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Asylreform Zur dingend notwendigen Entkriminalisierung des sog. „unerlaubten Grenzübertritts“. Eine Entgegnung zu „Klarheit und Humanität“ von Patrick Beier

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Es ist wieder soweit, dass Grenzgänger mehr als nur argwöhnisch betrachtet werden
Es ist wieder soweit, dass Grenzgänger mehr als nur argwöhnisch betrachtet werden

Foto: Christof Stache/AFP/Getty Images

Aus meiner Sicht ist eine der größten Schwierigkeiten bei Diskussionen um Asyl die hierzulande sehr weit verbreitete Auffassung, dass die Kriminalisierung des „unerlaubten Grenzübertritts“ zu Recht erfolge. Abschwächend wurde dazu etwa 2015 auch von der Polizei vorgebracht, es handele sich um „kaum vermeidbare Ordnungswidrigkeiten“, weswegen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit bei Flüchtlingen von der Einleitung eines Verfahrens abgesehen werden solle.

Der Diskurs am rechten Rand und übergreifend auf die Mitte „rechtschaffen(d)er Bürger“ aber ist unübersehbar: Die „Grenzöffnungen“, die wg. Schengen tatsächlich keine waren, seien „abertausendfacher Rechtsbruch“ gewesen, mit A. Merkel als Täterin, Beihelferin und Anstifterin in Personalunion. Diese urbane Legende hat sich mittlerweile zu einer Verschwörungstheorie ausgewachsen, bei der der Finanzier Soros eine zentrale Rolle spielt. Ich erspare mir und den LeserInnen dazu die degoutanten Details, die mitten in das Muster von Schriften à la „Die Protokolle der Weisen von Zion“ führen. Mit anderen Worten: Es ist wieder soweit, dass Grenzgänger mehr als nur argwöhnisch betrachtet werden.

Gegen diese Diskursentwicklung halfen wenig bis gar nicht Kampagnen wie „niemand ist illegal“ oder Anträge wie der der LINKE-Fraktion vom 11.11.2015 (Drucksache 18/6652) an die Bundesregierung, in Richtung Entkriminalisierung tätig zu werden. Bei allem Respekt vor allem für die Leistung und den Einsatz von Ulla Jelpke: Ein eigener Gesetzesentwurf wäre schon vor drei Jahren bitter nötig gewesen.

Das deutsche Ausweiswesen hat seine Wurzeln in Kriegen

Der Grund liegt nicht nur in der positiv-utopischen Aussicht, den grenzenlosen als Urzustand in Europa wieder herzustellen, wie sie von Guérot/Menasse in Le Monde Diplomatique („Lust auf eine gemeinsame Welt“) und in Erwiderung auf Winkler im Freitag („Die Grenzen fließen“) formuliert wurde. Sondern es wäre auch die Gelegenheit eine Strafnorm, §95 Aufenthaltsgesetz, zu überdenken, die in Deutschland ihre Wurzeln dezidiert im Kriegsrecht hat. Dazu einige Eckdaten:

Die erste Passpflicht (für Ausländer) auf deutschem Boden wurde am 31.7.1914 verordnet, dem Tag der Erklärung des Kriegszustandes. Am 29.6.1916 wurde die Ausweis- und Passpflicht auf jeden erstreckt, der „das Reichsgebiet verläßt oder wer aus dem Ausland in das Reichsgebiet eintritt“. Auch die Einführung von Sanktionen war konfliktbedingt. Die "Verordnung über die Bestrafung von Zuwiderhandlungen gegen die Paßvorschriften" vom 6.4.1923 fiel mit der sogenannten Ruhrkrise zusammen. Für die NS-Zeit, deren Ideologen ihren Antisemitismus u.a. damit zu rechtfertigen suchten, dass sich Juden mit dem sog. 3. Reich im Krieg befinden würden, sind die diversen Sonderausweise oder der sog. "Judenstempel" zu nennen. Sie wurden zu Dokumenten der Aussonderung. Für "Reichsbürger" hingegen kam die Kennkarte (Vorläufer des Personalausweises) und ab Mai 1942 die "Paßstrafverordnung" des "Ministerrates für die Reichsverteidigung": Der "unbefugte Grenzübertritt" wurde mit "Geldstrafe, Haft oder Gefängnis, in besonders schweren Fällen mit Zuchthaus" bestraft.

Mit der Einbringung des Entwurfs eines Passgesetzes im Jahr 1951 wurde erst gar nicht über Sinn oder Unsinn solcher Ausweise diskutiert. Sowohl in der Begründung wie in der Debatte (hier und hier) wurden sie vielmehr wie selbstverständlich als Teilaspekt (wieder zu gewinnender) nationaler Souveränität behandelt, obwohl er erst eine Generation zuvor 1914 praktisch geworden war. Das wäre umso erforderlicher gewesen, als das Gesetz ausdrücklich unter dem Vorzeichen der "Anpassung an Friedensverhältnisse" diskutiert wurde. Gleichwohl erhielt das Gesetz den gleichen Strafrahmen wie in dem von 1914. Wir finden ihn heute im Aufenthaltsgesetz. Zur gleichen Zeit wurden der Bundesgrenzschutz und die Grenzschutzbehörden geschaffen.

Die Antwort der DDR auf das im März verkündete und am 16. Mai 1952 veröffentlichte bundesdeutsche Passgesetz ließ nicht lange auf sich warten. Die am 26. Mai erlassene "Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands" wertete es als "Einführung eines strengen Grenz- und Zolldienstes" und als "Kriegspolitik". Die in ebenso unsägliche wie drastische Worte gekleideten Maßnahmen waren darauf ausgerichtet, das "weitere Eindringen von Diversanten, Spionen, Terroristen und Schädlingen in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik zu verhindern". Die strafrechtliche Bewehrung, nun aber auch und gleichermaßen für die Ausreise, erfolgte mit dem Paß-Gesetz vom 15.9.1954 mit der Androhung von bis zu drei Jahren Gefängnis.

Dies wird sich 1968 verdichten zum Straftatbestand des "ungesetzlichen Grenzübertritts" in § 231 des Strafgesetzbuches der DDR (Strafandrohung: "Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Geldstrafe oder öffentlicher Tadel"; in "schweren Fällen": "Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren") bis hin zum zunächst administrativ erteilten "Schießbefehl" in der Dienstvorschrift 30/10 des Ministeriums für Nationale Verteidigung zur „Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie" vom 14.12.1967. Der Krieg, diesmal in seiner kalten Form, hatte zum dritten Mal zugeschlagen.

Der Entwurf des Europäischen Parlaments macht Kriminalisierung einfach: überflüssig

Der bislang weitreichendste Vorschlag zur Entkoppelung von Flucht und Ahndung des Grenzübertritts, von dem Postulat der Straflosigkeit in Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) abgesehen, ist der Entwurf zur Reform des Europäischen Asylrechts des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres im Europäischen Parlament unter Vorsitz der schwedischen Liberalen Cecilia Wikström. Mit dem vorgeschlagenen Mechanismus ist die Kriminalisierung schlicht überflüssig. So öde das auch klingen mag: Der Flüchtende/Asylantragsteller würde qua Verteilungsmechanismus vom vorgestellten Feind an der Grenze zum europaweit nach einheitlichen Standards behördlich beurteilten Aufhältigen.

Die sehr praktischen Erwägungen, die dem Entwurf zugrunde liegen, machen ideologische Zurichtungen überflüssig. Der eigentliche Konflikt bahnt sich institutionell an. Die äußerst schwierige Vermittlung in der Exekutive (Kommission, Europäischer Rat) wird in jedem Fall zu dem Entwurf des EU-Parlaments diametral im Widerspruch stehen. Derzeit sehe ich niemanden, der sich nachhaltig für das Votum der europäischen Volksvertretung stark macht. Das gilt erst recht für die innerhalb der LINKEN in der Minderheit befindlichen, aber lautstarken Auftritte des „wir zuerst“, auf die Arbeiterschaft gewendet.

Tatsächlich ist das ein uraltes Problem, das der Jurist Wolfgang Bongen in dem staubtrockenen "Schranken der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft" (Berlin 1975), S. 17 ff. wie folgt umreißt: „Insgesamt kann man feststellen, daß im Deutschen Reich vor 1914 nicht in dem Maß Freizügigkeit herrschte, wie man das etwa nach dem Paßgesetz annehmen könnte (nur die Lage der Selbständigen war günstig). Sondervorschriften für Ausländer aus "sanitären, sittlichen und politischen Gründen" (Staatssekretär Delbrück vor dem Reichstag, Sitzungsbericht der 65. Sitzung, vom 18.5.1912, S. 2106) waren schon damals zur Regel geworden. Andererseits wurden bereits in dieser Zeit Forderungen gegen diese "Prohibitivmaßnahmen" laut (so der "Mitteleuropäische Wirtschaftsverein" auf seiner Budapester Konferenz v. 7. und 8.10.1910): Es wurde sogar die Abschaffung aller für Ausländer diskriminierender Bestimmungen gefordert (Int. Sozial. Arbeiterkongreß, Stuttgart 1907, Punkt I 3 der Resolution. Die deutschen Gewerkschaften haben dagegen nicht selten "Importverbote" für ausl. Arbeiter gefordert).“

Ein sehr großer Teil der so umrissenen Probleme ist gerade mit der EU und dem Integrationsprozess obsolet geworden. Einzelgesetze wie die Entsenderichtlinien tun ihr Übriges. Es scheint mir an der Zeit, aus dem Gelernten weiterzuentwickeln: Dass die, die an der Grenze stehen, eben keine Feinde und keine Kriminellen sind. Hier macht der Blickwinkel den wesentlichen Unterschied aus. Er sollte erst recht menschenfreundlich sein, wenn, im durchaus christlichen Sinn: Beladene bei uns anklopfen.

Den Beitrag von Patrick Beier „Klarheit und Humanität“ finden Sie -> hier

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Geschrieben von

Marian Schraube

"Dem Hass begegnen lässt sich nur, indem man seiner Einladung, sich ihm anzuverwandeln, widersteht." (C. Emcke)

Marian Schraube

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