Ein Wort ist mir besonders aufgefallen in letzter Zeit, wenn ich hier in Russland Menschen von ihren Erlebnissen in der DDR erzählen höre: "Als ich damals in Berlin, der Hauptstadt der sogenannten DDR war..." sagen sie, oder: "zur Zeit der sogenannten DDR ... ". Die "sogenannte"!
Weltgeschichtlich gesehen mögen meinetwegen die vier Jahrzehnte der Existenz dieses Staats nichts als ein Augenblick gewesen sein. Aber wir Russen sollten eigentlich aus eigener Erfahrung wissen, mit welcher Blitzgeschwindigkeit die Historie voranschreitet: Vor zehn Jahren lebten wir selbst noch in einem anderen Staat, in einem ganz anderen Land. In diesem Jahr soll ein Gesetz in Kraft treten, dass es unseren Kindern erlaubt, sobald sie einen Personalausweis bekommen, - das heißt also im zarten Alter von 14 Jahren - ein eigenes Privatunternehmen zu führen. Begründet wurde dieses neue Gesetz damit, dass diese Kinder einer neuen Generation angehörten und in der Epoche der Marktwirtschaft aufgewachsen seien. Diese "Epoche" zählt aber gerade einmal zehn Jahre, und im Vergleich dazu sind vier Jahrzehnte doch fast eine Ewigkeit.
In meinem beruflichen Umfeld, der deutschen Literaturwissenschaft, mache ich ähnliche Beobachtungen. Früher gab es für uns sowjetische Germanisten fast nur die DDR-Literatur; unzählige Übersetzungen, analytische Artikel, Rezensionen, Diplom- und Doktorarbeiten beschäftigten sich mit ihr. Heute dagegen sieht es eher so aus, als habe es das Kulturphänomen "DDR-Literatur" nie gegeben; und wenn doch, dann lediglich als kleine Fußnote zu jener großen deutschen Literatur, die gleichzeitig in der Bundesrepublik geschaffen wurde. So naiv sind die Menschen; so schnell sind sie bereit, die Lehren der Geschichte, in diesem Fall einer Deutschstunde, zu vergessen.
In Wirklichkeit nämlich verkörperte die Deutsche Demokratische Republik für uns damals das eigentliche Deutschland. Es gab im Grunde kein anderes. Hat man ein lebendiges Bild davon, wie es auf dem Mond aussieht? Nein, trotz sämtlicher Berichte von Astronauten und Kosmonauten. Ungefähr so ging es uns damals mit dem deutschen Westen.
Ich war zum Beispiel fest davon überzeugt, dass der Kurfürstendamm die vom Brandenburger Tor unterbrochene, unmittelbare Verlängerung von Unter den Linden sei. Zu dieser Schlussfolgerung war ich nach Lektüre des Romans von Günter Grass Örtlich betäubt gekommen. Können Sie sich meine Enttäuschung vorstellen, als ich nach der Wende die Linden zu Fuß entlang ging und hinter dem Brandenburger Tor statt belebter Lokale nur eine viel befahrene breite Strasse, einen unübersehbaren Park und weit in der Ferne die Siegessäule vorfand?
Die DDR war uns also viel näher und verständlicher als das westliche Deutschland. Aber glauben Sie jetzt bloß nicht, dass die Kontakte zwischen Russen und DDR-Bürgern besonders eng oder die Grenzen besonders durchlässig gewesen wären. Aus Russland konnte man fast nur auf Dienstreise ins Ausland fahren, und wer hatte schon einen Beruf mit solchen "Diensten"? Das Reisegebiet der DDR-Bürger wiederum endete in Polen: Es wäre auch politisch kurzsichtig gewesen, die braven Ostdeutschen vom Aufbau des Sozialismus abzulenken, indem man ihnen die Armut und das Lebenschaos im Land des Großen Bruders zeigte. Im Bewusstsein der DDR-Massen sollte die UdSSR ein Musterland darstellen - ein Schlaraffenland, in dem die süßesten Träume schon längst verwirklicht worden waren.
Zur gleichen Zeit fiel damals die russische Provinz per Bahn in Moskau ein, um von den Bahnhöfen aus zuerst mit der U-Bahn, dann weiter in völlig überfüllten Bussen an eine bestimmte Stelle am Stadtrand zu gelangen, um dort wiederum in einer langen, langen Schlange stundenlang anzustehen: vor dem begehrten Kaufhaus Leipzig. Dort gab es nämlich Florena-Seife, Kahla-Geschirr, Londa-Color-Haarfarbe, Pullover aus Dederon-Synthetik und Abbildungen vom Fernsehturm am Alex, der den Berliner Bären als Wahrzeichen abgelöst hatte. Sicher hätte die VEB-Produktion auf dem sowjetischen Markt noch sehr viel besser vertreten sein können, nur wäre es wiederum politisch sehr kurzsichtig gewesen, uns vom Aufbau des Sozialismus abzulenken, indem man auf den Reichtum und die geordneten Lebensverhältnisse beim Kleinen Bruder aufmerksam machte.
Immerhin aber bezeugten diese bescheidenen Waren, die übersetzten Bücher, die vorgesungenen Lieder, die vorgeführten Filme und die im Fernsehen übertragenen Shows aus dem Friedrichstadt-Palast, dass dieses Land wirklich und lebendig war. Einen Studienplatz für Germanistik an der Moskauer Universität zu bekommen, war deshalb so gut wie unmöglich. Hätten unsere Amerikanisten je die Chance gehabt, New York zu sehen? Woher sollten unsere Romanisten wissen, dass es den Eifelturm wirklich gibt und er nicht nur in der Form eines Schlüsselanhängers existiert? Wir Germanisten - Historiker, Kunst-, Film-, Musik- und Literaturwissenschaftler - zählten zu den Glückskindern: Wir konnten zumindest sicher sein, dass der Fernsehturm nicht nur als Miniatur auf den Kaufhausregalen, sondern auch in voller Pracht auf dem Alexanderplatz steht.
Heute noch bemerke ich, wie meine deutschen Freunde zusammenzucken, wenn ich das verschwundene Land DDR aus alter Gewohnheit "unser Deutschland" nenne. Sie wissen wohl nicht, dass dieses "unser" ("nasch") im Russischen nicht nur "uns gehörend" bedeutet, sondern auch "das uns nahe stehende, das uns ähnliche". Was mich dann allerdings als junge Studentin ungeheuer überraschte, war die Unähnlichkeit "unserer" Deutschen mit uns.
Ich hatte nämlich noch mehr Glück als die anderen: Auf eine private Einladung hin konnte ich schon im dritten Semester das erste Mal nach Deutschland (Verzeihung, in die DDR!) reisen. Meine Gastgeber waren Freunde meiner Mutter, die sie bei einem Filmforum im Jahre 1957 kennen gelernt hatte. So kurz nach dem Krieg verband sie außer menschlicher Sympathie auch noch manch anderer Berührungspunkt, dazu hatten sie Kinder im gleichen Alter. Das deutsche Ehepaar gehörte zur intellektuellen Elite der DDR, beide waren sie ungeheuer gebildet, talentiert, erfolgreich. Sie sprachen einwandfrei russisch und waren überzeugte Kommunisten.
Genau das hat mich sehr verwundert. Wir schrieben Januar 1975, es war die Periode der tiefen sozialen und politischen Stagnation unter Breschnew. Die Idee des Sozialismus, die noch vor kurzem viele beflügelt hatte, war zum toten Ballast geworden. Träge Versammlungen, trostlose Sitzungen, formelhafte Reden, langweilige "gesellschaftliche" Arbeit - davon hatte man die Nase voll. Im privaten Bereich sprach man gar nicht darüber. Für uns (ich meine damit nicht die 270 Millionen Bürger der UdSSR, sondern die Intellektuellen, die "Intelligenzia") war bereits alles klar, spätestens seit dem Einmarsch in die Tschechoslowakei im August 1968. Wir alle waren aus Prinzip unpolitisch. So war das, auch wenn es schwer zu glauben ist.
In der DDR erschienen mir die Menschen dagegen im höchsten Maße politisch engagiert. Als ich die Wohnung meiner Freunde betrat, kam der Sohn des Hauses gleich auf mich zu und meinte, er wolle mir etwas ganz Besonderes zeigen. "Schau mal", sagte er, "DAS IST SEIN LETZTES FOTO". Er hielt mir die Fotografie eines müden, aber sehr resoluten Mannes vor die Augen. Ich hatte keine Ahnung, wer das sein sollte.
Der junge DDR-Bürger konnte sich wohl einfach nicht vorstellen, dass die junge UdSSR-Bürgerin nicht wusste, und auch gar nicht wissen wollte - bloß nicht! - wie Salvador Allende aussieht. Bezeichnenderweise ist es in dem Film Proschu slova von Gleb Panfilow, der ein Jahr später herauskam, die Heldin, eine überzeugte Kommunistin und Parteifunktionärin, die in Tränen aufgelöst mitteilt: "Sie haben Salvador Allende ermordet ...". Während ihr Ehemann, ein Durchschnittsmensch und Fußballspieler, einwirft: "Solltest du nicht besser bei deiner kranken Mutter vorbeischauen?" Wie typisch! Aber heute, aus der Höhe des dritten Jahrtausends, frage ich mich doch, wer mehr im Recht war: Der junge Mann, dem der Schmerz der Menschen im fernen Chile nicht fremd blieb, oder ich, die bei den Worten "Präsident der Sozialisten" sofort taube Ohren bekam?
Übrigens ist der junge Mann von damals heute Professor für lateinamerikanische Literatur an einer amerikanischen Elite-Universität und gibt ein Buch nach dem anderen heraus. Er ist nicht in den Westen geflüchtet, er hat die Stelle vor einigen Jahren durch freie Bewerbung bekommen. Das mag ein Einzelbeispiel sein, aber für mich ist es auch ein Beleg dafür, dass Ausbildung und Wissenschaft in der DDR ein sehr hohes Niveau hatten.
Wie die Kultur überhaupt. Ich, eine vom Kulturangebot Moskaus verwöhnte Großstädterin, habe damals jeden Berliner Abend im Theater- oder Konzertsaal verbracht und die Veranstaltungen "auf Weltniveau" sehr genossen. Die Philharmonie, die Aufführungen im Berliner Ensemble, die Komische Oper mit ihrem Fiedler auf dem Dach - das alles sind für mich unvergessliche Erlebnisse.
Aber auch das Festival des politischen Liedes, wohin mich eine neue Freundin mitnahm und wo ich sah, wie Hunderte meiner Altersgenossen voller Begeisterung Lieder über den Klassenkampf mitsangen. In Moskau hätten mich keine zehn Pferde zu einem solchen Festival gebracht! Viel später erst hat mir ein Freund aus Leipzig versichert: "Es gab in der ganzen DDR keinen einzigen Menschen, ich wiederhole: keinen einzigen Menschen, der geglaubt hätte, was dort verkündet wurde." Ich bin mir da nicht so sicher. Wenn sie daran geglaubt hätten, hätten sie es auf jeden Fall leichter gehabt als wir.
Anfang Oktober 1980 bin ich wieder gekommen. Berliner Freunde, die zu der Zeit gerade in Moskau weilten, hatten mir einen Wohnungsschlüssel, zwei Koffer voller Bücher und ein paar Mark für das Taxi vom Ostbahnhof zur Lichtenberger Straße mit auf den Weg gegeben. Ich setzte mich also ins Taxi, aber statt zügig über Hauptstraßen kurvt der Fahrer mit vielen Wendungen hin und zurück durch lauter kleine Nebenstraßen, während er mir in seinem schrecklich unverständlichen Berliner Dialekt etwas zu erklären versucht. Als der Zähler schließlich bei 20 statt der erwarteten sieben oder acht Mark steht, hält er abrupt an, lädt mein ganzes Gepäck aus und fährt in aller Eile davon. Nach kurzem mühseligen Fußmarsch finde ich mich also an einem dunklen Oktoberabend endlich auf der riesigen Karl-Marx-Allee wieder, die ich nun irgendwie allein überqueren muss, weil ich auf der falschen Seite gelandet bin. Aber über die breite Straße vor mir ziehen in langer Reihe und mit offenen Visieren Truppen der DDR-Armee. Mein erster Gedanke dazu ist: "Sie bewegen sich in Richtung polnischer Grenze. Lech Walesa! Solidarnosc´! Die Truppen des Warschauer Pakts marschieren im rebellierenden Polen ein. Welche Schande! Deshalb hat sich der Taxifahrer also geweigert, eine Russin ans gewünschte Ziel zu bringen!"
Ja, welche Schande. Trotzdem muss ich irgendwie auf die andere Straßenseite gelangen. Ich entschließe mich deshalb zu einem Akt der Verzweiflung, wobei mein Gewissen mich gleichzeitig der Kollaboration für schuldig erklärt. Aus meiner Handtasche hole ich den roten Pass mit dem Hammer-und-Sichel-Zeichen hervor und gehe festen Schrittes auf den Kommando-Wagen zu. Ein Mann in Uniform kommt mir entgegen, seltsamer Weise trägt er weiße Handschuhe. "Er will sich die Hände nicht schmutzig machen bei der Drecksarbeit!", schießt es mir durch den Kopf. Laut aber höre ich mich sagen: "Genosse General, ich komme gerade aus Moskau ..." Er gibt irgendein Zeichen und wie durch Zauberhand kommt die ganze Panzertechnik zum Stillstand und bildet nur für mich einen kleinen Durchgang. Dazu noch beauftragt er zwei jungen Rekruten, mir meine Koffer über die Straße und bis zum Aufzug des Hauses zu tragen. Nicht ohne Eitelkeit denke ich noch: "Wenige Minuten können in der Weltgeschichte über vieles entscheiden. Sollte ich tatsächlich die Truppen auf ihrem Weg nach Polen aufgehalten haben?"
In der Wohnung angekommen, laufe ich schnell zum Fernseher - in der Hoffnung, dass er auf Westsender eingestellt ist. Dort erfahre ich dann, dass Ostberlin sich in Vorbereitung für die Truppenparade zu Ehren des 7. Oktobers befindet, dem Gründungstag der DDR!
Nein, niemand kann mir einreden, dass die Jahre 1949-1989 nur eine Fußnote in der Weltgeschichte waren.
Aus dem Russischen übersetzt von Barbara Schweizerhof
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