Bis zum letzten Moment

Wolfgang Hilbig An der Berliner Akademie der Künste wurde das Wolfgang-Hilbig-Archiv eröffnet.

Als Wolfgang Hilbig noch lebte, hatte er sich an seinen Verlag mit der Bitte gewandt, ihm beim Ordnen des Nachlasses zu helfen. Und so kam es dann, dass die Frankfurter S. Fischer-Stiftung vergangenes Jahr diesen 46 Archivkästen mit 30.000 Blatt umfassenden Schatz der Berliner Akademie der Künste als Dauerleihgabe zur Verfügung stellte.

Seit dem vergangenen Wochenende ist dieses Archiv des 1941 geborenen, 2007 gestorbenen Dichters, Büchner-Preisträger des Jahres 2002, nun einsehbar. Ein von Barbara Heinze erstelltes Findbuch hilft, die Werkmanuskripte, Lebensdokumente und Hilbigs Briefwechsel zu erschließen. Mit einer kleinen Vitrinen-Ausstellung wurde der Komplex jetzt am Pariser Platz eröffnet. Die ausgewählten Originaldokumente, die dabei geziegt wurden, sind in faksimilierter Form nun in der Akademie-Reihe "Archivfenster" zu besichtigen.

„Ecce poeta - Sehet ein Dichter“ - dieses Wort von Franz Fühmann aus dem Jahr 1980 hatte Archivleiter Wolfgang Trautwein als Motto über die Eröffnungsveranstaltung mit Volker Braun, Katja Lange-Müller und Ingo Schulze gesetzt. Und das Exemplarische dieses Dichters wird an der Ausstellung gut deutlich.

Nicht nur in den Episoden, von denen Jürgen Hosemann, Mitherausgeber der Werkausgabe im S. Fischer Verlag, knapp und eindrücklich von seiner Zusammenarbeit als Lektor mit Wolfgang Hilbig berichtete.

Er blieb unerreichbar


Bilder vom Erzählen

Dennoch habe er alle Verlagstermine sehr ernst genommen, auch wenn er sie alle immer wieder über den Haufen warf. Immer wieder schickte er Korrekturen, Änderungen manchmal nur eines Wortes, formte bis zum letztmöglichen Augenblick an seinem Werk.

In der Korrespondenz mit dem Verlag blieb Hilbig formvollendet, im Umgang außerordentlich freundlich, aber per Sie. Er war kein Autor „zum Anfassen“. Immer blieb eine Distanz.
Hosemann hat das Privileg, fünf weitere Jahre die Werkausgabe von Wolfgang Hilbig zu betreuen, auf deren VII. und letzten Band, die Essays, mit bislang unveröffentlichten Texten man gespannt sein darf.

Die von Barbara Heinze zusammengestellte Ausstellung lässt ahnen, was alles in Hilbigs Nachlaß neu zu entdecken ist. Unter den Zeugnissen seiner Jugend in Meuselwitz findet sich beispielsweise der für ein Tagebaugebiet wunderbare Konfirmationsspruch des Jahres 1956 aus dem Propheten Jesaja: „Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“

Zum Bücherschatz des gelernten Bohrwerksdrehers gehörte früh die Ruhrgebietsreportage Schwarzes Revier des Feuilletonisten der Frankfurter Zeitung“ Harald Hauser aus dem S. Fischer Verlag von 1930. Wie fand Hilbig zielsicher dieses und viele andere für ihn notwendige Bücher? Eine Photographie von 1964 zeigt das klare schöne Gesicht des jungen Mannes Hilbig „mit Unbekannt“. Lassen sich seine Jugendfreunde noch ermitteln?

Dann die „Ratschläge“ der Bezirks-Kulturabteilung an den Arbeiter, der Literatur zu schreiben begonnen hatte, das Leben doch „von seiner schönen Seite“ zu sehen. Daneben das ablehnende Schreiben des Aufbau-Verlages.

Täter und Opfer

Und dann wie ein Paukenschlag 1979 der rettende Brief voller Zustimmung des Autors Franz Fühmann, der um einen Besuch bat. Hilbig antwortete ihm aus Berlin-Spindlersfeld, wo er als Heizer „im Dreischichtensystem“ arbeitete.

Auch Hilbigs Arbeitsweise kann man nachvollziehen. Neben farbigen Notizzetteln mit Gedanken und Sprachbildern liegen Exzerpte aus der Zeit der Arbeit am Roman Eine Übertragung (1989).
Aus der psychoanalytischen Studie von Tobias Brocher „Selbstporträt des J. Bartsch“ notierte sich Hilbig: „Der Täter sucht eigentlich in seinem Opfer gleichsam ein Abbild seiner selbst als Kind...“ Daraus folgte für seinen Roman: „Fortsetzung des Textes: C. versucht sein Alter ego zu ermorden. Sadismus, Folter, Mordlust gegen sein Alter ego. Was nicht gelingt. Dann könnte es zu der Ersatzhandlung kommen. Die junge Frau im Gefängnis, die dem etwa 12-jährigen C. ähnlich sieht.“ Das müssen die Augenblicke geweisen sein, in denen „H.“ für niemanden erreichbar und ganz bei sich selbst war.

Wolfgang-Hibig-Archiv, Akademie der Künste, Berlin, noch bis zum 31. Dezember 2009

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