Die Welt im Tonträger

Medientagebuch Das Radio-Feature: Jedes Ding kann einen Mund bekommen

Mit dem heute legendären Motto »Anything Goes« hat der britische Philosoph John Langshaw Austin ursprünglich die Möglichkeiten unseres Sprachbaukastens gemeint. Im Rahmen bestimmter Satzelemente und Interpretationsregeln, sowie nicht-verbaler Verhaltensmuster sind wir in der Lage, uns verständlich zu machen. Wir können sagen, was der Fall ist, und wir können sagen, was wir gerne hätten, das der Fall sei. Austin, und später sein Kollege John R. Searle, kümmerte sich vor allem um die gebrauchstheoretischen Aspekte der Sprache - vielleicht hatte ihn seine Tätigkeit beim britischen Geheimdienst während des Zweiten Weltkriegs darin bestärkt - und er schuf den Begriff »speech acts«, »Sprechakte«, das heißt soviel wie: durch Sprache handeln.

Ich habe etliche Jahre beim öffentlich-rechtlichen Radio gearbeitet, wo es noch relativ viele Wortsendungen gibt, die auch Sprechakte sind, die via Antenne, Kabel oder Satellit mit vielen tausend Empfängern gleichzeitig kommunizieren. Und auch hier gilt: »Anything goes«. Im Prinzip kann man - gäbe es nicht Hörprognosen, Quotenraster und Wellenformate - jegliches Sound-Element, jeden O-Ton, jede akustische Quelle durch den Äther jagen, um etwas zu beschreiben, was der Fall ist, oder um etwas darzustellen, was der Fall sein soll. Im letzteren Fall handelt es sich ums Hörspiel, im ersteren handelt es sich ums Feature.

Viele Schauspieler machen - trotz der vergleichsweise geringen Honorare - sehr gerne Radio, und viele sind im Laufe der Jahre zu mir ins Studio gekommen, um freudestrahlend zu sagen: »Schön, heute machen wir mal wieder ein Hörspiel!« Und ich antworte dann immer: »Ja, schön, sehr schön, aber übrigens, was wir hier machen, ist ein Feature.« Denn, was als Begriff offenbar langsam verblasst, ist ursprünglich die Radioform schlechthin gewesen. Bis heute ist das Feature die journalistische Darstellungsform - mit radiophonen Mitteln. Die BBC-Hörfunkjournalisten, die als erste in Europa seit 1922 regelmäßig auf Sendung waren, haben ihre Radioreportagen als »Features« bezeichnet. Schon im Begriff tritt das Kunstvolle der Sendeform zutage, man könnte es mit »Aus-Gestaltung«, »Charakteristikum« übersetzen. Noch 1969 erklärte der BBC-Mann Douglas Cleverdon: »Feature kann jegliches Sound-Element, jedes akustische Element kombinieren, und zwar in jeglicher Mixtur: Dokumentation, Aktualität, Dramatisierung, Poesie, Musikdrama. Es gibt keine Regel, die bestimmen könnte, was gemacht werden kann und was nicht.«

In der Form selbst gibt es also keine Regel beim Feature, aber es gibt hier eine grundlegende Bedingung, die mit der Glaubwürdigkeit und der Qualität der journalistischen Arbeit zu tun hat: Im Feature gibt es immer einen Bezug auf die Realität, und - die Quellen müssen stimmen, auch die atmosphärischen und musikalischen Soundelemente. Es gibt, wie immer, Grenzfälle und Mischformen zwischen Feature und Hörspiel, das diesen Glaubwürdigkeitsanspruch nicht hat. Aber im Prinzip sollte im Feature - handele es über eine Weltregion, über einen Dichter oder über den Neuen Markt - zu erkennen sein, was dokumentarisches Material und was Konserve ist.

Das Besondere am Radio im Allgemeinen hat die österreichische Autorin Friederike Mayröcker auf den poetischen Nenner gebracht: »Jedes Ding kann einen Mund bekommen.« Die Welt wird hörbar gemacht. Aber ein Feature erklingt nicht nur, sondern es will auch erklären, ein Thema soll hörbar werden.

Der Ursprung der Funk- und Radioübertragungen ist konkret und zweckgebunden. Am Anfang stehen Soldatensender, militärische Kommunikationspfade und Propagandainstrumente. Die journalistische Berichterstattung etabliert die BBC erst seit dem 14. November 1922. Im Radio-Feature wird jegliches Audiomaterial kombiniert und montiert, um damit einen Zugriff auf die gesellschafts-politische, soziale und kulturelle Wirklichkeit zu ermöglichen. Das Feature informiert über etwas, was der Fall ist und viele Menschen angehen sollte. Der Schriftsteller Alfred Andersch, der in den fünfziger und sechziger Jahren als Featureredakteur beim Süddeutschen Rundfunk gearbeitet hat, hob am Feature die Form hervor, die immer wieder mit anderen inhaltlichen Themen gefüllt werden kann: »Feature bedeutet niemals den Inhalt einer Sache, sondern ihre Erscheinungsweise. Es bedeutet vielmehr die Herrichtung einer Reportage oder Dichtung, das Making, das in-Form-bringen. Es ist in der Praxis eine Montage-Kunst par excellence.«

Heute ist das Feature realistischerweise kein Publikumsmagnet mehr und findet immer weniger Platz in den Mainstream-Medien. In einer Welt, in der Journalisten einen Beitrag, der über eine Minute und dreißig Sekunden dauert, schon »Reportage« nennen, kann das Feature mit seinen stolzen Stundensendungen kaum mehr bestehen. Aus den USA stammt der Begriff »New News«, der Informationen meint, die nicht recherchiert werden, die wie Gerüchte funktionieren und eine Kettenreaktion auslösen, die schnell verpufft und den Weg frei macht für die nächste Datenmenge. Der unsinnige Ehrgeiz, mit jeder Nachricht vor allem der Erste zu sein hat zum Beispiel während des sogenannten »Monicagate« in Washington zu folgender Situation geführt: Eine Fernsehjournalistin steht vorm Weißen Haus und fragt ihren Aufnahmeleiter im Studio, ob sie nicht mal schnell losgehen kann, um ein paar Leute zu befragen. Doch der erwidert, sie müsse vor Ort bleiben und jetzt etwas sagen. Mit anderen Worten, die Journalistin gibt zu, dass sie nicht weiß, wovon sie redet, wird aber vom verantwortlichen Redakteur aufgefordert, genau so weiterzumachen, vor laufenden Kameras.

Die Profitorientierung beschädigt die journalistische Praxis und das Informationsniveau der Gesellschaft. Aus diesem Grund ist das Feature ein Genre, das unverkennbar zum öffentlich-rechtlichen Radio und den ihnen für die Zweitverwertung angeschlossenen Verlagen gehört, solange die Programmgestalter dort noch nicht nur nach der Quote schielen. Nur die nicht allein profitorientierten Auftraggeber finanzieren die Recherchen und Reisen, die für die Autoren der langen Wortsendungen unabdingbar sind - und für die Qualität von Information. Die Features im Radio, nehmen die Hörer mit auf unbekanntes Terrain, in dem vielstimmige Perspektiven und Meinungen hörbar werden. Übrigens träufeln Shakespeares Mörder nicht umsonst in vielen Fällen ihren Opfern Gift ins Ohr.

In Deutschland steht man generell dem Feature etwas kühler gegenüber als etwa in Großbritannien. Von einem der bekanntesten Featureautoren der siebziger und achtziger Jahre - Peter Leonhard Braun beim SFB in Berlin - stammt das Zitat, das Feature sei der »Zigeuner des Radios«. Ich glaube, auf solche Sprechakte kann das »Feature« gut verzichten. Ist es doch Garant für tolerante Vielstimmigkeit im Radio.

Die aktuellen Sendetermine sämtlicher Features und Hörspiele sind nachzuschlagen im wöchentlich erscheinenden Dampf-Radio - zu beziehen bei: Dampf-Radio, Oberstraße 34, PF 228, D-53922 Kall

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