„Was du nicht willst, das man dir tu…“ gilt auch global

Kulturkommentar Der Schweizer Soiziologe Jean Ziegler schafft es die ungesunde globale Schieflage einem größeren Publikum zu vermitteln

Ältere soignierte Bürger und Bauhaus-Uni-Studenten jüngeren Semesters hörten am vergangenen Sonntag in einer Matinée im ausverkauften Deutschen Nationaltheater hoch konzentriert und sehr berührt der letzten diesjährigen Weimarer Rede zu. Nach Wolfgang Engler, Heiner Geißler und Friedhelm Hengsbach war jetzt Jean Ziegler an der Reihe, der Frage „Frisst der Kapitalismus seine Kinder?“ nachzugehen.
Es ist ein Phänomen ganz jenseits von coolem Zeitgeist, wie der Schweizer Soziologe Ziegler es mit seiner pointierten Sprache immer wieder schafft, die ungesunde globale Schräglage mit wissenschaftlich fundierten Fakten und gründlicher politischer Recherche für ein größer werdendes Publikum deutlich erkennbar zu machen und inzwischen als führender UN-Gesandter weltweit für eine Empörung zu sorgen, die konkrete Wellen schlägt, durchaus über ATTAC hinausgehend. Seit letzter Woche ist Jean Ziegler nun mit seinem neuen Buch „Der Hass auf den Westen“ auch auf der Spiegel – Bestsellerliste angekommen.

Vertraut wie Agitprop-Parolen

Fast feierlich erscheint diese dankbare Resonanz, die dem jungenhaft charmant wirkenden 76 Jährigen nicht nur im linksintellektuellen Milieu entgegenkommt, eine andächtige Dankbarkeit für eine am Weltbürgertum Kants orientierten Verantwortungsethik, die präzise die zynischen Anmaßungen westlicher Ausbeutungs- und Eroberungspolitik im Detail kennzeichnet, historisch belegt, unser aller Verantwortung als mitwissende Zeitgenossen für die aktuelle „kannibalische Weltordnung“ der turbokapitalistischen Finanzindustrie einfordernd, und in eine planetarische Zivilgesellschaft“ münden zu lassen. Sein eloquenter Auftritt wirkt so schön vertraut plakativ wie „unsere“ Agitprop – Parolen in den Siebzigern und Achtziger Jahren, damals, als wir uns noch von den westdeutschen Eltern und Lehrern sagen lassen mussten: „Dann geht doch gleich nach Drüben…“, dahin, in rigide sinnenfeindliche Gefilde wollten wir nämlich schon gar nicht, wir wollten lebendig sein, uns einmischen, und wir lehnten es ab, als bloße Funktionäre dem Proletariat zu dienen

Die Aura des Jean Zieglers

Ja, ein guter Grund für die Aura des Jean Ziegler ist seine leibliche Konkretheit, bezogen auf das tagtägliche elende Leben der Opfer, wenn er über die verheerenden Auswirkungen z.B. des Weltwährungsfonds auf kleine Kinder schreibt, wenn sie verhungern, nennt er es „ermorden“, wie das „organisierte Verbrechen“ von Dumpingpreisen der EU das Leben der Menschen in Afrika bis in alle Körperzellen bedroht, und ihre vitale Widerstandskraft schwächt. Da bleibt nichts abstrakt, wenn Jean Ziegler die ökonomische Ignoranz westlicher Herrschaften kritisiert, denn er geht davon aus, dass diese Ungerechtigkeit keineswegs ein Schicksal betonierter Verhältnisse ist, sondern dass es eine im Grunde sehr durchschaubare Frage von Verteilung und Zugang ist, die zu lösen sei, und keine Fatalität durch einen objektiven Mangel.

Tristesse

Seine Leser und Zuhörer beteiligt er so an seiner eigenen lebhaften Stimmung des Aufbegehrens, er evoziert Lust, es sich nicht länger nur reflektierend in einer Art melancholischer Tristesse im Zuschauersessel bequem zu machen, sondern sich als wirksame Person im Gesamtgeschehen globaler Verteilungskonflikte zu begreifen. Dass wir westlichen Individuen gut daran tun, den berechtigten „vernunftgeleiteten Hass“, der jetzt verzögert, aber deutlich erwacht in der so genanten Dritten Welt, umgehend ernst zu nehmen, und diese Menschen endlich als gleich berechtigte Weltbürger in allen Aspekten anzuerkennen, erachtet Ziegler als überlebensnotwendig für unseren Planeten, da sonst die Gefahr durch einen dann außer sich geratenden „pathologischen Hass“ nur noch wächst.
Insofern engagiert sich Jean Ziegler für transparente Dialoge an der Basis, jenseits des üblich gewordenen Empathiemangels einer globalen „Bewußtseinsindustrie“, für die nur eiskalte „Optimierung von Leistung“ zählt, und die coaching - Botschaft für Manager darin gipfelt, sich doch endlich von so etwas wie Mitgefühl zu verabschieden, Mitleiden scheint contraproduktiv, denn es halte doch nur den Betrieb auf.

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