Acht Jahre Schweinerei

Italien Paukenschlag in Rom: Der Verfassungsgerichtshof urteilt, dass das italienische Wahlgesetz verfassungswidrig ist. Regierung und Parlament in der Legitimitätskrise

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Wieder hat die Justiz die Politik überholt. Mit einem Aufsehen erregenden Urteil hat gestern der italienische Verfassungsgerichtshof das Wahlgesetz von 2005 in zwei wesentlichen Punkten für verfassungswidrig erklärt: Hinsichtlich einer Mehrheitsprämie zugunsten der Partei oder dem Bündnis, die eine relative Mehrheit der Sitze in der Abgeordnetenkammer erringen konnten und auf dieser Grundlage eine Aufstockung auf mindestens 340 der verfügbaren 630 Sitze erhielten. Und bezüglich des Prinzips der reinen Listenwahl, das anders als etwa die Regeln zum Bayerischen Landtag ,keine persönliche Präferenz zugelassen hat.

Auch wenn Einzelheiten noch nicht bekannt sind -die schriftliche Urteilsbegründung ist erst in einigen Wochen zu erwarten-, ist der Flurschaden bereits beträchtlich. Denn die Verfassungswidrigkeit umfasst drei Wahlgänge zum Parlament in Rom (2006, 2008 und Februar 2013) und trifft jetzt auf eine Konstellation, deren Legitimität ernsthaft in Frage gestellt wird.

Nicht nur müssten mindestens 120 der in die Abgeordnetenkammer aufgrund der Prämie eingezogenen Parlamentarier aus dem Wahlbündnis der Sozialdemokraten (PD) und damit die numerische Regierungsmehrheit in Frage gestellt werden. Auch im Senat müssten ersten Schätzungen zufolge zahlreiche Mandatsträger den dann zu berücksichtigenden Gewählten vor allem der 5-Sterne-Bewegung (M5S) Platz machen. Hier ist die Rede von 31. Selbst die Wahl des Staatpräsidenten Giorgio Napolitano vom vergangenen April wäre nicht auszusparen: Die Wahlversammlung bestand hauptsächlich aus den fehlerhaft Gewählten beider parlamentarischer Kammern.

Soviel zur Theorie. Dass es soweit kommen und damit die derzeitige Regierung unter Ministerpräsident Enrico Letta (PD) gestürzt werden könnte, ist ausgeschlossen. Die Entscheidung beruht nicht auf einem Verfahren der Wahlanfechtung, sondern ist nur feststellender Natur. Gleichwohl ist der Handlungsspielraum von Letta damit noch enger geworden, der sich ohnehin wegen des Rückzugs der Berlusconi-Anhänger aus der großen Koalition auf ein Minimum reduziert hat.

Auf der Suche nach der Destabilisierung des Parlaments, das ihn vor einer Woche seines Amtes als Senator für verlustig erklärt hatte, war der Cavaliere noch einmal in die Offensive gegangen. Dazu hat er nicht nur seine alte Partei „Forza Italia“ reaktiviert, sondern auch gleich „seine Parlamentarier“ aufgefordert, von der bisherigen Fraktion des PdL (Volk der Freiheit) in die neugebildete von FI zu wechseln. Dem mochten sich die amtierenden Minister seines Lagers unter Führung von Innenminister Angelino Alfano nicht anschließen. Sie haben umgehend eine eigene Partei gegründet, die sich Nuovo Centro Destra (Neue rechte Mitte, NCD) nennt. Deren dünne Fraktion im Senat sichert dem Exekutiv seither eine prekäre wie letztlich unkalkulierbare Mehrheit.

Mit dem Wegfall der Legitimität werden Neuwahlen gefordert: Aber nach welchen Regeln?

Angesichts dieser Schwäche haben erwartungsgemäß FI, Lega Nord und die 5-Sterne-Bewegung sofortige Neuwahlen gefordert. Wobei dann nicht klar wäre, auf welcher gesetzlichen Grundlage. Ob das jetzige Wahlgesetz durch den Wegfall der beiden Elemente insgesamt verfassungswidrig ist und falls ja, ob dann automatisch dasjenige von 1993 gelten würde, ist zwischen Verfassungsjuristen heftig umstritten.

Die Politiker sind sich nicht minder uneins: Obwohl der 2005 federführende Minister Roberto Calderoli (Lega Nord) sein eigenes Gesetz als „porcata“, Schweinerei bezeichnet hatte, konnte sich keine Mehrheit seither dazu durchringen, eine Änderung zu beschließen – zu groß sind die Gegensätze zwischen großen und kleinen Parteien, zwischen der relativen Stabilität eines in zwei Lager aufgeteilten Parlaments und der Furcht vor deren Zementierung.

Wie neue Regelungen angesichts eines großen PD zusammen mit einem sehr kleinen NCD und der Unsicherheit von Mehrheiten zu bewältigen sein werden, ist eine der großen Herausforderungen der nächsten Monate an die italienische Politik. MS

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Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

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