Transition zur Neuordnung

Europäische Union Mit Griechenland fällt auf Deutschland die Frage zurück, was Schuld und was Schulden sind

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Faulspiel: Finanzminister Wolfgang Schäuble
Faulspiel: Finanzminister Wolfgang Schäuble

Bild: Sean Gallup/Getty Images

Das Wort „Erpressung“ ist, soweit es um Griechenland geht, schon längst im Vokabular höchstrangiger deutscher Politiker angekommen. Alexis Tsipras war gerade vier Tage im Amt des griechischen Ministerpräsidenten vereidigt, als Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) Ende Januar die Vokabel ins Spiel brachte. Nach der Benennung als „faul“ hatte sich damit im Exekutiv Merkel III schon früh das kriminalisierende Element breit gemacht. Denn was wäre der Erpresser nach den meisten Strafkodizes dieser Welt anderes als jemand, der durch Drohung mit einem empfindlichen Übel einen Vermögensvorteil vom Erpressten zu erlangen sucht, der ihm nicht zusteht?

Die Empörungsrhetorik wird, nachdem von Griechenlands Regierung die Frage nach Reparation aus WKII auf die Verhandlungsebene gehievt worden ist, noch ein Tick härter werden. Was nach dem schlichten Befinden in Sachen Nahrung und Heizung für eine, ebene jene angeblich „faule“ Bevölkerung am Peleponnes nun zur Debatte steht, ist nicht weniger als die Nachkriegsordnung Westeuropas – sie heißt Europäische Union.

Bereits jetzt schießen die Bewertungen ins Kraut, dass das eine unnötige Verschärfung der Situation sei. Denn juristisch, so der Tenor einiger Gazetten dieser Republik, habe Griechenlands Regierung nichts zu bestellen, die in Aussicht gestellte Schadloshaltung an deutschem staatlichem Eigentum sei nicht durchsetzbar.

Der Bezug zur Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs in den Haag ist unübersehbar. Am 3. Februar 2012 urteilte der IGH zur sogenannten Staatenimmunität. Diese bewahre grundsätzlich, so das UN-Gericht, Staaten und ihre Funktionsträger davor, wegen ihres Handelns vor Gerichten anderer Staaten zur Verantwortung gezogen zu werden. Dies gelte auch bei Entschädigungsklagen wegen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht und schweren Menschenrechts- verletzungen.

Staatenimmunität, formaljuristische Krücke statt Politik

Damit hatte der IGH zwei Verfahrensgänge beendet. Der eine betraf die Schadensersatzklage des Italieners Luigi Ferrini gegen die Bundesrepublik, der 1944 zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert worden war. Ihm billigten die angerufenen italienischen Gerichte eine Entschädigung zu.

Der andere bezog sich auf Klagen von Angehörigen bzw. einzelnen Überlebenden des Massakers im griechischen Distomo von 1944. Ihnen hatten griechische Gerichte ebenfalls Entschädigungen zugesprochen, aber die Intervention des griechischen Justizministeriums verhinderte die Vollstreckung in bundesdeutsches Vermögen. Daraufhin wandten sich die griechischen Kläger auch an die italienische Jurisdiktion, um eine Anerkennung ihrer Titel sowie deren Vollstreckbarkeit dort zu erreichen. Die Konsequenz der stattgebenden Urteile war die zeitweise Pfändung des deutschen Kulturzentrums Villa Vigoni sowie des Guthabens der Deutschen Bahn aus Ticketverkäufen in Italien.

Die formaljuristische Betrachtung, dass Ansprüche jedenfalls mit rechtlichen Mitteln nicht durchsetzbar seien, vermittelt jedoch eine fragwürdige Sicherheit. Denn jene Klagen stammen zum einen aus einer Zeit, da wirtschaftliche Schwierigkeiten einzelner Staaten noch lange nicht die Rolle spielten wie heute, es sich also im Kern keineswegs um „erpresserisches“ Vorgehen handelte. Die angefochtenen Urteile des griechischen Aeropag und des italienischen Kassationsgerichtshofes stammen aus den Jahren 2000 bzw. 2004, der Beginn der Verfahren datiert auf Mitte der 1990er Jahre. Sie waren, zweitens, die Ansprüche einzelner Betroffener, während Griechenland sich nun als souveräner Staat die Ansprüche in toto zu eigen macht. Und sie betrafen, schließlich, nicht die hoheitlichen Maßnahmen, mit denen das sogenannte Dritte Reich Griechenland etwa per Zwangsanleihe überzogen hatte und die heute nach einem begründeten Ausgleich rufen.

Der umgekehrte Blickwinkel wäre also durchaus statthaft, nämlich eine gewisse geübte Kaltschnäuzigkeit festzustellen, mit der nicht einem Allerweltsbegehren, sondern der über Generationen reichenden Wunde des von Deutschland ausgehenden Krieges begegnet wird. Der Schorf strategischer Überlegungen, die der Bundesrepublik in ihren jungen Jahren den Aufstieg per Marshall-Plan und Londoner Schuldenabkommen erst ermöglicht hatte, erweist sich als zu dünn, um das nun seit 25 Jahren vollsouveräne Deutschland aus seiner Verantwortung für die Verletzungen zu entlassen.

Der nichterklärte Konflikt der Volkswirtschaften

Es hat sich freilich beizeiten angekündigt. Mahnende Artikel im englischen Guardian, im spanischen El Paìs, dem französischen Le Monde und der italienischen La Repubblica speziell vor der Bundestagswahl 2013 waren unübersehbar. Sie zeichneten eine Ambivalenz weiter Teile der Europäer im Verhältnis zum wiedererstarkten Hegemon in der Mitte des Kontinents. In den Respekt vor dem Aufstieg zur Wirtschaftsmacht mischte sich das deutliche Unbehagen, wie sie sich im erlangten Bewusstsein der Position der Stärke verhält und verhalten wird.

Die Frage, was dabei vor allem in der Perspektive politisch vernünftig ist, wurde mit Hinweis auf das Schuldenabkommen von 1953 sinnvoll beantwortet. Nicht der heute Griechenland verweigerte Schuldenschnitt als solcher ist von Bedeutung, sondern die innewohnende Lektion. Dem besiegten Deutschland wurden keine Tilgungen und Zinsen vollumfänglich für die internationalen Kredite aufgebürdet, mit denen sich die Weimarer Republik über Wasser hielt und die Nazis Autobahnbau und Aufrüstung finanziert hatten. Sie hätten sich sowohl als Hemmschuh als auch Bestrafung ausgewirkt. Barbara Spinelli, Autorin und Tochter des europäischen Gründervaters Altiero Spinelli erinnert daran: „Wenn es Ziel war, einen beständigen Frieden zwischen den Völkern herzustellen und als wesentliche Voraussetzung dafür die Armut zu bekämpfen, dann mussten die alten Politiken der Bestrafung gegenüber dem Besiegten verbannt werden.“

Die innewohnende Logik wird keine andere, wenn statt Panzerdivisionen ökonomische Konglomerate oder ein Internationaler Währungsfonds agieren. Das Gerede von Wettbewebsgesellschaften und Standortvorteilen, die denklogisch stets mehr Verlierer als Gewinner produzieren und nicht nur an den Rändern Europas Elend und neue Armut produziert haben, ist nur eine andere Form von Konflikt und seiner Austragung. Man muss es nicht Wirtschaftskrieg nennen, um etwa Arbeitssuchende von Ost nach West oder von Süd nach Nord als eine unübersehbare Welle von Flüchtlingen zu begreifen, die in dieser Logik ein wirtschaftliches Fortkommen suchen.

Extremere Rezepturen, die den bisherigen Konflikt noch zu steigern vermögen, liegen ebenfalls schon vor. Wo auf der einen Seite national-konservative Kräfte bereit sind, Europa wieder auf den Status schierer Nationalstaaten zu reduzieren, findet sich auf der anderen der Ruf nach der Begleichung alter Rechnungen. Stellvertretend und als Schlüssel zum Verständnis für den auch parteiübergreifenden Revanchismus steht „Who ows Who?“ des Politikwissenschaftlers Éric Toussaint. Obwohl der Essay eine engagierte Analyse der Schuldenmechanismen und deren Nutznießer liefert, zirkuliert er seit seinem Erscheinen in Kreisen, die ihr Sentiment auf einen einfachen Nenner bringen: Deutschland solle erst einmal seine Schulden zahlen, bevor es andere mit Belehrungen oder Forderungen überzieht.

Die notwendigen Mittel der Befriedung

Dass heute Stimmen der Vernunft weitgehend schweigen, hängt zum Teil mit der Ungeheuerlichkeit der Aufgabe zusammen. Statt Bankenrettungen wäre eine europäische Schuldenkonferenz erforderlich, die die Staaten, die alleine mit ihren Rentenversicherungen zu Finanzakteuren sowie Schuldnern ersten Ranges gehören, an einem Tisch vereint. Zur Linderung der menschlichen Not, die nur Zyniker in Abrede stellen, wäre ein Marshall-Plan nötig, der den Menschen überdies signalisierte, dass die EU-Staatengemeinschaft mehr ist als nur die aktuelle intergouvernementale Schuld(en)zuweisung.

Und es bedürfte schließlich eines europäischen Finanzausgleichs, der von seiner Funktionsweise her dem föderalen Deutschland entscheidend aufgeholfen hat: Als Mechanismus zur Austarierung struktureller Nachteile. Erst hier ergäbe sich und auch nur allenfalls die Rechtfertigung bereits jetzt praktizierter, völkerrechtswidriger Ingerenz in fremde Haushalte, sollte das Vertrauen in die zielführende Verwendung der überwiesenen Gelder grob enttäuscht werden.

Alles dies sind Lektionen, die Deutschland als veritabler föderaler Staat historisch gelernt haben könnte. Der deutsche Föderalismus, in Europa einzigartig, wäre die Folie einer möglichen weiteren europäischen Entwicklung, sofern der Gedanke an eine Integration statt der Exklusion Platz griffe. Vor allem der, dass im Zentrum der Aufmerksamkeit stets die Bürger stehen müssen, weil sich Maßnahmen gegen Staaten unweigerlich gegen den Souverän selbst auswirken. Leidet dieser an Hunger und Kälte und wird er darüber hinaus in die Ecke von Kriminellen gestellt, ist die Reaktion so vorhersehbar wie fällig: Der Griff zu Notwehrrechten würde nicht nur plausibler, sondern erschiene legitim.

Dass heute Stimmen der Vernunft weitgehend schweigen, lässt sich auch nur in Teilen damit erklären, dass es so etwas wie historische Dankbarkeit nicht gibt. So wie der deutsche Bundespräsident Roman Herzog einst feststellte, dass sich Schuld nicht vererbt, weil sie höchstpersönlich ist, so greift auch der Appell an die Dankbarkeit zu kurz. Die Wendung, dass die heutigen „PIIGS“-Staaten Spanien und Italien Nachkriegsdeutschland erst aufgeholfen haben, um nun Undank zu ernten, ist eine moralische Kategorie, die auf Staaten kaum anzuwenden ist. Es gilt das Dictum, dass Staaten nur Interessen hätten.

Vielmehr ginge es, Herzog abermals zitierend, um Verantwortung. Sie umfasst, nachdem es Europa ist, in dem eingebettet Deutschland überhaupt erst neu entstehen konnte, neben den Vorteilen auch den erforderlichen Ausgleich der Nachteile, die zwischenzeitlich entstanden sind.

Dieser Verantwortung wird die deutsche Regierung nicht gerecht. Denn sie sucht nicht nach den für die Bürger in Griechenland, Italien oder Spanien menschenwürdigen Möglichkeiten einer Transition. Wie sollte sie auch, nachdem es als gerade noch mit den Grundrechten vereinbar erklärt worden ist, den eigenen Hartz-IV-Beziehern anhand eines Warenkorbs Nahrung im Mund vorzählen zu dürfen. Oder national-konservative Kräfte in Bayern und Hessen die Entsolidarisierung als regionalen Egoismus auf Staatsebene gehievt haben, indem sie den Lastenausgleich vor dem Bundesverfassungsgericht angreifen. In dieser Hinsicht herrscht tatsächlich der beschränkte Horizont der schwäbischen Hausfrau vor: Durch allerlei Geschäftchen wohlhabend geworden, schreit sie nun nach dem Dieb, der angeblich nach dem Geld unter der Matratze greift.

Diese Regierung wird aber vor allem dem Gedanken nicht gerecht, der einmal der von Robert Schuhmann oder Alcide De Gasperi war: Europäische Integration nicht im Zeichen des Friedens, sondern um die Befriedung erst herbeizuführen und nachhaltig zu sichern. Die propagierte Alternativlosigkeit des deutschen Exekutivs ist das genaue Gegenteil: Wer sich den Maßnahmen nicht fügt, wird auf den Ausschluss aus der Gemeinschaft hingetrieben. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung, erschienen am 16. März, erinnert Polens ehemaliger Ministerpräsident und heutiger EU-Ratspräsident Donald Tusk an die Dimension: Mit einem Ausscheiden Griechenlands bahne sich eine „Katastrophe für Europa“ an. Seine Botschaft lautet, nicht nur wirtschaftlich, sondern erst recht in strategischer Hinsicht wäre der Zerfall der EU verheerend. Wie wollten sich Nationalstaaten in ihrer Vereinzelung im globalen Kontext behaupten?

Verkannt wird vom derzeitigen deutschen Exekutiv, dass die römischen Verträge selbst in der Fassung von Lissabon kein Selbstmord-Pakt sind. Der Ausweg in nationale Egoismen wird vielmehr unausweichlich, wenn Bürger um Brot Schlange stehen oder im Winter Bücher im Kamin verbrennen, um sich kurz zu wärmen. Die Konsequenzen werden bewusst in Kauf genommen, wenn ein Staat und seine Bürger vor eine Sparalternative gestellt werden, die tatsächlich keine ist. Dass dies Gegenstand deutscher Politik sei, wird zwar vehement bestritten. Gleichwohl wird diese Politik weiter betrieben und ohne Not rhetorisch verschärft.

Die friedenssichernde Aufgabe

Die Tatsache alleine, dass heute in weiten Teilen die Menschen in Europa sich Gedanken machen, dass der vormalige Aggressor Deutschland doch zu milde behandelt worden sein könnte, ist Ausdruck dessen, was Tusk zutreffend als Folge der Verletzung von Würde durch Demütigung bezeichnet. Politik wäre in unserem heutigen Verständnis von Demokratie die von Menschen für Menschen.

Dass stattdessen, wie nun am Wochenende geschehen, in der Biedermeierstube eines öffentlich-rechtlichen Senders und seines Moderators ein Tribunal Richtung Griechenland verstanstaltet wurde, ist das schiere Gegenteil. Die Feinfühligkeit von Günther Jauch, (der sogar Gerüchte zur angeblichen Prostituierung einer bekannten deutschen Persönlichkeit salonfähig gemacht hatte), Markus Söder (CSU-Finanzminister, der die Klage Bayerns gegen den Finanzausgleich eingebracht hat) und Ernst Elitz (BILD-Zeitung, die Schäubles Spruch von der „Erpressung“ als Titel brachte und weiter bringt) ist die der bräsigen Selbstgewissheit und -bestätigung zu bester Sendezeit.

Die Umkehrung des Blickwinkels sei erlaubt. Wenn dieses erfolgsbesoffene Deutschland den Gedanken Europäischer Integration derart gering schätzt, dass es meint, ohne die Union auskommen zu können, droht es dann nicht der gesamten Europäischen Gemeinschaft mit einem empfindlichen Übel? Nehmen diese seit einem Jahrzehnt ununterbrochen regierenden deutschen Christparteien nicht vielmehr den Wohlstand der eigenen Bevölkerung in Haftung, um Hand an den Grund des Wohlstands selbst zu legen?

An Griechenland wird erprobt, ob und inwieweit jene Annäherung noch möglich ist, die in der Präambel des EWG-Vertrages von 1958 lautet: „[I]n dem Bestreben, ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren harmonische Entwicklung zu fördern, indem sie den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringern“, um den inneren wie äußeren Frieden zu ermöglichen und zu gewährleisten. Auch das ist eine Verantwortung. Sie sollte in Deutschland endlich wahrgenommen werden. MS

Anmerkung: Bei Abfassung meines Artikels hatte ich Stefan Niggemeiers „Wie „Günther Jauch“ die Stinkefinger-Aussage von Varoufakis verfälschte“ noch nicht gelesen. Die Sendung steht stellvertretend für die Wendung, „wie ein Klima erzeugt wird“. Oder um es mit Niggemeier zu formulieren: „Eigentlich ist die ganze Diskussion um den „Stinkefinger“, die uns zweifellos jetzt noch ein paar Tage beschäftigen wird, natürlich eine weitere schreckliche Ablenkung, die verhindert, sich den wichtigen Fragen dieser Krise zu stellen. Daran trägt die Redaktion von „Günther Jauch“ eine erhebliche Mitschuld.“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

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