Ende Juni/Anfang Juli kam die Entwicklung in zwei Ereignissen zusammen: Auf dem Theaterfestival in Avignon feierte Der schwarze Mönch, die neue Inszenierung des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikow Premiere, während zurück in Moskau Serebrennikows Theater, das Gogol Center, geschlossen wurde. Auf seinem Telegram-Kanal postete der Regisseur gleich nach dem Hinweis auf den triumphalen Empfang in Avignon ein Vide
anal postete der Regisseur gleich nach dem Hinweis auf den triumphalen Empfang in Avignon ein Video davon, wie das Schild des Gogol Centers abmontiert wurde. Es war die treffende Illustration zum russischen Theater am Scheideweg.Vor zehn Jahren (in einer weit, weit entfernten Galaxie ...) hatte Kirill Serebrennikow mit einer Gruppe seiner ehemaligen Studenten eine neue Spielstätte übernommen, die davor einem unrentablen, altmodischen Staatstheater, dem Gogol-Theater, gehört hatte. So entstand das Gogol Center. Es war ein großzügiges Geschenk des Moskauer Kulturministeriums – das sich später als trojanisches Pferd erwies: aus der Ecke derer, die sich damals in ihren Interessen und ihrem Stolz gekränkt sahen, kam es zu anonymen Anschuldigungen, die dann während des Strafprozesses, der 2017 begann, ins Spiel gebracht wurden. Sie sollten die Hauptanklage bekräftigen, Serebrennikow, einer der richtungsweisendsten Regisseure seiner Zeit und Schöpfer zahlreicher preisgekrönter Produktionen, habe Haushaltszuschüsse veruntreut.„Aus künstlerischer Sicht ist es Mord“Zwei Jahre verbrachte Serebrennikow unter Hausarrest. Seine Entlassung erfolgte mit der Auflage, keine Führungspositionen in staatlichen Einrichtungen mehr zu übernehmen. Sein Nachfolger als Leiter des Gogol Centers, Aleksei Agranowitsch, behielt sowohl das Team als auch die kulturelle Linie seines Vorgängers bei. Im Dezember 2021 brachte Serebrennikow als Gastregisseur das Stück Decamerone nach Moskau, eine Koproduktion mit dem Deutschen Theater, in der Regine Zimmermann an der Seite von Schauspielern des Gogol Centers die Hauptrolle spielte. Es wurde Serebrennikows Abschiedsarbeit von der russischen Bühne. Danach inszenierte Agranowitsch noch zwei Produktionen nach Vorlagen russischer Dichter aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie waren mit poetischen Zeilen betitelt, sehr sprechenden Zeilen: Bei diesem Krieg mache ich nicht mit und Bewahrt eure Gesichter. Das war natürlich nicht das, was sich das Kulturministerium nach dem 24. Februar 2022 wünschte, und Agranowitsch wurde ebenfalls entlassen (offiziell lief sein Vertrag aus und wurde nicht verlängert).„Ja, das Gogol Center wird geschlossen. Das war’s ... Sie machen ein lebendiges Theater zu. Mit einem immer vollen Haus. Mit einem wunderbaren Publikum. Mit einem einzigartigen Repertoire. Ein Theater von internationalem Renommee. Ein Theater für das Volk. Sie können es, es ist das Recht der Gründer. Aber aus künstlerischer Sicht ist es nicht nur Sabotage – es ist Mord. Ein weiterer Mord“, schrieb Serebrennikow in seinem Telegram-Kanal am 29. Juni.Zur letzten Vorstellung im Gogol Center am 30. Juni kamen Hunderte von Zuschauern – bis in den Gang wurden extra Stühle aufgestellt. Die Aufführung des schwarzen Mönchs in Avignon verfolgten die meisten russischen Kritiker und Fans online; einige neu Emigrierte aber schafften es, persönlich vor Ort zu sein.„Ihr seid das wahre Russland“So postete die renommierte Theaterkritikerin Marina Dawydowa, die im März aus Russland fliehen musste, nachdem sie sich gegen den Krieg ausgesprochen hatte, auf Facebook ein Foto mit dem russischen Regisseur Dmitry Krymov (seit Februar 2022 in den USA) und dem Schauspieler Anatoly Bely (ehemals am Moskauer Kunsttheater): eine zufällige Begegnung in der Festivalmenge. „Freunde, ihr seid jetzt das wahre Russland“, kommentierte ein Follower auf Facebook. Das mag ein bisschen pathetisch klingen, beschreibt aber sehr gut, was die Menschen fühlen.Im Lager der Emigranten herrscht jedoch keineswegs Einigkeit. Viktor Vilisov, der „zornige junge Mann“ der russischen Theaterkritik (selbst ein queerer Anarchist), stellte in einem Artikel für die New Times fest, dass das Ende des Gogol Centers nur folgerichtig sei. Die Schlüsselfiguren der Moskauer Theatergemeinschaft beschuldigt er, völlig in die Staatskultur von Hackordnung und Missbrauch eingebunden zu sein, die in allen Institutionen (und Mentalitäten) des postsowjetischen Raums regiere. „Ich bin sicher, dass es in den verbliebenen demokratischen Medien nicht an Reue und an Formulierungen wie ‚finaler Angriff auf die besten Vertreter der russischen Kultur‘ mangeln wird,“ schrieb Vilisov am 21. Juli auf seiner Facebook-Seite. „Aber ich möchte einwenden, dass es auch Menschen und Kunstgemeinschaften in Russland gibt, die keine große Differenz zwischen Putins Regime, dem Gogol Center und dem gesamten russischen Theatersystem, wie es vor dem Krieg war, erkennen können. Das Theater und das politische System in Russland sind von ein und derselben strukturellen Gewalt und Hackordnung geprägt, sind fremden- und frauenfeindlich, arbeiten mit Lügen und Auslassungen, mit Ungleichheit und toxischer Atmosphäre“.Diese Worte leiten über zur alten Frage von Klaus Manns Mephisto, die für die russische Theaterszene nun neue Aktualität erfährt: Wie weit kann ein Künstler mit der Macht zusammenarbeiten, ohne Verrat am eigenen Werk zu begehen? Was etwa hat die Bekanntschaft mit Wladislaw Surkow, dem mächtigen Kreml-Ideologen der 2000er Jahre, Kirill Serebrennikow eingebracht, als er Surkows Roman 2007 im Moskauer Kunsttheater inszenierte? Wie wird es mit Konstantin Bogomolow weitergehen, dem Trickbetrüger und Zyniker, der mit Xenia Sobtschak verheiratet ist und als durchaus begabter Regisseur das Malaya-Bronnaya-Theater leitet, die „Heimat“ der neureichen Elite rund um die Patriarchenteiche? Was wird aus Jewgeni Mironow, dem künstlerischen Leiter des Theaters der Nationen, eines anderen noblen Hauses in Moskau, an dem schon Robert Wilson, Thomas Ostermeier und Robert Lepage inszeniert haben? Mironow ist eine „Vertrauensperson“ Putins, aber anders als seine Kollegin, die Schauspielerin Tschulpan Chamatova, hat er das Land nicht verlassen. Stattdessen geriet er im Juni in einen großen Skandal – er besuchte Mariupol. Vor laufenden Fernsehkameras erklärte er, dass er von der ukrainischen Armee verursachte Ruinen gesehen habe, und versprach, das Schauspielhaus von Mariupol mithilfe des Theaters der Nationen wieder aufzubauen. Allgemein ist bekannt, dass Mironow im Februar fast seine Position und das Wohlwollen des Kremls verloren hätte, nachdem er eine Anti-Kriegs-Petition unterschrieb. Um seinen Posten zu behalten, musste er nun „aktive Reue“ zeigen. Die Moskauer Theatergemeinde reagierte schockiert und verwirrt.Wie also wird es weitergehen mit dem Theater in Russland? Einige der besten Aufführungen der Saison 2021/22 werden nie mehr zu sehen sein, sei es, dass ihre Macher gegangen sind oder dass ihre Spielstätten geschlossen wurden. Und was wird gar aus den unabhängigen Theatern? Für diejenigen, die Zuschüsse beantragen, hat die Stiftung des Präsidenten für Kulturinitiativen kürzlich neue Themen vorgeschlagen: „Wir sind stolz“, „Wir lassen die Unsrigen nicht im Stich“, „Helden des Donbass“ – „Helden Russlands“. Nun ... kein Kommentar. Willkommen in der neuen alten Welt.Placeholder authorbio-1
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