Kōjin Karatani ist einer der großen kritischen Denker Japans. Seit über 50 Jahren war er auf keiner Demonstration mehr. Umringt von Demonstranten steht er am 11. September auf einem Platz mitten in einem der belebten Vergnügungsviertel Tokios. Es ist der 11. September 2011, die Katastrophe von Fukushima ist ein halbes Jahr her, und es herrscht andächtige Stille. Der schmächtige Mann besteigt die Ladefläche eines Lastwagens, nimmt das Mikro und spricht mit entschlossenen Worten zu den Zehntausend um ihn herum. „Indem wir demonstrieren, werden wir eine Gesellschaft schaffen, die protestiert“, sagt er.
Der 11. März ist in Japan vor allem ein Tag der Trauer. Vor einem Jahr forderten ein Erdbeben der Stärke 9,0 und der darauffolgende Tsunami 15.854 Todesopfer. 3.276 Menschen gelten bis heute als vermisst. Innerhalb von Minuten wurde eine halbe Million Menschen obdachlos. Und ein Gebiet, das etwa dem Großraum München entspricht, ist unbewohnbar geworden.Doch die Japaner nehmen das nicht mehr nur gefasst und stoisch hin. Fukushima ist zu einem Wendepunkt in der japanischen Protestgeschichte geworden. Denn der Super-GAU in dem Atomkraftwerk war keine Naturkatastrophe.
Die Kette der Anti-Atomproteste reißt seitdem in Japan nicht ab. Fast täglich finden Aktionen statt. Und es werden enge internationale Kontakte geknüpft. Ikonen wie der Literaturnobelpreisträger Kenzaburō Ōe erheben ihre Stimme. Erstes Ziel ist es, dass auch die letzten zwei der insgesamt 54 Reaktoren im Land abgeschaltet werden. Und das nicht nur kurzfristig, wie es die japanische Regierung für einen Stresstest im April plant. Sorgen macht den Initiativen daneben das Schicksal von rund 1,5 Millionen Menschen, die rund um die Evakuierungszone leben. Vor allem den Kindern versuchen NGOs wie Friends of Earth erholsame Aufenthalte in Orten zu verschaffen, in denen sie wieder ohne Angst draußen spielen können.
Misstrauen in die Regierung
Ganz speziell im Visier der Anti-Atom-Bewegung sind die von der Regierung ausgegebenen Strahlungsobergrenzen, sie kritisiert außerdem, die Evakuierungszonen um das zerstörte Kraftwerk seien zu klein. Aber die Aktionen konzentrieren sich nicht nur auf Japan. An der „Global Conference for a Nuclear Power Free World“ in Yokohama im Januar nahmen rund 11.500 Teilnehmern aus 30 Ländern teil, 100.000 verfolgten das Treffen per Livestream. Die Konferenz war damit weltweit die bisher größte ihrer Art.
Hinter dem Engagement vieler Japaner stecken nicht nur Zweifel an der Atomenergie selbst, sondern auch Sorgen um die Handhabung der Technologie, wie Umfragen zeigen. Während noch im April 2011 rund elf Prozent der Japaner für einen Atomausstieg stimmten, waren im November 2011 bereits annähernd 70 Prozent. Dazwischen lag über ein halbes Jahr voller Pleiten und Pannen für Atomindustrie und Regierung. Fast täglich war das Land mit Berichten über das chaotische Krisenmanagement und fortwährende Vertuschungsversuche konfrontiert.
Dass der Anti-Atom-Protest so breit werden konnte, liegt auch daran, dass er auf ein Fundament zurückgreifen konnte. Neben den NGOs ist das eine kleine Szene von Akteuren, die schon seit Jahren für ein grundlegend anderes Japan kämpfen, Gruppen, die nach neuen Formen des Protestes suchen, ahierarchisch und ohne feste Organisation agieren.
Aufstand der Amateure
Entstanden ist diese Bewegung Ende der Achtziger, als die Wirtschaftsblase platzte und Japan über zehn Jahre in die Rezession schlitterte. Für viele Menschen veränderten sich Arbeits- und Lebensrealitäten gewaltig. Es war für einige Menschen der Anlass, über das Wachstumsdogma nachzudenken, den Kapitalismus in Frage zu stellen und auch das in Japan traditionell große Vertrauen in die Technologie. Eine dieser Keimzellen war die „Vereinigung der Armseligen“ (Dame-ren), deren Mitglieder sich in den Neunzigern regelmäßig in ihrer Stammkneipe Akane in einem der ärmeren Vierteln Tokios trafen und ein Leben ohne Geld und Arbeit, ohne Internet und Email proklamierten. Über diesen Versuch, sich der Konsumgesellschaft zu entziehen und inmitten der Megametropole Tokio eine autonom organisierte Lebensform zu finden, schüttelten viele Japaner den Kopf.
Doch Gruppen wie die Dame-ren lösten sich bald wieder auf. Erst mit dem Aufkommen der globalisierungskritischen Bewegung kam es auch in Japan zur Bildung neuer Bewegungen. Zwar blieben große Massendemonstrationen, wie die im Jahr 2000 gegen die G8 auf Okinawa mit 30.000 Demonstrierenden, die Ausnahme. Doch fern der Straße widmeten sich Japans junge Wilde alternativen Konsum- und Protestformen wie Food-Kooperativen oder etwa Kommunikationsguerilla.
Allen voran der „Aufstand der Amateure“ (Shirōto no ran): Wiederum in einem der ärmeren Viertel Tokios, in einer alten Einkaufsstraße befindet sich neben Secondhand-Läden und Recyclingshops die sogenannte Untergrunduniversität (Chikadaigaku) der Gruppe. Sie soll Menschen kritisches Wissen und Philosophie vermitteln, die sonst keinen Zugang dazu haben.Der Gründer der „Amateure“, Hajime Matsumoto, war einer der maßgeblichen Initiatoren der Proteste nach dem 11. März. Die Demonstrationen dürften nicht von den üblichen Organisationen mit Fahnen und Slogans, deren spröde Klientel und monotone Reden geprägt sein, schrieb er in seinen Aufrufen. Sie sollten eine offene Plattform darstellen. Diese Botschaft wurde vor allem über Blogs und Twitter verbreitet und brachte schon am 11. April 2011 rund 15.000 Menschen auf die Straße.
Maria Trunk ist freie Journalistin
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