Die Republik ist am Montagmorgen reichlich verwirrt aufgewacht. Nicht wegen der in das Wochenende hinein verlängerten Tribute an den kopflosen St. Valentin, sondern ganz im Gegenteil. Mit „Bon(n)jour Berlin“ und live hat Phoenix pünktlich in der Früh unter der Rubrik „der Fall Edathy“, später am Vormittag umgewandelt in „die Affäre Edathy“, alles abgehandelt, aber kaum mehr den Namensgeber. Es ist das politische Verwirrspiel, das da fortgesetzt wird. Nur die Lust am Krawall scheint nicht mehr ganz so ausgeprägt zu sein, auch nicht bei den Interviewpartnern.
Ist das bereits die Exit-Strategie, nicht aus einer Koalition, sondern aus deren Krise? Ersatz für Hans-Peter Friedrich, Ausgleich auf SPD-Seite mit einem Rückzug Oppermanns, Neufestsetzung von Umgangsformen untereinander, um sich dann endlich wieder Wichtigerem und dem Tagesgeschäft widmen zu können?
Einen Vorgeschmack dazu hat die Zeit geliefert, die in ihrer online-Ausgabe am Sonntag die Überschrift „Oppermann bestreitet Fehlverhalten im Fall Edathy“ unter das Rubrum „Kinderpornografie“ gestellt hatte. Das ist die suggestive Botschaft, angesichts des im Raum schwebenden Vorwurfs von „Porno und Kindern“ doch von der Frage abzulassen, wer wen ans Messer geliefert hat, wie es die BamS online noch eine Stunde zuvor zelebriert hatte - es gäbe Wichtigeres zu tun.
Dass Edathy und die Regierungskrise tief ineinander greifen und dies zusammen ein Abbild bundesrepublikanischer Wirklichkeit abgibt, ist aber weniger den unmittelbar beteiligten Personen geschuldet. Sie ist das Ergebnis jahrelanger Personalisierung und Dämonisierung von Straftätern. Denn gleich ob von der lange dienstältesten Justizministerin Deutschlands Beate Merk (CSU) oder aus RTLII das Tremolo der Gattin von Ex-Verteidigungsminister Guttenberg (CSU): „Rettet endlich unsere Kinder!“ war nie und nirgends vom Bemühen um Schutz von deren Leib, Leben oder Freiheit geprägt, sondern allenfalls von Empörung, immer aber von politischem Kalkül.
Der „Fall Edathy“ trägt die Züge einer Hexenjagd
Bereits 2004 hatte der Kriminologe und Soziologe Fritz Sack („Wie die Kriminalpolitik dem Staat aufhilft“) rückschauend festgestellt, dass sich „der Bereich der Sexualstraftaten, in Sonderheit der sexuelle Kindesmissbrauch gleichsam [als] Kristallisationspunkt ungezügelter Strafwut bezeichnen“ lasse. Das schlage sich in klingender Münze der Wählerstimmen nieder und werde so zum selbsttragenden Element, dass Delikte sich für Politiker bezahlt machten. „Der staatliche-strafrechtliche Umgang mit diesem Delikt“ aber harre „in der deutschen kriminologischen Diskussion noch seiner Aufarbeitung und Auseinandersetzung“.
Aufarbeitung und Auseinandersetzung wurden, so können wir weitere zehn Jahre danach feststellen, durch Wahlkampf- und Latrinenparolen ersetzt. Sie haben nicht nur neonationalsozialistischen Gruppen quer durch die Republik ein Alibi für ihre Aufrufe zur Lynchjustiz gegenüber Menschen geliefert, die auch nur gerüchteweise mit Sexualstraftaten in Verbindung gebracht wurden. Sondern haben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Grünen entscheidende Stimmen gekostet: Welcher Wähler ist 2013 angesichts des neuaufgegossenen Pädophilie-Vorwurfs, der hauptsächlich von der CSU kam, nicht wenigstens einen Augenblick zurückgezuckt.
Das derart hergestellte Klima ist dem einer Hexenjagd nicht unähnlich. Wer es nicht so drastisch liebt, dem sei die McCarthy-Ära ins Gedächtnis gerufen. Der kleinste Hauch selbst unterhalb der Verdachtsschwelle genügt, um alles, was noch einen Moment zuvor einen rechtsstaatlichen oder wenigstens zivilen Anstrich getragen hat, fallen zu lassen.
Die Morddrohungen, die mittlerweile gegen Sebastian Edathy ausgesprochen werden, sind dessen Sinnbild: Ohne strafrechtlichen Anfangsverdacht, sondern auf reiner Vermutung basierend, ist das berufliche wie bürgerliche Leben eines Menschen unwiederbringlich zerstört, die nackte physische Existenz zur Überlebensfrage geworden.
Heribert Prantl hat dazu bei SZ-online den bemerkenswerten Satz aufgeschrieben: „Es fällt auf, dass keine Partei es wagt, auf die Unschuldsvermutung hinzuweisen - gerade so, als sei dies anrüchig, als mache man sich schon damit auch selbst verdächtig.“
Im us-amerikanischen Bundesrecht gibt es die Bestimmung in 18 U.S.C. § 241 die mehrere Personen, die einen anderen an der Wahrnehmung seiner Rechte hindern, als Verschwörer unter Strafe stellt. Damit meinte der Gesetzgeber speziell auch die Fälle, in denen ein justizförmiger Prozess verhindert wird, in dem sich der Beschuldigte reinwaschen könnte. „Conspiracy against rights“ nennt sich das, wofür es nicht nur an einer Entsprechung im deutschen Recht fehlt, sondern aus reinem Anstand dem Verfasser dieser Zeilen auch die an sich angemessenen Worte, um den jetzigen Vorgang zu beschreiben.
Wenn es ein Klima gibt, in dem der Verdacht gedeiht, gegen wen richtet er sich als Nächstes?
Die dagegen wohlkalkulierte wie aufgesetzte Wut von CSU-Parteichef und Ministerpräsident Horst Seehofer richtet sich demgemäß auch nicht gegen einen koalitionären Vertrauensbruch. Wenn er von „Schwätzer“ spricht, dann richtet sich der Anwurf gegen jemanden, der absichtlich oder nicht die Tür einen Spalt breit geöffnet hat. Und damit ein Blick darauf ermöglicht wurde, wie mindestens sorglos die Hüter mit Law & Order umgehen. Das Schweigen diente so weniger der Vertraulichkeit als der Verdeckung.
„Wer ein Geheimnis, das ihm als Amtsträger … bekanntgeworden ist, unbefugt offenbart und dadurch wichtige öffentliche Interessen gefährdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“, rezitiert § 353b Strafgesetzbuch. Und ein Minister als Amtsträger hat diese Maßgabe nicht nur wie jeder Staatsbürger zu wahren, sondern kraft Amtseides (Art. 56, 64 Grundgesetz) zu verteidigen. Dazu gehört das Ermittlungsgeheimnis: Es „muss gewahrt bleiben, solange es im Interesse der Untersuchung oder zur Schonung des Beschuldigten geboten ist“, schreiben etwa Gercke/Temming im Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung.
Die Besorgnis, die sich hinter Seehofers Grobheiten verbirgt, gilt den „Ordnungs“konzepten, die seine Partei jahrelang den Menschen angepriesen hat: Der Verdacht, dass der ehemals außerordentlich mächtige Ex-Innenminister seiner Partei konkret gesetzliche Mindestpflichten verletzt haben könnte; dass Gesetz und Ordnung nur eine Frage der politischen Opportunität wenn nicht sogar von Opportunismus sein könnte; dass hinter den verschlossenen Verhandlungstüren der Koalitionäre sich eine Dunkelkammer verbergen könnte, in der gesammelte Informationen gezielt zu „Klimaverbesserungen“ durch Denunziation benutzt worden sein könnten:
Alle diese spekulativen Elemente des Verdächtigens könnten sich nun gegen die Urheber selbst wenden. In der Situation nach „eidesstattlichen Erklärungen“ zu rufen, wie es die CSU bis gestern Abend noch getan hat, ist allenfalls noch ein grotesker Kontrapunkt.
Die Chefsache
Der Befund hat eine andere Qualität als jene noch in Wahlenthaltungen ausgedrückte Politikverdrossenheit, dass „die da oben es sich schon richten“ oder „auch nur mit Wasser kochen“. Und es ist wesentlich banaler als der Aplomb, dass verantwortungsvolle Personen im Bewusstsein „um das große Ganze“ handeln würden.
Sichtbar wird vielmehr die Furcht, dass mit der gleichen Leichtigkeit, mit der Straftäter personalisiert werden konnten, nun auch das Bild der Berufspolitiker zerstört werden könnte, das zunehmend auf persönlicher Glaubwürdigkeit aufgebaut ist. Gelegenheiten, vermittels Verdachts jemanden zu schädigen, gibt es genug, die Causa Wulff hat es bereits gezeigt. Und nicht mehr ohne Weiteres wird es gelingen, eine Verwandtenaffäre unter den Teppich zu kehren, nur weil sie alle Fraktionen des bayerischen Landtags betroffen hat.
Die Angelegenheit zur Chefsache erklärt zu haben, wie in diesen Stunden aus Berlin berichtet wird, gehört zum ausgeprägten Gespür von Angela Merkel für Gefahren, die ihre Kanzlerschaft beeinträchtigen könnten. Anders als der bayerische Esprit seit Stoiber bis Seehofer, jeden noch so kleinteiligen Aspekt zur eigenen Angelegenheit zu machen, ist sie eine exzellente Moderatorin auch bei kniffligsten Angelegenheiten. Eine Lösung darf man sich freilich nicht erwarten, denn dazu gehörte nicht der Ausgleich, sondern die Kontroverse. Das kann sich Merkel III nicht leisten, sie ist vor allem auf die CSU als Wadenbeißer gegenüber der SPD angewiesen.
Damit wird aber dem Schaden zugefügt, was bislang zentrale Achtung genossen hat: Der Rechtsstaat. Daran ändert der Abgang einer seiner schillerndsten Detraktoren und Ex-Minister Friedrich nichts; ihm steht allenfalls die zweifelhafte Ehre zu, eigentlicher Namenspatron dieser Affäre zu sein.
Der mindestens leichtfertigte Umgang mit Schuldvermutungen, Ausforschungsdurchsuchungen, deformierten Informationen aus polizeilichen Erkenntnissen und deren unentwirrbare Vermengung mit politischem Kalkül ist wieder dort angekommen, wo es seinen Anfang genommen hat – bei einem Rat der Dutzend, der in seiner Stimmung weniger denn je die öffentliche Sache einer Republik beachten, umso mehr die Vertraulichkeit pflegen wird. In der Hinsicht hat sich Sigmar Gabriel bereits als stromlinienförmig geäußert. Vertrauen aber sieht anders aus.MS
Kommentare 10
vielen dank für diesen beitrag!
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/edathy-dienstaufsichtsbeschwerde-wegen-kinderpornoprafie-ermittlungen-a-953982.html
http://mobil.fr-online.de/;s=hSS9Pap8GmtC3gFAyqYxEQ06/cms/meinung/edathy-affaere-was-der-fall-edathy-lehrt,4355678,26215294,view,asFitMl.html
Gabriel, Edathy, Oppermann, Friedrich... Worum geht's?
In einer Kultur, in der Menschen auf Konsum konditioniert werden und ihre Leistung als wertvoll gilt, je effektiver es die Normativität des ökonomischen Wahnsinns bestätigt, geilen sich Funktionseliten an Penissen und Popos von Knaben auf...
Wer sich darüber empört, hat diese Kultur in ihrem Wesen noch nicht durchschaut:
ALLES ist in diesem System eine Ware, die gehandelt wird, wenn man dafür einen adäquaten Tauschwert erzielt. Das ist das einfache Prinzip, auf dem das Vermögen und die Macht der Bürgerlichen Mafia beruht.
Dass dieses asoziale System psychische Perversionen erzeugt, ist für den aufgeklärten nichts Neues. Und dass die Bürgerlichen Funktioneliten diesen systemischen Zusammenhang durch moralische Entrüstung im Einzelfall vertuschen wollen, auch nicht...
Ein ausgezeichneter Beitrag. Vielen Dank dafür.
Mittlerweile legt Friedrich, dieser Tollpatsch, sogar noch nach:
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/friedrich-zeigt-sich-in-zdf-interview-fassungslos-a-954096.html
Der Mann ist bar jeder rechtlichen und menschlichen Sensibilität. Denn tatsächlich hat er ja nicht nur seine Pflicht zur Amtsverschwiegenheit massiv verletzt, als er Edhaty auf einen bloßen Zuruf hin bei Gabriel anschwärzte, sondern er hat sich auch keinen Deut darum geschert, dass er Edhaty möglicherweise ruinieren würde, wenn diesem letztlich nichts von Belang vorzuwerfen ist. Gabriel, Oppermann und Steinmeier hatten solche Gedanken offensichtlich auch nicht. Bekümmerlicherweise sind drei der vier Beteiligten Volljuristen, die doch eigentlich wissen sollten, dass man einen Sachverhalt erst beurteilen kann, wenn man ihn vollständig kennt. Die haben den Stab über einem Mann gebrochen, gegen den sie bis heute nichts Konkretes in der Hand haben; Gabriel, Oppermann und Steinmeier sogar als sogenannte Genossen. Und von solchen Typen werden wir regiert. Was für ein jämmerliches Personal!
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Viele Grüße
fos?
Was mich am meisten schockt, ist die Selbstverständlichkeit mit der da öffentlich (!) erzählt wird, wer wem was gesteckt hat. Man plaudert über Geheimnisverrat als wäre es ganz normal so unter Freunden. Ohne jedes Unrechtsbewusstsein. Es geht ja gar nicht darum, dass jemand etwas gravierend falsch gemacht hat, sondern darum, wem man die Panne (denn mehr ist es ja nicht, dass alles öffentlich wurde) in die Schuhe schieben.
Ihr Gewissen ist rein, sie benutzen es nie...
Liebe Grüße
Ismene
Eine faszinierende Affäre, welche ich doch mit dem Namen "Edathy" belegen möchte. Gerade verkündete S. Gabriel, dass S. Edathy aus der SPD wegen parteischädigender Handlungen auszuschließen sei. Staatsanwalt Fröhlich produziert seine Inkompetenz während einer unsäglichen einstündigen Pressekonferenz, deren Aussage sich in wenigen Worten zusammenfassen ließe: "unsere Ermittlungen haben keine strafbaren Handlungen des Verdächtigen ergeben." Minister Friedrich erklärt in der BILD, dass er nicht verstehe, weswegen er wegen einer Affäre der SPD habe abtreten müssen. Fraktionsvorsitzender Oppermann meint, er habe völlig korrekt gehandelt.
Ausnahmslos alle Akteure agieren wie gehirn- und verstandlose Zombies. Sebastian Edathy soll sich in Dänemark aufhalten, der Heimat Hamlets. Ein Fingerzeig?
exzellent Zusammenfassung.
Der Kretin aus der gesellschaftlichen Ehe zwischen Kohls "geistig moralischer Wende" und Schmidts Degoutierung von "Visionen":
die realpolitische Trivialisierung des Bösen ("als Kraft, die moralisch falsches Handeln antreibt").
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die realpolitische Trivialisierung des Bösen ("als Kraft, die moralisch falsches Handeln antreibt").
bei gleichzeitiger kriminalisierung und verteufelung des guten, als gefährlich-zersetzende stimme des herrschenden bösen ...
Hervorragender Beitrag!
Und noch ein Beitrag von Telepolis, in dem das Gerede von Kinderpornografie "Kategorie 1" und "Kategorie 2" analysiert wird.
vor allem im Hinblick darauf, was es für Auswirkungen auf die Auslegung von anderen Straftaten haben könnte, wenn der ges. definierte Tatbestand als "Kategorie 1" bezeichnet wird, der nicht gesetzlich definierte, also legale, als Kategorie 2. Darin steckt eine strafrechtliche Beliebigkeit, die übertragen auf andere Themen auch sehr kritisch zu sehen ist!
Das möchte man nicht wirklich, aber Kinderschutz als das Argument mit dem höchsten Empörungspotenzial überhaupt - damit könnte man nachgeschobene Straftatinterpretationen generell ebenso nachschieben wie die Rechtfertigung der Vorratsdatenspeicherung bzw. der Komplettüberwachung: "man" könnte ja - neben dem immer gern genommenen Terroristen - auch einen Kinderschänder finden. Der gar keine Kinder geschändet hat, auch keine Bilder geschändeter Kinder verwendet hat und der - evtl. gar nichts in der Art gemacht hat, aber auf Basis eines lauen Verdachts öffentlich bereits vernichtet wird.