Bedürfnis, gehört zu werden

Referendum Vor dem griechischen Referendum ist viel von einem gespaltenen Land nicht nur die Rede, sie ist zu sehen. Wieviel davon ist Illusion?

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Die Bilder von Hamsterkäufen und Schlangen vor Bankautomaten, von alten Menschen die sich gegenseitig mit Sitzgelegenheiten und Wasser aushelfen, während sie auf die Auszahlung von karger Rente warten: Das sind die Menschen, die tatsächlich auf diese Behebungen angewiesen sind. Andere werden nur mittelbar sichtbar gemacht: Läden mit gehobenem Angebot ohne Kundschaft in den Flanierstraßen Athens, ankernde Motoryachten.

Noch deutlicher wird die Spaltung, wenn davon berichtet wird, dass in Athen gestern gleichzeitig zwei Großkundgebungen der Lager „Ja“ und „Nein“ stattgefunden haben: Dort beim Olympiastadium, hier auf dem Syntagmaplatz im Stadtzentrum. Bei beiden widersprechen sich die Angaben zu den Teilnehmern, die Kommentare suggerieren einen Gleichstand. Allen voran das deutsche Revolverblatt mit den vier Buchstaben, das das in der Montage und jeweils „mittendrin“ belegen will. Aber: Wäre das

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(Foto von Europe says OXI, https://www.facebook.com/solidaritywithgreece/photos/a.1681903648696778.1073741828.1681857028701440/1683433648543778/?type=1)

verglichen mit dem

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Indipendent, Irland)

tatsächlich der Fall? Oder nicht eher so, wie es Freelance Marcos Petropolous auf seiner FB-Seite veröffentlicht hat, dass griechische Leitmedien systematisch das „Nein“ kleinmachen? Ins Englische übersetzt und per Social-Media weitergetragen sind das z.B.

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8 gegen 47 Minuten Sendezeit für „Nein“ gegen „Ja“. Das hat vor erst wenigen Stunden etwa die Irish Times aufgenommen, die mit einer „extremen Tendenz der Medien zugunsten eines Ja“ titelt.

Eine Bestätigung findet sich auf der Plattform „Europe says OXI“, die einen, wie sie schreibt, Huge Leak vorlegt. Interne Dokumente aus der konservativen, Ja-Sager-Partei Néa Dimokratia zeigten eine sorgfältige Kampagnenstrategie, die u.a. auf der Überlegung beruhten: „Indicatively, we report that whilst the images that prevail are the queues outside banks and the supermarkets, the exit polls difference in favor of YES are double in percentage. This morning, in one of the polls’ companies, the difference arrived at 10%! When the political leaders’ debate issue entered the agenda, the percentage fell“. (Die vollständige deutsche Übersetzung bei -> freitag.de im Blog von Lee Berthine, thx!)

Krise und „magisches Denken“

Dass auch in Deutschland der Kampagnenjournalismus heftig zu „Ja“ tendiert, hat erst vor wenigen Tagen die taz als bislang einzige Tageszeitung mit einigem Gewicht und Reichweite thematisiert. Selbst die Tonlage sei nun „gekippt: Hohn, Spott und Beschimpfung herrschen vor“.

Die Steigerung präsentierte vor einigen Stunden Theodoros Fortsakis, früherer Rektor der Athener Universität, Seniorpartner und Steuerrechtler einer Anwaltskanzlei mit exklusiver Klientel sowie jetziger Abgeordneter für Néa Dimokratia: Er wird mit den Worten zitiert, „Griechenland stehe wegen der Lügen von Tsipras vor dem Ausbruch von Gewalttätigkeiten“.

Aber ist das wirklich: Spaltung? Und wäre sie unausweichlich mit Gewalt verbunden? Eine andere Lesart sei erlaubt.

Stefano Rodotà, in Italien verehrter und auch von konservativen Kreisen geschätzter Verfassungsrechtler und Politiker -> meinte zu Alexis Tsipras: Er habe „den Zusammenhang zwischen Politik, Rechten und materiellen Bedingungen der Menschen wieder hergestellt“, sein Programm sei „auf die Grundbedürfnisse der Menschen ausgerichtet“. Dazu gehört zweifellos das Bedürfnis, die eigene Meinung demonstrativ zu äußern, wenn es um Hunger, Arbeitslosigkeit und Wohnung geht.

Freilich gibt es viele, zuviele, die nicht nur dazu das Recht, sondern überhaupt die Fähigkeit absprechen, die einfachste aller Entscheidungen zu treffen. „Ja“ und „Nein“ und das Referendum dazu sind nicht die Spaltung, sondern nur die Bestätigung, dass es sie schon vorher gab. Paradoxerweise in Griechenland zum gleichen Ergebnis, in EU und Eurozone zu verbleiben, nur der Weg dorthin steht zur Debatte. Noch paradoxer klingt dann der anzutreffende Vorwurf, dass Syriza nicht genug führe, sondern sich mit einem Referendum entlaste. Der Gedanke, dass es eben jene Führungsstrukturen der Vergangenheit gewesen sind, die Griechenland in den jetzigen Zustand geführt habe, darf damit erst gar nicht aufkommen.

„Magisches Denken“, von FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube an Jürgen Habermas adressiert, liegt erkennbar nicht nur in Griechenland vor allem den konservativen Kreisen nahe. Die Prophetie von der Gewalttätigkeit ist stets selbsterfüllend: Weil sie schon, wie in deutschen Medien, in Worten gesät wurde und weil sich immer Hitzköpfe finden, die glauben, ihrer Meinung nonverbalen Nachdruck verleihen zu müssen. Oder Verzweifelte, die tatsächlich nichts mehr zu verlieren haben. Im Bedarfsfall wird, das zeigt die Erfahrung, ein wenig nachgeholfen. MS

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

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