Die Stimmung war vorsichtig optimistisch, vergangenen Freitag am Sitz der ausländischen Presse in Rom. Vorgestellt wurde das Buch des in Italien lebenden Journalisten Teodoro Andreadis Synghellakis “Alexis Tsipras. Meine Linke”. Ein ausführliches Interview, in dem der Parteichef der am Sonntag in Griechenland erfolgreichen Syriza (Vereinte Soziale Front) auch direkt das italienische Publikum anspricht. Denn in vielerlei Hinsicht ähneln sich die Schwierigkeiten, in denen sich die Menschen der beiden Länder befinden – nur die Wege zu deren Lösung könnten kaum unterschiedlicher sein.
Im Gespräch lässt Tsipras keine Zweifel aufkommen: Der Intervention der Troika, maßgeblich inspiriert von Merkels Austeritätspolitik und umgesetzt „von mittelmäßigen Beamten mit begrenzten ökonomischen Kenntnissen, die in Privatunternehmen allenfalls Computer ein- und ausschalten dürften“ gilt seine unmittelbare Aufmerksamkeit.
In der Tat sitzt dieser Stachel besonders tief. Dem Einsatz des Kontrollgremiums aus Vertretern von Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission entspricht die faktische Entmündigung des griechischen Souveräns. Das schmerzt umso mehr, als erst kürzlich für Deutschland das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem ESM-Rettungsschirm das "Königsrecht des Parlaments" -dessen Recht auf Letztentscheidung in Haushaltsfragen- gegenüber dem Exekutiv verteidigt hat: Worte wie Dringlichkeit oder Alternativlosigkeit haben bei dieser Prärogative keine Rolle zu spielen, so die Hüter der deutschen Verfassung zum Prinzip der Gewaltenteilung.
Die Schreckensvision: Eine Kuratel im eigenen Haus
Die Schreckensvision, einen Haushaltskommissar im eigenen Haus vorzufinden, hat die Budgetdiskussionen in Italien spätestens seit Herbst 2011 beherrscht. Als Ausweg aus dem ungezügelten Klientelismus des vierten Exekutivs Berlusconi und der darauf aufbauenden katastrophalen Haushaltspolitik bot sich im November beim G20-Gipfel in Cannes die Unterwerfung der Schuldensituation unter eine euphemistisch Monitoring genannte Aufsicht durch den Internationalen Währungsfonds. Im Dezember trat Berlusconi zurück, denunzierte die „aufoktroyierte Sparpolitik“ und löste damit eine der tiefsten politischen Krisen seines Landes aus.
Wie in Griechenland haben rigide Sparpolitik, Einschnitte in die letzten Reste der sozialen Netze und die sogenannte Liberalisierung des Arbeitsmarktes weder der Schuldensituation Italiens noch der Not seiner Menschen aufgeholfen. Die Wähler haben dies mit dem Erfolg der 5-Sterne-Bewegung quittiert, die bei den Parlamentswahlen vom Februar 2013 aus dem Stand 25,5% der Stimmen auf sich vereinte.
Allerdings setzt hier die Kritik von Tsipras an. „Meine Komplimente für den erreichten Erfolg“, meinte der nun Gekürte bereits im Februar 2014 in Richtung Beppe Grillo und dessen Fundamentalopposition, „aber es reicht nicht, immer nur ‘Nein‘ zu sagen, man muss auch eine Alternative präsentieren können.“ Der Chef der Bewegung erscheine ihm wie einer, „der laut pfeifend so tut, als ginge ihn das alles nichts an, um dann tatsächlich keine Wahl zu treffen.“ Noch schneidender sein Urteil zum aktuellen, sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi: „Mein Altersgenosse antwortet auf die Krise mit den gleichen Rezepten von Merkel.“
Der umgekehrte Blick auf den jetzigen Wahlsieger schwankt zwischen Hoffnung und Desillusion. Dass ein Schuldenschnitt, wie ihn Tsipras anstrebt, nicht nur volkswirtschaftliche, sondern historische Dimensionen haben kann, daran -> erinnerte die Journalistin und heutige Europa-Abgeordnete Barbara Spinelli im November 2013 in ihrem Artikel „Prozess gegen ein selbstvergessenes Deutschland“.
Tsipras weckt amivalente Gefühle
Nicht nur an die Tatsache sei zu erinnern, dass der Nachlass im Londoner Schuldenabkommen von 1953 den Aufstieg Deutschlands zur Wirtschaftsmacht erst möglich gemacht habe, sondern an die geschichtliche Lektion. Das Festhalten an Schuld und Zins wirke sich als eine Sanktion aus, die sich selbst die Siegermächte versagten. Es war dies eine der reflektierteren Begründungen des verbreiteten Unbehagens im Angesicht des neuen Hegemons in der Mitte Europas, das sich in der -> Leserumfrage vier großer europäischer Zeitungen im Vorfeld der deutschen Bundestagswahlen 2013 abzeichnete.
Mit Tsipras hat erstmals ein Politiker die Bühne betreten, der anders als populistische Euro-Skeptiker den Weg der konstruktiven Euro-Kritik zu gehen verspricht. Das ist etwas anderes, als die 5-Sterne-Bewegung, die das Ausscheiden Italiens aus der Euro-Zone tout-court, notfalls auch aus der Europäischen Union fordert. Und es ist auch etwas anderes als die medial vielversprechenden Ankündigungen von Matteo Renzi, sich gegen die Austerity von Angela Merkel wenden zu wollen, ohne dem Versprechen Taten folgen zu lassen.
Das ist vielmehr Teil der weit verbreiteten Desillusion in Italien, die vor 20 Jahren begann, als der ehemalige sozialistische Ministerpräsident Bettino Craxi seinem Freund und Helfershelfer Berlusconi zur Politik riet, es „wird dir reichen, ein Etikett, einen Behälter zu organisieren [um] den Teil der Wählerschaft zurück gewinnen, der verzweifelt und desorientiert […] ist.“ Für die alte Politik in neuen Schläuchen steht auch Matteo Renzi. Sein aufgesetzter, jugendlicher Elan, mit der alten politischen Klasse aufräumen zu wollen, ist an die Grenze des Erträglichen gestoßen: Bei den Regionalwahlen in der politisch sonst hoch motivierten Emilia-Romagna vom November 2014 brach die Wahlbeteiligung von rund 68% in 2010 auf gerade einmal 37,7% ein.
Die erfahrene Ambivalenz drückt sich kaum deutlicher aus als in dem Schweigen, in das sich die ersten Garnituren der italienischen Politik zur Stunde noch hüllen. Denn auch das ist unabweisbar: Wer dem Wahlsieger zu überschwänglich gratuliert oder ihn sich betont diplomatisch vom Leib hält, wird dessen (Miß)Erfolg teilen, über Griechenland hinaus auch eine neue europäische wirtschaftliche wie ökonomische Inspiration darzustellen – zu sehr drückt der Schuh tatsächlich selbstgemachter Probleme, zu sehr lastet die Furcht, sich mit einem machtbewussten Deutschland im Zentrum anzulegen.
Eine Wiederentdeckung der Grundbedürfnisse
Auch ist die Frage derzeit nicht endgültig geklärt, mit wem Syriza die erforderliche Koalition eingehen wird. Bliebe es bei der sich abzeichnenden mit Anel, wäre die Enttäuschung bei all denen groß, die im Guten wie im Schlechten ein genuin linkes Projekt am Start sehen wollten. Und schließlich: Italien ist als Geldgeber selbst mit rund 40 Milliarden Euro und damit als drittgrößter Gläubiger nach Deutschland und Frankreich am Schuldenberg Griechenlands beteiligt. Gleichzeitig das Land zu sein, das die zweithöchste Staatsverschuldung in Europa vorzuweisen hat, macht die Lage keineswegs übersichtlicher.
Stefano Rodotà, der zu Tsipras Interviewbuch das Vorwort verfasst hat, meinte bei der Präsentation, ein Wahlsieg wäre kein vom Himmel fallendes Wunder. Mit historischem Bewusstsein, so der Hochschullehrer und frühere unabhängige Abgeordnete auf der Liste der kommunistischen Partei im römischen Parlament, habe Tsipras „den Zusammenhang zwischen Politik, Rechten und materiellen Bedingungen der Menschen wieder hergestellt“, sein Programm sei „auf die Grundbedürfnisse der Menschen ausgerichtet“. Das personifizierte Gegenteil, Massimo D’Alema, saß bei diesen Worten neben Rodotà auf dem Podium. Einziger Ministerpräsident mit dezidiert kommunistischer Vergangenheit, ist der Liebhaber teurer Segelyachten der Inbegriff machiavellistischer Machtausübung und damit des Niedergangs der res publica.
Die Herausforderungen für den neuen Star am Politikhimmel werden nicht nur die Probleme seines Landes sein, die die beinahe aller Peripherieländer der Europäischen Union sind: Katastrophale Jugendarbeitslosigkeit, strukturelle Defizite der öffentlichen Hand, Entpolitisierung. Sie werden auch lauten, sich vor den Vereinnahmungen derer zu schützen, die im politischen Kleid sich einen Habitus zu eigen gemacht haben, vor allem an sich selbst zu denken oder bestenfalls eigene Verfehlungen vergessen zu machen.
Ob Tsipras, vom Volk getragen, die dafür erforderlichen Standfestigkeit und Reife mitbringt, muss sich erst weisen. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass Demos griechisch dekliniert wird. MS
Kommentare 7
Ich bin auch sehr gespannt, wie sich die Dinge in Griechenland entwickeln. Der Blick gleichzeitig auf Italien ist auch sehr infomativ.
Das schmerzt umso mehr, als erst kürzlich für Deutschland das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem ESM-Rettungsschirm das "Königsrecht des Parlaments" -dessen Recht auf Letztentscheidung in Haushaltsfragen- gegenüber dem Exekutiv verteidigt hat: Worte wie Dringlichkeit oderAlternativlosigkeit haben bei dieser Prärogative keine Rolle zu spielen, so die Hüter der deutschen Verfassung zum Prinzip der Gewaltenteilung.
Nachfrage. Meinen Sie das Urteil vom 18. März vorigen Jahres? Da wurde eher von ziemlicher Enttäuschung durch die Klagenden berichtet. Denn das BVG hat doch den Beitrtt zum Rettungsschirm "genehmigt". Von Auflagen war da die Rede, die das Parlament stärken. Wahrscheinlich im gesamten Urteilstext, in den Berichten darüber fand ich nicht allzuviel.
Die Entscheidung ist in der Tat die vom 18.03.2014, 2 BvE 6/12, Pressemitteilung des Gerichts hier, Volltext hier. Soweit die Verfassungsbeschwerde für zulässig erklärt wurde, führt das Gericht zur Unbegründetheit aus: Der Gesetzgeber (Zitat Presseerklärung) „darf sich namentlich seines Budgetrechts nicht begeben, auch nicht in einem System intergouvernementalen Regierens. Für die Einhaltung des Demokratiegebots kommt es entscheidend darauf an, dass der Bundestag der Ort bleibt, an dem eigenverantwortlich über Einnahmen und Ausgaben entschieden wird, auch im Hinblick auf internationale und europäische Verbindlichkeiten […] Aus der demokratischen Verankerung der Haushaltsautonomie folgt, dass der Bundestag einem intergouvernemental oder supranational vereinbarten, nicht an strikte Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder Leistungsautomatismus nicht zustimmen darf, der - einmal in Gang gesetzt - seiner Kontrolle und Einwirkung entzogen ist. Das Demokratieprinzip gebietet es zudem, dass der Bundestag an diejenigen Informationen gelangen muss, die er für eine Abschätzung der wesentlichen Grundlagen und Konsequenzen seiner Entscheidung benötigt.“
Tsipras hat Yanis Varoufakis wird Regierung holen. Im englischsprachigen Raum ist er einigermaßen bekannt als "Erklärer" der jüngsten Schuldenkrise. Wer ihn reden hört und seine Texte liest, der bekommt das Gefühl, dass da jemand erstens Ahnung hat, wovon er redet, und zweitens dies auch noch auf integre Art und Weise tut.
Dass so jemand mal in Regierungsverantwortung kommt, ist echt irre. Wenn ihn sein Beamtenapparat nicht boykottiert (ohne den kann ein Minister nullkommanix erreichen), dann wird Y. V. wirklich etwas reißen in Griechenland.
Allein diese Personalie macht mich sehr, sehr neugierig auf den Kurs der neuen griechischen Regierung. Und natürlich bin ich auch gespannt, wie der Rest von Euro-Land darauf reagiert.
Das nenne ich mal Regierungsbildung! Wenn ich die Tage und Wochen der Sondierungen und Koalitionsverhandlungen in Thüringen gegenüberstelle... wird mir schlecht.
Man wieder Danke für den Kommentar. Und hier der offene Brief von ihm an die Deutschen
http://radio-korfu.de/in-einem-offenen-brief-an-das-handelsblatt-wendet-sich-a-tsipras-an-die-deutschen-lesenswert/
In meiner Zeit als Betriebsrat kamen nicht selten Kollegen zu mir, um einen Lohnvorschuss zu bekommen. Beim gemeinsamen Gang zum Lohnbüro war zu erfahren, dass wegen Lohnpfändungen absehbar zu wenig in der Tüte war und sein würde. Der Kollege wurde zur Schuldnerberatung gedrängt. Dort wollte er nicht hin, weil er dann keinen neuen Kredit mehr bekäme...! Die Schuldnerberatung sorgte allenfalls durch Umschuldung zu günstigeren Bedingungen für einen "neuen" Kredit an Stelle des alten. Und erklärte den Banken, nachdem die Lohnpfändung auf das zulässige verringert war, was sie an Rückzahlung erwarten könne. Ich enthülle hier kein Geheimnis: Der Bank muss erklärt werden, dass sie zuviel Kredit gewährt hat, und deshalb auf einen Teil verzichten muss, um überhaupt etwas zu bekommen. Das tut Banken weh. Man muss unseren Regierungen sehr zur Seite treten, damit sie sich trauen, den Banken weh zu tun. Wenn wir das verstanden haben, dann steht Tsipras eher mit als gegen uns. Und Podemos in Spanien verschärft die Zwickmühle deutscher Politik, dass nach der Finanzkrise die Reichen reicher geworden sind (Oxfam/Davos). Jetzt wäre es toll, wenn im DGB die Erkenntnis zunähme, dass die Interessen der Banken nicht die Interessen seiner Mitglieder sind. Man stelle sich vor, nach guter Vorbereitung würde in Deutschland auf der Strasse Anschluss an Podemos hergestellt. Dann hätte der "gesunde Menschenverstand", an den Tsipras im Handelsblatt zurecht appelliert, wirklich eine Chance.
Die Entschlossenheit und den Tatendrang vermisse ich oft bei unseren Politikern. Ich bin sehr gespannt, wie es weiter geht.