

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