Rien ne va plus

Eliten Wie sich die Welt spaltet und die Digitalisierung die Wut derer verstärkt, die sich vom großen Spiel ausgeschlossen fühlen
Ist das schöne Leben bald vorbei?
Ist das schöne Leben bald vorbei?

Foto: Annie Spratt/Unsplash

Dieser Text erschien zuerst in der Römer Tageszeitung „La Repubblica“ und online auf der Präsenz des Kulturmagazins The Catcher

„There is no Alternative“ M.Thatcher

Zusammengefasst, also: Eine bestimmte Übereinkunft zwischen den Eliten und den Leuten ist in die Brüche gegangen, und jetzt haben die Leute entschieden, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Das ist kein wirklicher Aufstand, noch nicht, aber eine unerbittliche Abfolge von sturen Versteifungen, plötzlichen Schachzügen, scheinbaren Abweichungen vom Hausverstand, wenn nicht sogar von der Vernunft. In ihrem Wahlverhalten oder wenn sie auf die Straße gehen, senden die Leute obsessiv eine sehr klare Nachricht aus: Sie wollen den Eintrag in die Geschichtsbücher, dass die Eliten gescheitert sind und gehen müssen.

Alessandro Baricco (1958) ist italienischer Autor und Journalist. Einem großen internationalen Publikum ist er erstmals mit dem Theatermonolog "Novecento" (1994) bekannt geworden, der 1998 von Filmregisseur Giuseppe Tornatore ebenso erfolgreich als "Die Legende vom Ozeanspieler" für das Kino adaptiert wurde. Bariccos jüngstes Werk ist The Game, erschienen im Oktober 2018 beim Verlag Einaudi (italienisch).

Der vorliegende Essay ist am 11. Januar 2019 in der in Rom erscheinenden Tageszeitung La Repubblica unter dem Originaltitel „E ora le élite si mettano in gioco“ erschienen. Unter dem gleichen Titel wurde der Text am 14. Januar auf der Präsenz des Kulturmagazins The Catcher online gestellt.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors, übertragen aus dem Italienischen von Marian Schraube

Wie zum Teufel konnte das passieren?

Verstehen wir erst einmal, wer diese famosen Eliten sind. Der Arzt, der Hochschullehrer, der Unternehmer, die Führungskräfte des Unternehmens, in dem wir arbeiten, der Bürgermeister eurer Stadt, die Anwälte, die Broker, viele Journalisten, viele erfolgreiche Künstler, viele Geistliche, viele Politiker, diejenigen die in den Verwaltungsräten sitzen, ein Gutteil derer, die im Stadion auf der Tribüne ihren Platz haben, alle mit mehr als 500 Büchern zuhause. Die Grenzen der Kategorie mögen zwar fließend sein, aber die Eliten sind sie, eben diese Menschen.

Sie sind wenige (in den Vereinigten Staaten einer von zehn), sie besitzen einen hübschen Anteil am vorhandenen Geld (ich mache keine Scherze, in den Vereinigten Staaten sind das acht Dollar von zehn), sie besetzen ein Großteil der Machtpositionen. Zusammenfassend: Eine reiche und sehr mächtige Minderheit.

Aus der Nähe betrachtet zeigen sie sich meist als Menschen, die viel studieren, die sozial engagiert, kultiviert, sauber, vernünftig, gebildet sind. Das Geld, das sie ausgeben, haben sie zum Teil ererbt, zum Teil verdienen sie es täglich mit Schufterei. Sie lieben ihr Land, glauben an das Leistungsprinzip, an die Kultur und an einen gewissen Respekt für Regeln. Sie können links wie rechts sein.

Wobei, bin ich geneigt hinzuzufügen, ein überraschendes Maß an moralischer Blindheit sie daran hindert, die Ungerechtigkeit und die Gewalt zu sehen, die das System aufrecht erhält, in das sie glauben. Ihre Nachtruhe ist also ungetrübt, wenn auch häufig mithilfe von Psychopharmaka.

Sie verteidigen ihre Community

Kraft dieser Weltläufigkeit leben sie in einem geschützten Habitat, das nur wenige Interaktionen mit den übrigen Menschen zulässt. Die Stadtviertel in denen sie leben, die Schulen auf die sie ihre Kinder schicken, die Sportarten die sie betreiben, die Reisen die sie unternehmen, die Kleider die sie tragen, die Restaurants in denen sie essen – alles in ihrem Leben grenzt sich in einer von innen geschützten Zone ein, aus der heraus diese Privilegierten ihre Community verteidigen, die sie auf ihre Kinder übertragen und ein Eindringen von Neuankömmlingen von unten äußerst unwahrscheinlich machen. Von diesem eleganten Naturpark aus halten sie die Welt bei den Eiern. Oder, wenn man so will, halten sie sie aufrecht. Oder retten sie sogar.

In letzter Zeit hat die erste Alternative Platz gegriffen. An der Stelle ist der stillschweigende Pakt zu Bruch gegangen, von dem die Rede ist und den ich so umschreiben würde: Die Leute räumen den Eilten gewisse Privilegien ein, sogar eine Art nebulöse Straflosigkeit, wofür die Eliten die Verantwortung übernehmen, einen gemeinsamen Raum, in dem jeder besser leben kann, zu schaffen und zu garantieren. Für die Praxis übersetzt wird damit eine Gemeinschaft beschrieben, in der die Eliten an einer besseren Welt arbeiten und die Leute den Ärzten glauben, die Lehrer ihrer Kinder respektieren, den Zahlen der Ökonomen vertrauen, den Journalisten zuhören und, so man will, den Priestern glauben. Ob es nun gefällt oder nicht, die westlichen Demokratien haben ihr Bestes gegeben, als sie Gemeinschaften dieser Art waren, als der Pakt funktionierte, stabil war und Ergebnisse lieferte. Jetzt lautet die Nachricht, die uns Schwierigkeiten bereitet: Den Pakt gibt es nicht mehr.

Vor zwanzig Jahren begann er, brüchig zu werden – nun fällt er auseinander. Das passiert dort schneller, wo die Leute aufgeweckter (oder verzweifelter) sind. In Italien zum Beispiel: Hier haben die Leute begonnen, nicht einmal mehr den Ärzten oder Lehrern zu vertrauen. Was die politische Macht angeht, haben sie sie zuerst einem Superreichen übertragen, der die Eliten hasste (ein Trick, den die Amerikaner später nachahmen werden), dann haben sie es ein letztes Mal mit Renzi versucht, wobei sie ihn mit jemandem verwechselten, der mit den Eliten nichts zu schaffen hatte. Zum Schluss haben sie den Pakt entschlossen zerrissen und sich selbst zum Kommando aufgeschwungen. Was war es, was sie so wütend hat werden lassen?

Eine erste Antwort ist einfach: Die ökonomische Krise. Zunächst haben die Eliten sie nicht kommen sehen. Dann haben sie gezögert, sie einzuräumen. Schließlich, als alles bereits ins Rutschen geraten war, haben sie sich selbst abgesichert und die Lasten den Leuten aufgebürdet. Können wir behaupten, dass das wirklich so passiert ist, wenn wir an die Krise 2007-2009 zurückdenken? Ich weiß es nicht mit Gewissheit, aber es ist eine Tatsache, dass das die Wahrnehmung der Leute ist. Als die Notlage überwunden war, haben sich also die Leute daran gemacht, sozusagen ein paar Rechnungen zu begleichen.

Sie sind hergegangen und haben sich buchstäblich ihr Geld zurückgeholt: Das bedingungslose Grundeinkommen oder der Erlass von Steuern sind genau das. Sie sind keine Wirtschaftspolitik oder Zukunftsvisionen: Sie sind Schuldeneintreibung.

Die Eliten verlieren ihre Monopole

Der zweite Grund ist etwas komplizierter, und ich habe ihn erst wirklich verstanden, als ich die digitale Revolution untersucht und dazu The Game geschrieben habe. Ich würde das so zusammenfassen: Alle digitalen Geräte, die wir täglich benutzen, haben einige gemeinsame Wesenszüge, die von einem bestimmten Blickwinkel auf die Welt künden, den die Pioniere des Games hatten. Einer dieser Züge ist entschieden libertär: Die Macht zu pulverisieren und an alle zu verteilen. Typisches Beispiel: Einen Computer auf den Schreibtisch eines jeden Menschen stellen. Oder nach Möglichkeit in seine Taschen. Die Tragweite kann gar nicht überschätzt werden. Die Leute können heute mit dem Smartphone in der Hand unter vielen diese vier Dinge tun: Auf alle Informationen der Welt zugreifen, mit jedermann kommunizieren, die eigene Meinung vor einem enormen Publikum kundtun, Gegenstände ausstellen (Fotos, Erzählungen, was immer sie wollen), in denen die eigene Vorstellung von Schönheit ruht. Zur Klarstellung: Zu diesen vier Handlungen waren in der Vergangenheit nur die Eliten in der Lage. Es waren genau die Handlungen, auf denen die Identität der Eliten gründete. Im 17. Jahrhundert etwa waren es in Italien vielleicht ein paar hundert Personen, die das konnten. Zu Zeiten meines Großvaters vielleicht ein paar tausend Familien. Heute? Jeder zweite Italiener hat ein Facebook-Profil, jeder mag daraus seine Schlüsse ziehen.

Es sollte verstanden werden, dass auf diese Weise das Game Jahrhunderte alte psychologische Grenzen eingerissen hat, indem die Leute darin trainiert wurden, in das Territorium der Eliten einzudringen und so den Eliten die Monopole weggenommen wurden, aufgrund derer sie auf mythische Weise unberührbar waren. Klar ist: Ab da versprach die Lage, explosiv zu werden.

The Game verteilt Macht neu, aber nicht das Geld

Vielleicht wäre auch gar nichts passiert, gäbe es nicht den weiteren Wesenszug des Games, eine fatale Ungenauigkeit. Das Game hat die Macht neu verteilt oder wenigstens die Möglichkeiten – aber es hat nicht das Geld neu verteilt. Im Game gibt es nichts, das daran wirken würde, den Reichtum neu zu verteilen. Das Wissen, die Möglichkeiten, die Privilegien – das ja. Den Reichtum: nein. Die Dyssimmetrie ist offensichtlich. Sie konnte auf lange Sicht nichts anderes als eine soziale Wut erzeugen, die sich langsam wie eine riesige Benzinlache ausgebreitet hat. Sicher habe ich schon erwähnt, dass dann die Wirtschaftskrise ein Streichholz dort hinein geworfen hat. Zündung.

Was dann geschehen ist, wissen wir, aber nicht immer wollen wir es wirklich wissen. Weil es gerade passt, fasse ich es zusammen. Die Leute haben sich aufgemacht, die Macht an sich zu nehmen, ohne dabei einen gewissen Aplomb zu verlieren. Und sogar in geordneter Weise, aber mit derartiger Selbstsicherheit und fehlender Ehrfurcht, wie es seit Zeiten nicht zu sehen war. Überwiegend geschah das mit Wahlen. Wofür? Das Gegenteil dessen, was die Eliten empfahlen. Wen? Jeden, der nicht Teil der Eliten war oder von diesen gehasst wurde. Welche Vorstellungen? Jede die das Gegenteil von dem war, was sich die Eliten dachten. Einfach, aber effizient. Kann ich ein Beispiel nennen, das zwar unangenehm ist, die Lage aber gut zusammenfasst? Europa.

Die der Europäischen Einigung ist offensichtlich eine Vorstellung, die von den Eliten geprägt wurde. Für sie war niemand auf die Straße gegangen oder hatte sie lauthals eingefordert. Sie ist die Eingebung einiger Erleuchteter, was sich leicht erklären lässt: Erschrocken von dem, was sie im 20. Jahrhundert angestellt hatte und von zwei großen amerikanischen und sowjetischen Mächten bedrängt, hat die europäische Elite verstanden, dass es sich für sie lohnen würde, diese grausamen und uralten Kämpfe bleiben zu lassen, die Grenzen aufzuheben und eine einzige politische und ökonomische Kraft zu bilden.

Natürlich war das kein Plan, der sich besonders leicht würde umsetzen lassen. Jahrhunderte lang hatte die Elite daran gearbeitet, das nationalistische Empfinden zu konstruieren, das benötigt wurde, um sich zu behaupten. Das gilt selbst für den Hass auf den Ausländer, der von Vorteil war, wenn es um die nächste Rauferei ging. Jetzt aber musste alles wieder abgebaut und die Marschrichtung umgekehrt werden.

Für dieses Europa war niemand auf die Straße gegangen

Früher hatte sie Millionen Soldaten gebraucht, jetzt benötigte sie Millionen Pazifisten. Leute, die gerade damit aufgehört hatten, sich gegenseitig mit dem Bajonett die Kehle durchzuschneiden, sollten sich in ein einziges Volk verwandeln, mit einer gemeinsamen Währung und einer einzigen Fahne – nicht wirklich ein Spaziergang. Mit zweifellos großem Geschick setzte die Elite also das Modell der Europäischen Einigung durch, in der wir ein hohes dramatisches Potential erkennen können. Einmal vollendet, sollte die Einigung unumkehrbar sein. Dabei rissen sie auch Brücken hinter sich ein, damit bei den Leuten (oder auch andersdenkenden Fraktionen der Eliten) keine Lust auf Rückkehr aufkäme. Sie würden es nicht tun, weil es technisch unmöglich sein würde. Wenn irgendwelche Zweifel aufkamen, war Geduld die Methode. In "Le Monde Diplomatique" (gewiss kein populistisches Informationsorgan) las ich kürzlich eine hübsche kleine Zusammenfassung, die ich mir erlaube, hierher zu übertragen:

„1992 stimmten die Dänen gegen das Abkommen von Maastricht. Sie wurden gezwungen, nochmals zu den Urnen zu gehen. 2001 stimmten die Iren gegen das Abkommen von Nizza. Sie wurden gezwungen, nochmals an die Urnen zu gehen. 2005 stimmten die Franzosen und die Holländer gegen den Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE). Er wurde ihnen später unter dem Namen eines Abkommens von Lissabon auferlegt. 2008 stimmten die Iren gegen das Abkommen von Lissabon. Sie wurden gezwungen, nochmals zu den Urnen zu gehen. 2015 haben 61,3% der Griechen gegen den Sparplan aus Brüssel gestimmt. Er wurde ihnen trotzdem aufgezwungen.“

Man muss es zugeben, das ist eine beeindruckende Litanei. Sie sagt uns, dass es keinen Plan B gab. There Is No Alternative. Der offensichtlich elitäre Zug des Vereinten Europas vertiefte sich, als Europa Wirklichkeit wurde und das europäische Machtsystem Wurzeln schlug: Die Institutionen, die Regierungsorgane und sogar die zu Regierungsaufgaben abgeordneten Personen.

Kaum etwas verdeutlicht das mehr als die Vorstellung einer vielleicht weisen, aber fernen, unerreichbaren Elite, Trägerin von unverständlichen Begründungen und Zahlen, die sich selten der realen Lebensumstände der Leute bewusst ist. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass sie gelegentlich etwas für die Leute tut. Aber ihre vordringlichste Aufgabe scheint darin zu bestehen, endgültig daran zu erinnern, dass es die gibt, die auf dem Klavier spielen und die, die das Klavier die Treppe hochschleppen. Die Elite spielt die Musik.

So haben sich die Leute, kaum dass sie von dem Pakt genug hatten, sofort gegen sie gewandt. Europa war das augenfälligste Symbol, das unmittelbar am Horizont sichtbare Ziel. Europa hatte eine Aura der Unbesiegbarkeit, die aber nur für die Elite funktionierte, wie man am Tag nach dem Referendum über den Brexit entdeckt hat. Für die anderen Bürger des Games war der Zauber dagegen in die Brüche gegangen. Können wir im Lichte von alle dem sagen, dass die Leute gegen Europa sind? Nein, wir können das nicht wirklich behaupten. Gegen dieses Europa, gegen ein Europa als Symbol des Primats der Eliten, dagegen ja. Europagegnerschaft ist heute eher Elitengegnerschaft. Schon hat sich der Begriff breit gemacht: Das Europa der Völker. Das will ansonsten nicht viel heißen, aber in einer Hinsicht ist es glasklar: Nicht die Einheit als solche wollen wir zerbrechen, sondern die, wie sie von den Eliten gewollt und praktiziert wird.

Foto: Daniel Leal-Olivas/AFP/Getty Images

Europa ist nur ein Beispiel. Was ich zu sagen versuche, ist, dass es Zeitverschwendung ist, die Zweckmäßigkeit all dessen zu wägen, was die Leute anscheinend wollen (ob die Rückkehr zur Lira, die Abschaffung der Straßenmaut oder die Impffreiheit), wenn nicht gleichzeitig das mitbedacht wird, was die Leute wirklich wollen: Sich von den Eliten befreien. Das ist der Punkt, und da muss man sich bücken und genau hinschauen, auch wenn es mühevoll ist oder man sich davor ekelt oder ängstigt. Denn das ist der genaue Punkt, an dem sich die entscheidende Schlacht um unsere Zukunft entzündet.

Wollte man wirklich genau hinsehen, wird als erstes festzustellen sein, wie die Elite reagiert hat, als sie angegriffen wurde.

Sie hat sich in ihren Gewissheiten verhärtet, indem sie rasch ein Narrativ aufgesetzt hat, das die Dinge in Ordnung bringen sollte: Die Leute haben sich um ihren Verstand gesoffen, möglicherweise wurden sie von einer unverantwortlichen neuen Generation von Anführern verleitet, die bereit ist, schmutzig zu spielen und gleichzeitig schlau genug, sich unter Umgehung eventueller Intelligenz an die Mägen der Leute zu wenden. Unbestimmte und falsche Begriffe wie Fake-News, Populismus, wenn nicht gleich Faschismus wurden geprägt, um die Botschaft leichter zu verbreiten und die Aufrührer unterschiedslos zu etikettieren. Im Hintergrund, eine Gewissheit: There Is No Alternative, wie ein Mantra wiederholt, wie eine Obsession kultiviert, ausgesprochen als Vorhersage und Drohung zugleich.

Reaktionen auf beiden Seiten

Es scheint, als hätte sich die Elite nie Einhalt geboten und gefragt, ob sie nicht vielleicht doch irgendwo Fehler gemacht haben könnte, die so grob waren, dass sie das jetzige lawinenartige Durcheinander provoziert haben. Hätte sie es getan, wäre ihr sicher nicht schwer gefallen, wenigstens drei Phänomene auszumachen, die mir wie vielen anderen völlig klar sind:

1. Ihre Vorstellung von Entwicklung und Fortschritt schafft keine soziale Gerechtigkeit, sondern verteilt den Reichtum wie im Rauschzustand, zerstört Arbeit, wo sie sie generieren könnte, überlässt kaum kontrollierbaren Kapitalmächten das Zentrum des Kräftespiels, gründet sich nach wie vor auf der scharfen Kontrolle der schwachen Zonen des Planeten und setzt doch die Erde aufs Spiel in der Vergessenheit, dass sie das Heim für alle ist und nicht die Abfallhalde für wenige.

Foto: Fox Photos/Hulton Archive/Getty Images

2. Die Eliten sind seit geraumer Zeit von tiefer Trägheit erfasst, einer Art Hypnose, aus der sie trotz der Entwicklung raffinierter Theoreme im Ergebnis einen einzigen Gedanken ableiten: There Is No Alternative. Man kann feststellen, dass sie auf nichts mehr reagieren, sie sind von sich selbst hypnotisiert, sie haben völlig den Kontakt verloren zu dem Leben, das die Leute führen. Mehr als die Hälfte ihrer Zeit verbringen sie damit, sich selbst zu huldigen und es sich zu richten. Sie bringen Geschichte zum Stillstand, und sie formen Erben, die unfähig sind, andere Gedanken zu fassen als die ihrer Väter.

3. Ein einziges Mal in den vergangenen fünfzig Jahren haben die Eliten eine alternative Vorstellung entwickelt, als ihnen einige Gegen-Denker entwischt sind, hauptsächlich Techniker, aus deren Häresie sich dann der digitale Aufstand entwickelt hat. In ihrer Trägheit haben sie das zu spät gemerkt und gemeint, alles wieder einfangen zu können, indem sie das Ganze als zweifelhafte kommerzielle Ausuferung etikettierten. Tatsächlich aber war es eine Revolution mit dem Ziel, gerade sie, die Eliten des 20. Jahrhunderts auf Null zu stellen und sie gegen eine neue Elite, eine neue Intelligenz, sogar eine neue Sittlichkeit auszutauschen. Davon haben sie nichts verstanden, so dass das Game im Schatten ihrer Macht wachsen, die Eliten delegitimieren und, nachdem sie keine Kraft zur eigenen Verteidigung mehr hatten, sie den Leuten ausliefern konnte. Während das geschah, war der einzige brillante Zug der Eliten, das Game zum Geldverdienen zu nutzen. Gleich ob sie damit die Reliquien des 20. Jahrhunderts veräußerten oder Start-Ups finanzierten: Sie verkauften damit die Tickets, um der eigenen Hinrichtung beiwohnen zu können – eine sonderbare Art, Geschichte zu reiten.

Du machst solche Fehler und glaubst wirklich davon zu kommen, indem du den einen Faschisten nennst, der gekommen ist, um dir den Stecker zu ziehen?

Auch das gehört gesagt: Ebenso interessant ist, nachzuschauen, wie sich die Leute verhalten haben, als sie entschieden, den Pakt aufzukündigen und alleine weiter zu machen. Potentiell hatten sie einen enormen neuen Horizont vor sich. Aber sie sind nach dem ersten Schritt stehen geblieben, dem der reinen und einfachen Begleichung von Rechnungen.

Werden Träume aufgeschoben, tobt das Ressentiment. Zukunftsunfähigkeit recycelt Vergangenheit. Sie haben sich Anführer gewählt, die ihnen tägliche Rache und pro Tag einen Rückschritt bieten: Das ist alles, was sie können.

Sie entwickeln kaum eigene Vorstellungen und beschränken sich auf den Versuch, das von den Eliten Hinterlassene zu korrigieren. Manchmal gelingt ihnen auch das nicht, aus Inkompetenz, fehlender Eignung zu regieren, weil plötzlich die eigene Beschränktheit erkannt wurde, wegen der objektiven Starrköpfigkeit des Gegners und der schwindelerregenden Komplexität des Systems. Ihren Mut schöpfen sie erst wieder aus ihrer Stimmlage, die zu ihrem eigentlichen Markenzeichen geworden ist, eine Mischung aus Freimütigkeit, Aggressivität, Marktgeschrei und Werbeformeln. Die Leute finden das vertrauenserweckend und halten es für eine Art zu denken: Sie sehen darin eine Art elementarer Intelligenz, die die Raffiniertheit und die Sophismen in den Überlegungen der Eliten durch eine klare, direkte, irgendwie männliche, auf ihre Art reine Bewegung von Personen ersetzt, die endlich geradewegs auf das Ziel zusteuern und dabei die alten Tricks und Heucheleien aufdecken. Die Heiligung dieser Art zu denken – es ist nötig, das zu verstehen – ist die Waffe, mit der die Leute heute den gewalttätigsten Angriff gegen die Eliten führen. Sie ist die eigentliche Bresche, die sie in deren Verteidigungsmauern schlagen. Wenn diese Art, die Welt zu lesen durchkommt, werden die Eliten erledigt sein. Vorbei ist dann das schöne Leben.

Der Punkt, der sich mir wie vielen anderen sonnenklar darstellt, ist, dass ein solcher Sieg um den Preis der Vernichtung errungen würde. Nicht für die Eliten, pfeif' drauf, sondern für alle. Weil das Gegenteil der dekadenten, komplizierten und auch ein wenig narzisstischen, aber kenntnisreichen Gedankenwelt, nämlich der Mythos einer direkten, reinen und jungfräulichen Herangehensweise, ein Fabelwesen ist, das zu entlarven uns Jahrhunderte gekostet hat. Darauf zurück zu greifen, wäre Irrsinn. Seit langem haben wir gelernt, dass es besser ist, viel über eine Sache zu wissen, bevor sie verändert wird, dass es besser ist, viele Menschen zu kennen, um uns selbst besser zu verstehen, dass es besser ist, die Gefühle anderer zu teilen, um unsere in den Griff zu bekommen, dass es besser ist, viele Worte zur Verfügung zu haben statt nur weniger, weil der gewinnt, der mehr davon kennt.

Fallt nicht auf den einfachen Gedanken herein!

Wir haben dank des geduldigen und verfeinerten Gebrauchs von Intelligenz und Erinnerung einen Begriff, um diese Art der Verteidigung gegen die wilde Härte der Wirklichkeit zu definieren: Kultur. Sie gegen die angebliche Klarheit eines einfachen Gedankens, fast eine Art Volksschläue auszutauschen, würde bedeuten, sich selbst zu entwaffnen und massakrieren zu lassen.

Ich will klar sein: Jedes Mal, wenn wir uns mit einem brutal einfachen Schlagwort begnügen, verbrennen wir Jahre kollektiven Wachstums, die wir damit verbracht haben, uns nicht von der scheinbaren Einfachheit der Dinge blenden zu lassen: Nicht wir Eliten, ich spreche von allen. Wir würden einen kolossalen Reinfall erleben. Etwa als ernste Bedrohung unseres Wohlstandes anzunehmen, wenn eine im Grunde begrenzte Zahl von Menschen sich aus Ländern bewegt, die wir zermalmt haben und die wir nach wie vor bei den Eiern halten. Solche Sachen. Unglaublich. Im Ergebnis ist ein Phänomen festzustellen, das mir und vielen anderen sonnenklar ist: Die Leute wachen jeden Tag auf, um die Postkutsche der Eliten zu überfallen. Und je mehr sie das tun und je mehr sie gewinnen, um so mehr tun sie sich selbst weh.

So durchlaufen wir düstere Zeiten und werden wie ein Gelände, durch das marodierende Heerscharen ziehen. Niemand scheint den Konflikt gewinnen zu können, so dass kaum ein Ende in Sicht ist. Mit jedem Tag, der vergeht, neigen sich die Vorräte dem Ende zu: An Kraft, Schönheit, Respekt, Menschlichkeit, sogar an Humor. Nicht, dass wir das in der Vergangenheit nicht auch erlebt hätten. Aber wir, die wir uns das nicht vorstellen konnten: Müssen wir wirklich darin leben? Gibt es irgendetwas, das wir gegen die Trägheitskraft dieser Niederlage tun können?

Foto: Dakota Corbin/Unsplash

Was mich betrifft, zugeben, dass die Leute Recht haben. Wieder Verbindung zur Wirklichkeit aufnehmen und feststellen, welches Durcheinander wir geschaffen haben. Sich sofort an die Arbeit machen und den Reichtum neu verteilen. Sich wieder mit sozialer Gerechtigkeit beschäftigen. Den alten Eliten des 20. Jahrhunderts den Stecker ziehen und sich der Intelligenz als Abkömmling des Games anvertrauen: Mit der nötigen Eleganz, aber nachdrücklich. Den Worten Fortschritt und Entwicklung eine neue Bedeutung zumessen, die bisherige ist vergiftet. Die Denkweisen entfesseln, die uns aus dem eindimensionalen Gedanken des There Is No Alternative herausführen. Aufhören, die Politik für so wichtig zu halten, wie wir es tun. Sie ist nicht die Quelle unseres Glücks. Den Wissenden wieder vertrauen, sobald wir feststellen, dass es nicht mehr die Gleichen sind. Die Zahlen, mit denen wir die Welt messen (als erstes das absurde BIP), wegwerfen und neue Maße und Größen prägen, die auf der Höhe unseres Lebens sind. Sofort neues Vertrauen zur Kultur fassen und in die Bildung investieren, immer. Nie aufzuhören, Bücher zu lesen, alle, bis das Bild eines Schiffes voller Flüchtlinge und ohne Hafen uns erbrechen lässt. Ohne Furcht in das Game eintreten, bis jede unserer Neigungen, selbst die persönlichste und fragilste, Bestandteil des Laufs der ganzen Welt sein wird. Das Game als Chance zur Veränderung nutzen statt als Alibi, um uns in die Bibliotheken zurück zu ziehen oder noch mehr und größere ökonomische Ungleichgewichte zu entwickeln. Uns von allen Mauern zurückziehen, die wir zu früh geschleift haben und sie dann erneut schleifen, wenn wir gelernt haben, ohne sie zu leben.

Den Schnellsten den Vortritt lassen, um die Zukunft zu gestalten, sie aber jeden Abend an den Esstisch der Langsamsten zum Abendbrot holen, um sich der Gegenwart zu erinnern. Mit uns selbst Frieden schließen, weil es sich in Verachtung oder im Ressentiment nicht gut leben lässt.

Atmen. Gelegentlich unsere Devices ausschalten. Laufen. Aufhören, mit dem Gespenst des Faschismus' hausieren zu gehen.

Im Großen denken. Denken.

Nichts, was man nicht tun könnte, im Grunde. Vorausgesetzt man findet die Entschlossenheit, die Geduld, den Mut.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung aus dem Italienischen: Marian Schraube
Geschrieben von

Alessandro Baricco | Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

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