„Verhaltenskodex“ und kein Ende

Flucht Warum Ärzte ohne Grenzen, Sea-Watch und Jugend Rettet sich nicht dem Druck von Politik und Medien zum Verhaltenskodex beugen dürften

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Das Schiff der Organisation "Ärzte ohne Grenzen". Sie dürften dem Kodex ebenso wenig zustimmen wie "Sea-Watch" und "Jugend Rettet"
Das Schiff der Organisation "Ärzte ohne Grenzen". Sie dürften dem Kodex ebenso wenig zustimmen wie "Sea-Watch" und "Jugend Rettet"

Foto: Angelos Tzortzinis/AFP/Getty Images

Die schwerwiegenden Bedenken, die gegen den sogenannten Verhaltenskodex für private Hilfsorganisationen im Mittelmeer erhoben worden sind, sind auch im Innenministerium in Rom angekommen. In einem Addendum, das in Gesprächen insbesondere mit der Organisation SOS Méditerranée vereinbart worden ist, heißt es nun zentral: „Der Verhaltenskodex ist rechtlich nicht bindend. Bestehendes nationales und internationales Recht hat Vorrang“. Das berichtet die NGO in einer Presseerklärung und wird von italienischen Medien bestätigt.

Zu diesem Ergebnis war Anfang August auch ein Sachstandspapier der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages gekommen. Da er weder Gesetzes- noch Verordnungsform habe, der „Kodex“ auch kein europäisches oder internationales Dokument sei, sei nicht ersichtlich, wie eine Rechtsbindung außer durch Unterzeichnung erzeugt werden sollte. Wer das Klauselwerk nicht unterschrieben hatte, hätte juristisch also ohnehin nichts zu befürchten gehabt.

Dass sie mit dem Innenministerium im Gespräch geblieben ist und das Papier nun gezeichnet hat, erklärt die Mitbegründerin und Vizepräsidentin von SOS Méditerranée, Sophie Beau, in der Presseaussendung mit dem „Vorrang, Leben zu retten“. Auch haben die „Sorgen Italiens“ eine Rolle gespielt, „das mit der humanitären Tragödie vor den Türen Europas momentan allein gelassen wird.“

Offen bleibt aber jetzt erst recht, warum ein Papier als „Verhaltenskodex“ etabliert werden soll, wenn er ohnehin nicht bindend sein soll.

Eine Antwort bietet ein Zeitungsartikel der Tageszeitung Corriere della Sera vom 5. August, der bislang 2,4 Millionen Mal auf der FB-Präsenz des Blattes mit einem „Like“ versehen worden ist. Darin stellte der bekannte Historiker und Journalist Ernesto Galli della Loggia die Loyalitätsfrage: „Gegen die Rhetorik der Neutralität – die NGOs müssen zwischen Italien und den Schmugglern wählen“. Auch wenn der Titel online mittlerweile entschärft wurde („Gegen die Rhetorik der Überparteilichkeit – Der italienische Staat, die Migrantenschmuggler und die Neutralität der NGOs“), zeigt er ein grundlegendes Missverständnis: Humanitäre Hilfsgesellschaften müssen neutral, überparteilich und unabhängig sein.

Das zeigt die Erfahrung von Rotem Kreuz und Rotem Halbmond, die in heutiger Diktion zu den ältesten NGOs der Welt gehören. Schutz und Versorgung von Zivilbevölkerungen im Kriegsfall, aber auch von Gefangenen, Häftlingen und Flüchtlingen wären ohne Einhaltung dieser Grundsätze nicht denkbar. Eine Zusammenarbeit mit Institutionen eines Staates, die die Grundprinzipien tangieren, würden in einem anderen Staat postwendend der Kollaboration und damit der Parteilichkeit verdächtig machen. Die Folge war und ist, dass mit derartigen Begründungen dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) der Zugang zu Personen verweigert wird, die den Schutz der Genfer Konventionen genießen sollten.

"Neutralität, Überparteilichkeit, Unabhängigkeit"

Das ist das Hauptanliegen von Médecins sans Frontières (Ärzte ohne Grenzen, MSF), die bis heute das römische Papier nicht unterzeichnet haben, in ihrem offenen Brief an Galli della Loggia: „Das Mittelmeer befindet sich nicht im Kriegszustand. Aber die Zahl der Toten sind die eines Krieges“.

Die Organisation ist nicht nur im Mittelmeer, sondern weltweit in unzähligen humanitären Versorgungsmissionen engagiert. Damit hat sie sich Anerkennung und Respekt erworben. Im Oktober 2015 reichte ein einziger Tweet von MSF über die Bombardierung eines ihrer Krankenhäuser in Kunduz durch die US-Luftwaffe, um das Pentagon in Erklärungsnöte erst und fabulierte Entschuldigungen dann zu stürzen.

Die Mitnahme von italienischen Polizeibeamten, egal ob bewaffnet oder nicht, würde sich trotz der jetzigen Versicherung, die Rettungshandlungen nicht beeinträchtigen zu wollen, gegen die Geretteten wenden: Nicht nur als zu vernehmende Zeugen etwaiger Schleppervorgänge, sondern auch wegen des Verdachts, dass sich unter ihnen die Schlepper selbst befinden könnten. Diese „Ermittlungen auf Hoher See“ könnten ohne Weiters an Land geführt werden. Sie auf Schiffen von MSF durchführen zu wollen, wäre ein nach außen gerichtetes Zeichen, diesen Ort vereinnahmt und wenigstens teilweise unter staatliche Autorität gestellt zu haben. Dem Begehren in anderen Ländern, ebenso zu verfahren, wären Tür und Tor eröffnet.

Dem Verfasser dieser Zeilen erscheint es im Augenblick unwahrscheinlich, dass sich MSF dem aufgebauten und reichlich unverständigen politischen wie medialen Druck beugen wird. Das dürfte auch für Sea-Watch und Jugend Rettet gelten, die das Papier noch nicht unterzeichnet haben. Denn die Mitnahme von Polizeibeamten auf ihren Schiffen wäre eines der wenigen Punkte, die nicht international oder national geregelt sind. Die Klausel wäre also ohne Bruch anderweitiger Rechtsregeln freiwillig vereinbar. Nicht aber notwendig mit dem Selbstverständnis einer Humanitären Hilfsgesellschaft.

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Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

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