Grenzregime

Flucht|Migration Mit einem Dekret hat die italienische Regierung die Freiheit der Meere eingeschränkt. Die Sea Watch 3 ist der erste Anwendungsfall

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Wer auf baldige Klärung der Situation von Rackete, der Sea Watch 3 und deren Crew hofft, dürfte enttäuscht werden
Wer auf baldige Klärung der Situation von Rackete, der Sea Watch 3 und deren Crew hofft, dürfte enttäuscht werden

Foto: Federico Scoppa/AFP/Getty Images

Das Schiff eines deutschen Vereins rettet im Mittelmeer mehrere Dutzend Personen. Nach einer wochenlangen Odyssee, während derer kein europäisches Land sich zur Aufnahme der Geretteten bereit erklärt, entscheidet die Schiffsführung, einen italienischen Hafen anzulaufen. Nach längerem Hin und Her macht das Schiff im Hafen fest. An der Mole wartet bereits die Polizei und nimmt Verhaftungen vor. Die Geretteten werden an Land gelassen.

Lässt sich Geschichte wiederholen? Oder vielleicht ändern?

Der Sachverhalt legt die Fragen nahe. Denn er betrifft die "Cap Anamur", die Anfang Juli 2004 im sizilianischen Porto Empedocle einlief, ebenso wie die "Sea Watch 3" dieser Tage auf Lampedusa. Keinen Unterschied macht, dass es nun eine junge, couragierte Kapitänin statt eines älteren, mutigen Seebären ist, die das Schiff befehligt hat.

Carola Rackete ist wie Stefan Schmidt an das älteste aller Seegesetze gebunden: Menschen in Not muss geholfen werden. Beide haben Zivilcourage gezeigt, weil sie "Rettung" zu Ende dekliniert haben: Mit der Anlandung der Menschen an einem "place of safety", wie in internationalen Abkommen geregelt steht und Menschlichkeit es fordert – einem sicheren Platz. Nur an Land wird das teilweise anders gesehen, und spätestens dann wird es politisch.

So politisch wie zu Anfang des Jahrhunderts. Noch gut in Erinnerung ist der damalige deutsche Innenminister Otto Schily (SPD), der kurz nach den Verhaftungen zur Cap Anamur über eine "Schleuser-Aktion" spekulierte und den Verhafteten mit der deutschen Staatsanwaltschaft drohte. Zusammen mit seinem italienischen Ministerkollegen Giuseppe Pisanu (Forza Italia) sprach er von einem "gefährlichen Präzedenzfall". Der Ministerpräsident hieß damals Silvio Berlusconi, und an seiner Regierung war die Lega Nord bereits beteiligt.

So politisch wie jetzt eine italienische Regierung unter maßgeblicher Beteiligung der Lega, die zeitgleich zu den Ereignissen vor Lampedusa das seerechtliche Prinzip der friedlichen Durchfahrt ausgehöhlt hat: Mit dem Dekret Nr. 53 vom 14. Juni 2019, dem sogenannten zweiten Sicherheitsdekret. In ihm wird das Innenministerium, derzeit unter Leitung von Lega-Chef Matteo Salvini, ermächtigt, die Einfahrt in die Territorialgewässer Italiens oder auch nur ihr Durchqueren zu verbieten, wenn der Verdacht bestehe, dass damit gegen Einwanderungsbestimmungen verstoßen werden könnte. Damit entfällt auch das Recht, in einem italienischen Hafen festzumachen.

Das Prinzip der friedlichen Durchfahrt ausgehöhlt

Erst gar nicht an Land lassen, sondern mindestens zwölf Meilen vor der Küste halten: So war es die vergangenen Wochen für die Menschen an Bord der "Sea Watch 3". Und so lautet die Devise des vorläufig wirksamen Dekrets, das in einigen Monaten dem italienischen Parlament zur Bestätigung oder Ablehnung vorgelegt werden muss. Es steht für die Abweisungspolitik der in der Zwischenzeit landesweit erstarkten Lega, deren politischer Führer Salvini keinen Zweifel daran gelassen hat, welche Schiffe er meint.

Nur mit Mühe, schreiben italienische Medien, konnte der Innenminister davon abgehalten werden, sie im Gesetzestext ausdrücklich als Schiffe von Nichtregierungsorganisationen zu benennen. Dafür ist die seit je bestehende Kompetenz des Verkehrsministeriums in Fragen der zivilen Schifffahrt mit der Weisungsbefugnis in Teilen auf das Innenministerium übergegangen. Der politisch gewollte Präzedenzfall mit der "Sea Watch 3" konnte so alsbald geschaffen werden.

Dass zur gleichen Zeit der Auseinandersetzung mit dem Rettungsschiff zahlreiche kleinere Seefahrzeuge mit jeweils fünf oder zehn Flüchtlingen bzw. Migranten auf Lampedusa angelandet sind, interessiert in Rom dagegen kaum jemanden. Von der Presse am Donnerstagnachmittag darauf angesprochen, wich Verkehrsminister Danilo Toninelli (5-Sterne-Bewegung) beharrlich aus.

Nicht so der Bürgermeister von Lampedusa, Salvatore "Totò" Martello. Der Amtsnachfolger von Giusi Nicolini, der auch international bekannten Umwelt- und Menschrechtsaktivistin, ließ am Donnerstag in Sichtweite zur "Sea Watch" keinen Zweifel: "Wenn es um ein Schiff einer NGO geht, scheint es, als ginge die Welt unter, und die Häfen werden geschlossen. Aber hier landen Migranten auch mit anderen Booten an, ohne jede Auseinandersetzung, und wir nehmen sie auf." Und: "Was wir zur Sea Watch sehen, ist eine Inszenierung, eine mediale Inszenierung. Heute Nacht sind 8 Personen an Land gekommen und da hat es keinen geschlossenen Hafen gegeben, so wenig wie an den Tagen zuvor."

Sie ist eine Inszenierung, die für die drei Angeklagten von der Cap Anamur (Kapitän Stefan Schmidt, Erster Offizier Vladimir Daschkewitsch, Vorsitzender des Trägervereins Elias Bierdel) erst nach einem jahrelangen Strafprozess vor dem Amtsgericht in Agrigent endete: Mit einem Freispruch in der mündlichen Verhandlung vom 7. Oktober 2009 und mit der Vorlage der schriftlichen Entscheidungsgründe am 15. Februar 2010.

Dieses Urteil ist, zusammen mit dem aus einem Parallelverfahren gegen die zwei tunesischen Fischer Abdelbassete Jenzeri und Abdelkarim Bayoudh, bislang das größte Hindernis für Abweisungsmaßnahmen auf See. Fulvio Vassallo Paleologo, Menschenrechtsanwalt und Dozent an der Universität Palermo, hat den Tenor folgendermaßen formuliert: "Wer auf See eine Rettungsmaßnahme durchführt, begeht keine Straftat, und der Kommandant eines Schiffes ist die einzige Person, die einen 'sicheren Ort' für die Ausschiffung auch unter juristischen Gesichtspunkten festlegen kann" - selbst gegen den Willen eines Anrainer- oder Küstenstaats.

Inszenierung von Staats wegen

Einleuchtend ist, dass sich die Inszenierung vor Lampedusa auch gegen dieses Urteil richtet. Es ist europaweit das Einzige, das sich dezidiert mit den juristischen und praktischen Grundlagen des Rettungswesens befasst, gerade auch in Abgrenzung zum Europäischen Asylrecht:

"Die Frage bezüglich der Auswahl des Staates, der für Asylanträge zuständig wäre […], stellt sich auf einer anderen, deutlich zu trennenden Ebene von der, die die Anerkennung der Rechtspflichten zum Gegenstand hat, Schiffbrüchige an den nächst gelegenen sicheren Ort zu verbringen, nachdem dieser vom Schiffsführer identifiziert worden ist. […] Es ist offenkundig, dass die Auswahl eines Küstenstaates als place of safety nicht über die Kriterien erfolgt, die von den Dublin-II-Regelungen vorgesehen sind, die sich mit dem Staat beschäftigen, der zur Prüfung von Asylanträgen berufen ist."

Mit anderen Worten: Der umfassende Rettungsbegriff und die daraus sich ergebenden Pflichten auch der Küstenstaaten bei der Ausschiffung der Geretteten richten sich nicht nach einem ohnehin noch nicht festgestellten Status (Staatsangehörigkeit, Herkunft, Verfolgter, Flüchtling, Asylbewerber oäm.), sondern ergeben sich aus der spezifischen Rettungssituation auf See.

Die Blockade auf dem Meer, zwölf Meilen vor der Küste, wird die Statusklärung erst recht nicht ermöglichen, sondern soll die Zurückweisung scheinlegal zementieren.

Wer auf baldige Klärung für Rackete, Sea Watch 3 und die Crew hofft, dürfte enttäuscht werden. Eine schnelle Entscheidung der italienischen Justiz wird es schon deshalb nicht geben, weil es auch um die Frage geht, ob und unter welchen Voraussetzungen mit einem nationalen Gesetz, so es vom Parlament bestätigt wird, gegen die Freiheit der Meere verstoßen werden darf. Hier ist der Instanzenzug vorprogrammiert.

Nur eines wird ganz schnell gehen: Wie 2004 auch jetzt die Namen und die Schicksale der Geretteten zu vergessen.

Vor zwei Jahren entstand die Serie "Libyen und auf Nimmerwiedersehen" bei die Ausrufer: Eine Rekonstruktion der Seenotrettung mit der "Cap Anamur" seit den 1970er Jahren im südchinesischen Meer und deren Parallelen zur "Sea Watch 2".

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

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