Der Fall

Transplantationen Organverpflanzungen sind nicht nur teuer. Das Gesetz der Ökonomie diktiert auf den Tod die Legende vom besseren Leben

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Der Fall

Bild: Xurxo Lobato/Cover/Getty Images

Ihnen ist nichts Menschliches fremd. Und weil die darin konkret zum Tragen kommenden Schicksale früher oder später ihre volle Last entfalten, beginnt irgendwann fast jeder von ihnen in statistischen Größen zu reden. Ärzte und Juristen sprechen dann nicht mehr von ihrem Patienten, der Partei oder dem Mandanten, sondern von einem Fall.

Die darin ausgedrückte Distanz ist nicht nur eine, die die Anonymisierung als Folge der jeweiligen beruflichen Schweigepflicht vorschreibt. Auch ist es nicht nur ein Abstandhalten, das die Professionalität aus mehr oder minderen Gründen gebieten würde: Hauptsächlich, dass die persönliche Involvierung den Blick für das Wesentliche trüben könnte. Sondern es ist auch eine vorwiegend uneingestandene Form von Eigenschutz. Die, die berufen sind, die Verletzungen und Zustände mit der Person wieder in ein akzeptables Verhältnis zu bringen, sind Menschen - selbst verletzlich, fehlbar und potentiell unausgewogen.

In dieser Hinsicht ist Muhammet Eren ein Fall. Denn wer kann sich des Eindrucks eines kleinen Bündels entziehen, das um Leben kämpft und dabei in seinen guten Augenblicken mit großen Augen lächelt. Tausende haben gespendet, um dieses Leben noch zu ermöglichen, Abertausende bekunden ihre Anteilnahme.

Die Bilder, die uns von Muhammet Eren erreichen, sind keine PR-Kampagne. Sie tragen den Ausschnitt eines Alltags in die Öffentlichkeit, vor dem sich die meisten Menschen fürchten: Muhammets Lächeln vermag die Schläuche der lebenserhaltenden Systeme nicht zu überstrahlen.

Die wütende Bedrohung von Ärzten und Personal des Gießener Krankenhauses ist sicher auch Ausdruck einer ohnmächtigen Hilflosigkeit gewesen. Kaum jemand will derart ausgeliefert sein – die Wut gegen Menschen war wohl auch eine gegen die Maschine. Diesen Luxus können sich Ärzte und medizinisches Personal nicht leisten, denn sie haben alltäglich Aufgaben zu bewältigen, die buchstäblich zum Verzweifeln sind.

Je mehr sich Muhammet Eren nun auch in gerichtlichen Verfahren zu einem Fall entwickelt, wird eine Wandlung sichtbar. So paradox es klingen mag: Je mehr der kleine Mensch in der anonymisierenden Mühle verschwindet, wird immer weniger relevant, ob Medizin und Recht auf ihn angemessen angewendet werden. Zum Tragen kommt vielmehr, ob dieses Transplantationsgesetz und seine Praktizierung auf so einen Fall wie den von Muhammet Eren überhaupt vorbereitet sind.

Die Zweifel gehen tief, gerade jetzt, da das Landgericht Gießen zugunsten der Auffassung des dortigen Klinikums entschieden zu haben scheint. Denn hier hat sich, den Augen der Öffentlichkeit weitgehend entzogen, der bemerkenswerteste Wandel vollzogen. Nicht mehr der Hirnschaden als solcher stehe einer Transplantation entgegen, sondern das unverhältnismäßige Risiko der Operation, dass weitere unkontrollierbare Hirnschäden und -blutungen auftreten könnten. So haben es drei der in Betracht kommenden Operateure an Eides Statt versichert, so hat es das Gericht seiner Entscheidung maßgeblich zugrunde gelegt.

Diese einzige, auf der Grundlage des Transplantationsgesetzes und der dazu erlassenen Richtlinien der Bundesärztekammer akzeptable Sichtweise ist freilich erst sehr spät, am 11. September in das Verfahren eingeführt worden. Sie vermag, auch weil sie kaum in der Öffentlichkeit mitgeteilt wird, nicht die bis dahin geltende offizielle Begründung des Klinikums, seiner Ärzte und seiner Ethiker aus der Welt zu schaffen: Dass ein Hirnschaden voliege und dies alleine als Ausschlussgrund genüge, weil es zu wenige transplantierbare Organe gebe.

Ist unsere Ordnung auf Muhammet Eren vorbereitet?

Dem Transplantationsgesetz ist der Gedanke der Organknappheit als Beurteilungsmaßstab fremd. Auch die jüngsten Fassungen der Richtlinien der Bundesärztekammer für die Wartelistenführung zu Transplantationen sind nicht unter dem Gesichtspunkt der sogenannten Triage erlassen. Denn sie erlauben ausschließlich die strikte Beurteilung des Einzelfalles, nicht aber dass dieser zu anderen ins Verhältnis zu setzen sei, etwa solchen die erfolgversprechender wären; was immer unter "Erfolg" zu verstehen ist.

Alleine diesen sach- und gesetzesfremden Aspekt nicht nur in die Öffentlichkeit getragen, sondern als entscheidend mitgeteilt zu haben, offenbart die Grenzüberschreitung. Das ökonomische Prinzip, dass knappe Ressourcen am zweckdienlichsten einzusetzen seien, hat als Zweck propagiert, dass selbst bei erfolgreicher Transplantation dennoch eine gravierende Behinderung bleiben würde.

Sich derart abwertend über künftige Lebensqualität zu äußern, statt über Lebensverlängerung zu verhandeln, steht keiner Berufsgruppe zu. Daran entlang eine Gewichtung Leben gegen Leben vorzunehmen, steht keinem Menschen zu. Und ein Gesetz und Richtlinien, die eine derartige Grenzüberschreitung tatsächlich ermöglichen, sind dringend reparaturbedürftig.

Die Entscheidung des Landgerichts Gießen hat einen vorläufigen Zustand geregelt. Zu den Eigenheiten des Verfahrens gehört, dass jene Eidesstattliche Versicherung kein Beweis ist, sondern eine Glaubhaftmachung, vor allem des medizinischen Standpunktes. In dieser Verfahrenslage ist das genügend. Sie besagt aber nichts darüber, ob die darin ausgedrückte fachliche Meinung richtig ist. Genauso wenig, wie solche Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes der Kompetenz der Ärzte nachgehen können, vermögen sie den im Gesetz selbst angelegten Konflikt aufzulösen. Das bleibt einem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Ob die Eltern von Muhammet Eren bereit sind, diesen langen und steinigen Weg zu gehen, werden sie für sich entscheiden müssen.

Für jene freilich, die mit „Fällen“ sich ihre innere Trennung bewahren, ist es Gelegenheit, zu hinterfragen: Ob die selbst auferlegte Äquidistanz sie nicht doch auf einen Weg gebracht hat, das Leben als solches gering zu schätzen. Sollte sie die Frage überfordern, müsste abermals der Gesetzgeber eingreifen. Es wäre ein Offenbarungseid in Sachen Menschlichkeit. MS

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden