Sprache der (Un)Vernunft

Italien Zum Gefühl der Verunsicherung trägt eine Rhetorik bei, der sich kaum jemand entzieht

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Sprache der (Un)Vernunft

Foto: Gabriel Bouys / AFP / Getty Images

Deeskalation, so können die Bemühungen im politischen Rom zwischen gestern und heute umschrieben werden. Auf den Versuch der Berlusconi-Partei PdL („Volk der Freiheit“), den italienischen Staatspräsidenten zu einer Begnadigung ihres Parteichefs zu nötigen, hat Giorgio Napolitano nicht direkt geantwortet. Sondern es „Kreisen des Quirinals“, dem Amtssitz des Staatsoberhauptes überlassen, das Vorgehen als „unverantwortlich“ zu brandmarken. Der derzeitige Ministerpräsident Enrico Letta von den Sozialdemokraten des Partito Democratico (PD) lässt zwar wissen, dass er ein „Ende der Erpressungen“ verlange. Aber es ist sein Parteikollege und Vizeminister für Wirtschaft Stefano Fassina, dem die Aufgabe zufällt, in den Abendnachrichten das Vorgehen des Koalitionspartners PdL als „an der Grenze zur Subversion“ zu bezeichnen.

Die deliktische Blaupause

Und da ist schließlich er, um den sich nach wie vor alles dreht. Der seit 4 Tagen Vorbestrafte habe, so informierte Kreise, gestern Abend ein längeres Telefonat mit Napolitano geführt, in dem er sich verpflichtet habe, „die Tonlage zu senken“. Also keine sonntägliche Massendemonstration seiner Partei im Stadtzentrum, die schon angemeldet war, sondern nur noch ein nachmittägliches Sit-in vor seiner römischen Residenz Palazzo Grazioli. Keine Teilnahme von Ministern, die seiner Partei angehören. Und keine Drohungen mehr, das derzeitige Exekutiv von Premierminister Letta stürzen zu lassen, falls es keine politische Alternative zur Haftstrafe für ihn gebe.

So moderat und moderierend Silvio Berlusconi auftritt, das Schema des staatstragenden Zündlers ist bekannt. Und eine Blaupause des Betrugs in steuerlichen und geschäftlichen Dingen, für den er verurteilt worden ist. Denn im Strafprozess hatte er sich wesentlich damit verteidigt, dass er von den kriminellen Machenschaften innerhalb seines Konzerns nichts wusste und sie ab Kenntnis unverzüglich beendet habe. Auch jetzt verbreitet er, dass er nicht für das Junktim seiner Partei zwischen seiner Begnadigung und der Lahmlegung des parlamentarischen Betriebs verantwortlich sei („nicht ich habe um Begnadigung gebeten“), obwohl er die außerordentliche Sitzung der parlamentarischen Fraktionen selbst einberufen und geleitet hat, in der der Erpressungsversuch formuliert wurde.

Dass das nun immer offensichtlicher werdende Auseinanderfallen zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Bevölkerung nicht gut ankommt, lässt sich am Echo im Netz ablesen. Denn wo online-Artikel von Il Giornale des Berlusconi- Bruders Paolo oder der journalistischen Verbündeten von Il Foglio oder Libero nur wenige Kommentare bzw. Likes ansammeln, häufen sich die Reaktionen etwa bei Il Fatto Quotidiano zu Tausenden.

Umgang mit Legalität noch vor der Legitimität

Das hängt nicht nur damit zusammen, dass dieses jüngste Blatt auf dem Markt der Tageszeitungen aus dem Netz kommt. Über Jahre hatten die heutigen Herausgeber und Chefredakteure ihre Artikel und Gedanken einer eigenen Präsenz („voglio scendere“, ich will aussteigen) auf der Plattform „il cannocchiale“ (das Fernrohr) kostenlos zum Besten gegeben. Sondern sie haben in diesen Jahren auch eine eigene Sprache entwickelt: Ironisch, respektlos, politisch wie semantisch treffend. Und dabei gerade was justizielle Dinge angeht, unzweifelhafte Kompetenz bewiesen – in der Übersetzung komplexer Sachverhalte aus der Fachsprache in eine, die alle Italiener verstehen und damit die Verwobenheit mit den Palästen der Macht.

So ist auch heute der Fatto der einzige in der papierenen Ausgabe, der mit einem Editorial aufmacht, in dem die allgemeine Auffassung in Frage gestellt wird, wonach dem verurteilten Ex-Premier schlimmstenfalls der Hausarrest bevorstehe. Denn, so Mitherausgeber Marco Travaglio, das betreffende Gesetz, das über 70-jährigen das Gefängnis erspare, sei eine Kann-Bestimmung. Den Gesetzestext zitierend, hänge die Entscheidung für den einen oder anderen Vollzug vom Delinquenten ab, etwa davon ob er im Urteil „zum Gewohnheits- oder Berufsverbrecher oder aus Neigung erklärt“ worden ist. So etwas nennt man in Deutschland Sozialprognose. In der Subsumtion: Die Alternative bestehe umgekehrt darin, den ehemaligen Ministerpräsidenten tatsächlich einsitzen zu lassen.

Was hier methodisch entlang von Sinn und Wortlaut des italienischen Strafvollzuggesetzes entfaltet wird, fällt vor allem bei jüngeren Menschen auf fruchtbaren Boden. Es ist Ausdruck einer Optik, in der eine ganze politische Klasse sich selbst maßgeschneiderte erlassen oder bestehende Gesetze so gebeugt hat, dass mit Sonderrechten ein entsprechender Status entstanden ist. Auf dieser Erkenntnis hat nicht nur der Erfolg der 5-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo aufgebaut, sondern zieht vor allen kommenden Änderungen den Grundsatz der Legalität vor den der Legitimität – nicht der Rechtsbruch nötigt zur Rechtsänderung, sondern die Unvollkommenheit.

In diese Optik sind auch die Auseinandersetzungen eingebettet, die sich in den beiden letzten Tagen zugespitzt haben. Denn mögen die Töne binnen 24 Stunden gemäßigt worden sein, der Kern der Forderungen von Berlusconi und seiner Anhänger bleibt der Gleiche: Die Ausstellung eines Freibriefes für den „politischen Gefangenen“, wie er von seinen Medien nunmehr genannt wird oder das Chaos.

Diese Medien sprechen für sich:

http://marianschraube.files.wordpress.com/2013/08/gabinetto-di-guerra.png?w=300

[screenshot, Il Giornale online, 04.08.2013, 09:00 Uhr]

Die Versuchung von Berlusconi: Mit den Seinen auf die Straße zu gehen. Der Leader des PdL: „Alle seien sich ihrer Verantwortung bewusst. Das Votum von 10 Millionen Italienern verraten.“ Und im Untertitel: „Der Cavaliere, gestern in Mailand, kehrt in den Palazzo Grazioli für das Sit-in um 18:00 Uhr zurück. In seinem letzten Kriegskabinett auch die Größen des PdL mit Tochter Marina

Eine (Bürger)Kriegssprache, die in Überschriften der gleichen Ausgabe wie „Der PdL setzt den Helm auf: Die Demokratie ist in Gefahr“ oder „Letta stellt einen Schutzschild auf“ ihren Fortgang nehmen, ganz zu schweigen von einem „offenen Brief“ an den Chefredakteur von Il Giornale. Hier darf sich der ehemalige Minister und heutige politische Koordinator des PdL Sandro Bondi zu seiner gestrigen kaum verhohlenen Drohung mit einem Bürgerkrieg unter dem Titel „Nur eine politische Lösung kann uns vor einem gefährlichen Konflikt retten“ rechtfertigen und weiter verbreiten.

Eskalation eines "Triumphs des Informellen"

Eine Sprache, die ausführlich von anderen Blättern übernommen worden und abzulesen ist an „Kassiert den Kassationsgerichtshof“ (wobei cassare auch die Bedeutung von „zerstören“ beikommt) oder „der letzte Schützengraben von Berlusconi“, letzteres sogar von der renommierten linksbürgerlichen Tageszeitung La Repubblica.

Als der Philosoph Paolo Becchi, der 5-Sterne-Bewegung nahe stehend, im vergangenen Mai die Worte in den Mund nahm „niemand soll sich beklagen, wenn jemand zu den Waffen greift“, war er von allen Seiten aufs Heftigste bis hin zur persönlichen Bedrohung angegriffen worden; obwohl seine Erklärung („wenn wir so weiter machen, steigt das Risiko gewalttätiger Gelegenheiten“) geradezu prophetisch war und zumindest für eine sehr aufmerksame Wahrnehmung des politischen Klimas sprach. Hier wurde ein Zustand analysiert und nicht als Drohung aufgebaut.

Die Zeiten sind vorbei, da sich sogar die online-Ausgabe der Enzyklopädie Treccani, im bildungsbürgerlichen Italien so verehrt wie in Deutschland der Brockhaus, pointiert über die Vulgarisierung der Sprache in der Politik ausließ („Wenn der Politiker ausflippt und der Journalist austickt“). Und damit das, was noch 2011 als „Triumph des Informellen“ bezeichnet worden war: Die zunehmend zotige Umschreibung anderer, die Bedienung von Klischees, die schlichte Anbiederung an eine Sprache, von der angenommen wird, sie sei weil des Volkes populär. Sie sind nicht erst seit gestern abgelöst worden von Ausdrücken aus Waffenarsenalen und Kommandeursunterständen und deutlich eskalierend. Der Schrankenlosigkeit, mit der sich ein Teil politischer Macht ausstatten will und dies unumwunden erklärt, dient die Maßlosigkeit des Wortes, das ohne Chiffre auskommt und unmittelbar wirkt.

Nur wenige Verantwortliche entziehen sich dem so vorbereiteten Terrain wie die Unternehmerin und Abgeordnete des PD Paola de Micheli, die im Interview darauf hinweist, dass es in der Politik Gegner gibt und keine Feinde: „Dies ist eine Demokratie, da spricht man nicht von ‘eliminieren‘, da spricht man nicht von ‘Feinden‘. Man kann von politischen Auseinandersetzungen sprechen, von unterschiedlichen Auffassungen, von Wahlsiegen und Wahlniederlagen. Aber es bleibt der Gegner.“

Rhetorik mit Symbolik anzureichern ist heute Abend ab 18:00 Uhr angesagt. Dabei wird, so viel kann jetzt schon gesagt werden, nicht nur die Rolle der Friedfertigkeit eines Sit-ins seiner Anhänger vor dem Wohnhaus des vorbestraften Berlusconi eine Rolle spielen. Sondern die Adresse des Geschehens: Via del Plebiscito, Straße des Plebiszits. Hätte sie nicht vorher schon so geheißen, man hätte sie sicher noch schnell umbenannt. ms

[Update, 20:30 Uhr: Das im Artikel erwähnte Editorial von Marco Travaglio ist nun auch auf seinem persönlichen Blog bei Il Fatto Quotidiano unter dem Titel Berlusconi
può finire in carcere
(Berlusconi kann auch ins Gefängnis) erschienen. Zur Stunde 133 Tweets, 3.440 likes bzw. Empfehlungen, 797 Vermerke in weiteren Social-Media, 47 g+, 742 Kommentare]

[Update, 05/08/2013, 21:30 Uhr - die Zahlen oben lesen sich nun in der Reihenfolge: 255, 7.100, 1.700, 129, 1.146]

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden