Reiche sind netter

Cannes Die Hoffnung auf mehr Gleichberechtigung bleibt bei den 72. Filmfestspielen weiter unerfüllt
Ausgabe 22/2019
Mati Diops „Atlantiques“ bekam den Grand Prix – und hätte mehr verdient
Mati Diops „Atlantiques“ bekam den Grand Prix – und hätte mehr verdient

Foto: Alberto Pizzoli/AFP/Getty Images

Eine der treffendsten Metaphern für die sehr spezielle Atmosphäre des Filmfestivals in Cannes ist die Titanic: Der Kahn sinkt, während das Orchester weiterspielt. Man muss sich die Musiker in schwarzen Anzügen, weißen Hemden und Fliege vorstellen. Und selbstverständlich als Männer. Das trifft das Bild dann ziemlich gut. Denn auch wenn es eigentlich nichts Öderes gibt, als dieses Auszählen von Filmen nach Hautfarben, Geschlechtern und Nationalitäten, ragt am Ende der 72. Ausgabe des nach eigenem Empfinden wichtigsten Filmfestivals der Welt eine Zahl weiter heraus: Die Goldene Palme wurde erst einmal an eine Frau vergeben, und das ist 25 Jahre her.

Nicht dass irgendetwas zu sagen wäre gegen den diesjährigen Preisträger, den Koreaner Bong Joon-Ho und seinen Film Parasite. Die Sozialsatire, die im Tempo einer Screwball-Komödie daherkommt, war ein Festival-Highlight. Bong setzt Arm und Reich in Form von zwei Kleinfamilien gegeneinander an: Die Armen nisten sich mogelnd als Nachhilfelehrer, Kunstherapeutin, Chauffeur und Haushälterin bei den Reichen ein. Was eine neue Ordnung sein könnte, endet unweigerlich im Chaos. Das Herausragende an Parasite ist weniger die Originalität der Inszenierung als die Präzision, mit der Bong Charakter und soziale Umstände als Bedingtheiten vorführt. Sie sei doch sehr nett, sagt an einer Stelle der Chauffeur über seine reiche Chefin. „Wenn ich Geld hätte, wäre ich auch nett!“, hält ihm seine Frau entgegen.

Nein, das Problem ist nicht, dass Parasite kein guter Film wäre, sondern dass sich die Jury so offensichtlich nicht dazu durchringen konnte, statt dessen einen guten Film von einer Frau zu nehmen. Davon gab es vier im diesjährigen Wettbewerb. Drei wurden sogar mit Preisen bedacht: Mati Diops zwischen Flüchtlingsdrama, Geister-Story und Coming-of-Age in Senegal flottierender Atlantiques bekam den Grand Prix, quasi die Silbermedaille. Jessica Hausners bestechend kühler Horror-Sci-fi Little Joe wurde mittels der Auszeichnung für Hauptdarstellerin Emily Beecham geehrt. Und Céline Sciammas kluge Auseinandersetzung mit weiblicher Repräsentation und weiblichem Blick in Form eines sinnlichen und disziplinierten Historiendramas, Portrait d’un jeune fille en feu, erhielt den Drehbuchpreis.

Das reicht doch, meint man aus den Reihen derer zu hören, die das ständige Argumentieren entlang von Identitätsmarkern auch leid sind. Und es würde vielleicht auch reichen, wenn das Festival in seiner Selbst-Inszenierung mehr Wert auf Gleichberechtigung legen würde. „Hier wird Kino noch als Kino gefeiert“, das hat sich Cannes auf die Fahnen geschrieben, zumal seit die „Invasion der Barbaren“ in Form von Streamingdiensten droht. Die „Zivilisation“, die hier verteidigt wird, sieht dann so aus: Männer eher verhüllt in Anzügen mit Fliege, Frauen eher entblößt in Abendroben und High Heels, das ist Vorschrift bei den Galas. Während in den Sälen Sylvester Stallone, Alain Delon und Nicolas Winding Refn zu ihren Karrieren befragt werden, versuchen draußen junge Frauen wie schon vor 50 Jahren durch nackte Brüste auf sich aufmerksam zu machen. Als eine Journalistin bei Tarantino nachfragt, ob er nicht Margot Robbie als Sharon Tate in seinem Once Upon a Time in Hollywood eine größere Rolle hätte geben sollen, gibt er beleidigt zurück: „I reject your hypothesis!“ Das wäre ja noch schöner, wenn man noch nicht mal mehr auf nostalgische Weise dem in der Filmindustrie so tief verwurzelten Seximsus frönen dürfte!

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