Der Kodex der Zwietracht

Flucht Mit einem sogenannten Verhaltenskodex will Italien mit Billigung der Europäischen Union Humanitäre Hilfsgesellschaften an die Leine legen. Zu einem Dokument der Schande

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Ein Geflüchteter verlässt ein Boot der Migrant offshore aid station (Moas). Die Hilfsorganisation hat den Verhaltenskodex unterzeichnet und schadet damit anderen Organisationen
Ein Geflüchteter verlässt ein Boot der Migrant offshore aid station (Moas). Die Hilfsorganisation hat den Verhaltenskodex unterzeichnet und schadet damit anderen Organisationen

Chris McGrath/Getty Images

Hat die europäische Abwehrfront gegen Flüchtlinge gerade einen Sieg gefeiert? Auf den ersten Blick wäre die Frage zu bejahen. Mit der Unterzeichnung des von der italienischen Regierung vor- gelegten „Code of Conduct for NGOs involved in Migrant‘ Rescue Operations at Sea“[1], dem sogenannten Verhaltenskodex, am 31.7. in Rom durch zwei von rund einem Dutzend aktiver humanitärer Hilfsgesellschaften scheint die Einigkeit unter den Helfern dahin.

Die Unterschriften von Migrant offshore aid station (Moas) und Save the children (Italy) sowie die Absichtserklärung von Proactiva open arms signalisieren: Die von Italien mit Billigung der EU-Mitgliedstaaten aufgesetzten Regularien seien akzeptabel. Alle anderen, von den Schwergewichten wie der internationalen Médecins sans Frontières oder der deutschen Sea-Watch bis hin zur Regensburger Organisation Sea-Eye, hätten also ein Glaubwürdigkeitsproblem. Womit rechtfertigen sie ihre Haltung?

Die Fragestellungen sind die von den europäischen Politiken gewollten. Denn sie verkehren die illegale Vorgehensweise Italiens und der EU-Staaten in ihr Gegenteil. Nicht Politik, nicht Regierungen sollen sich künftig entlasten müssen, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken, sondern die NGOs wenn sie nicht Dienst nach dieser Vorschrift versehen. Ein weiterer Effekt wäre, dass Flüchtlinge erst gar nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stünden, sondern das Verhalten der Seenotretter.

Die Entwicklung war absehbar. Auch wenn die im April eingesetzte parlamentarische Enquete-Kommission in Rom im Ergebnis kein Fehlverhalten der Hilfsorganisationen festgestellt hat, machte deren Endbericht vom 16. Mai deutlich: Man werde, so der Text, „die Schaffung humanitärer Korridore durch private Subjekte“ nicht dulden, da dies „ausschließlich Aufgabe der Staaten und der internationalen oder supranationalen Organisationen“ sei.

Wie schon seit dreißig Jahren werden zwei Ebenen absichtsvoll miteinander vermengt. Die eine ist der vor allem von Deutschland propagierte Vorrang von Asylrecht, zum Asylverhinderungsrecht ausgebaut, sogar gegenüber der Lebensrettungspflicht zur See. Sie obliegt jedem Schiffsführer, gleich ob zivil oder in Uniform. Die andere ist die etatistische Sicht: Die Durchsetzung mit Staatsgewalt erst recht dann, wenn der Tod Tausender billigend in Kauf genommen wird.

Italien hat sich dabei, anders als Deutschland, mit Gerichtsurteilen auseinander zu setzen. Mit Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 23. Februar 2012 (Hirsi Jamaa u.a. gegen Italien) wurde die Praxis der Regierung Berlusconi als menschenrechtswidrig verurteilt, Boatpeople an Bord von Schiffen der Marine zu nehmen, um sie postwendend an der Küste Libyens zwangsweise auszuschiffen. Italien hatte mit diesen „Push-Backs“ gegen das Refoulement-Verbot aus Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen.

Das derzeitige Exekutiv unter Premierminister Paolo Gentiloni Silveri ist nach Kräften bemüht, das Urteil aus Straßburg zu unterlaufen. Wie die in Rom erscheinende Tageszeitung Repubblica bereits vergangenen Freitag im Vorgriff auf die neuen Einsatzbefehle für die italienische Marine berichtete: „Konkret“ werde „den Libyern die Kontrolle über die Ströme, das Aufhalten von Bootsführern und die Rückführung von Migranten auf das Festland überlassen“. Die italienische Militärmarine werde dazu „nur technisch-logistische Unterstützung geben“.

Libyen, das weder die Genfer Flüchtlingskonvention gezeichnet hat, noch der Jurisdiktion des EGMR unterliegt, wird so zum die Menschenrechte verletzenden Werkzeug des in mittelbarer Täterschaft handelnden italienischen Staates entwickelt. Mit Billigung der EU-Mitgliedstaaten: Das Vorgehen wurde im Rahmen des EU-Ministerrates für Justiz und Inneres (6.-7.7. in Tallinn) und der Strategiegruppe zur „Operation Triton“ unter Leitung der Grenzschutzagentur Frontex am 11.7. gutgeheißen.

Das gilt erst recht für ein Urteil des Amtsgerichts in Agrigent (Sizilien) vom 7.10.2009. Mit ihm wurden im sogenannten „Cap-Anamur-Prozess“ nicht nur die Angeklagten Stefan Schmidt, Vladimir Daschkewitsch und Elias Bierdel vom Vorwurf der Einschleusung freigesprochen. Sondern der wegweisende Tenor lautet:

Wer aus Seenot rettet, begeht keinerlei Straftat. Nur der Kommandant des Rettungsschiffes ist in der Lage und befugt, einen „sicheren Ort“ für die Ausschiffung der Geretteten auch unter juristischen Gesichtspunkten auszuwählen.[2]

Das Urteil aus Sizilien konterkariert die gesamte Strategie der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten: Nicht die Mittelmeeranrainer entscheiden, welcher Hafen angelaufen werden darf, sondern der Schiffsführer bestimmt ihn aus den Notwendigkeiten der Rettungssituation auf See heraus. Und das Asylrecht spielt in der Rettungssituation keine Rolle: Der Status, gleich ob als möglicher Flüchtling, politisch Verfolgter, aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, egal ob arm oder reich, ist einzig und ausschließlich der einer in Seenot geratenen Person.

Die Aspekte hat auch Sea-Watch im Interview mit Violeta Moreno-Lax, Professorin an der School of Law der Queen Mary University in London, behandelt. Ihr Fazit: Der sogenannte Kodex ist „unsinnig, überflüssig, rechtswidrig“.

Und doch wird er nur ein erster Schritt sein auf dem erkennbaren Weg, die staatliche Deutungshoheit darüber wiederzuerlangen, was ein „sicherer Ort“ zur Ausschiffung Geretteter ist oder sein soll und wer ihn bestimmt. Denn noch ist der „Verhaltenskodex“ kein Gesetz, sondern ein öffentlich-rechtlicher Vertrag, der nur die Unterzeichner bindet. Es ist diese vertragliche Freiwilligkeit, die spezifisch die Maßgaben des international eingebundenen italienischen Rechts und seiner Rechtsprechung unterlaufen soll.

Es liegt nicht fern, sich eine Inszenierung von Staats wegen wie im Juni und Juli 2004 gegenüber der „Cap Anamur“ vorzustellen: Wenn etwa seitens der italienischen Marine im Rahmen der „Operation Triton“ alsbald festgestellt würde, dass das eine oder andere NGO-Schiff die Kreise der „libyschen Küstenwache“ und damit des Warlords Abdurahman Salem Ibrahim Milad, genannt Al Bija, gestört haben sollte.

Das von Italien und allen anderen Europäischen Staaten der Union aufgesetzte Narrativ fände seine ebenso konsequente wie perverse Fortsetzung: Libyschen Piraten mehr Glauben zu schenken als Humanitären Hilfsgesellschaften.

~ . ~

[1] Entwurf: englisch, pdf, 206,43KB, via statewatch.org; italienisch, html, via lastampa.it
[2] Prof. Fulvio Vassallo Paleologo, Universität Palermo „Cap Anamur - Pubblicati i motivi di assoluzione: l’intervento umanitario non è reato“, Progetto Melting Pot, http://www.meltingpot.org/Cap-Anamur-Pubblicati-i-motivi-di-assoluzione-l-intervento.html#.WWXU6umkKMp; Urteil des Amtsgerichts Agrigento – Abteilung für Strafsachen vom 7.10.2009, Az.: 1122/06, pdf, Italienisch, Teil 1 (1,56 MB), Teil 2 (1,81 MB), beide via http://www.meltingpot.org/Sentenza-del-Tribunale-di-Agrigento-sez-penale-del-15.html

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Geschrieben von

Marian Schraube

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