Im November 2005 nahm Moskau von einem seiner bedeutendsten Geisteswissenschaftler Abschied, dem Altphilologen und Literaturwissenschaftler Michail Gasparow. Jahrzehnte hatte er unter kritischer Beobachtung am Moskauer Akademie-Institut für Weltliteratur geforscht. Seit 1989 aber war es ihm auch möglich zu lehren: an dem von ihm mitbegründeten Institut für Theorie und Geschichte der Kulturen der Welt an der Moskauer Staatsuniversität (MGU), das die Universitätsleitung missbilligend "das Trojanische Pferd der Entideologisierung in unseren Mauern" nannte, und am Institut für Höhere Geisteswissenschaftliche Forschungen der 1992 neu gegründeten Russischen Staatsuniversität für Geisteswissenschaften (RGGU).
In dieser Reformzeit, die für ihn mit dem Tschetschenien-Krieg und der Wahl Putins zum Präsidenten endete, wurde er spät genug mit Preisen geehrt, reiste zu Forschung und Lehre ins Ausland und äußerte sich zu Kultur und Politik in den Medien. Für die Generation der heute 30- bis 40-Jährigen wurde er zu einer zentralen Identifikationsfigur. Zu seinem Tod erschienen Nachrufe von den liberalen Moskovskie novosti bis zur konservativen Izvestija. Das Fernsehen sendete Porträts und zur Begräbnisfeier füllten sich die Säle der Akademie der Wissenschaften, der Universitäten und des Zwetajewa-Hauses. Die derzeit wichtigste Moskauer Kulturzeitschrift NLO (Novoe Literturnoe Obozrenie / Neue literarische Rundschau) widmete ihm ihr März-Heft. Doch bei uns ist dieser große europäische Rationalist fast unbekannt.
1935 in Moskau geboren, galt Gasparow schon in den siebziger Jahren als herausragender Kenner nicht allein der russischen Moderne, sondern der europäischen Lyrik von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Sein Abriß der Geschichte der europäischen Versdichtung (1989) erschien 1996 übersetzt auch in Oxford. Sein Buch Metrum und Sinn: über einen Mechanismus des kulturellen Gedächtnisses (1999) - zur Verbindung bestimmter Inhalte mit bestimmten Versmaßen und ihrer Entwicklung in Europa - ist ein Meisterwerk, dem im Deutschen nichts Vergleichbares zur Seite steht.
Gegen die offizielle Sowjetwissenschaft erneuerte Gasparow in den sechziger Jahren mit Kollegen der Moskau-Tartuer Schule um Jurij Lotman die unterdrückte Tradition des russischen Formalismus der zwanziger Jahre und des europäischen Strukturalismus. Mit exakten Methoden der historischen Poetik erschloss er überraschend neue Perspektiven auf Texte und Autoren. Gefühlige "Romantik" und selbstherrliches Interpretentum in den Geisteswissenschaften waren ihm verhasst.
Im Zweitberuf Übersetzer, ließ er das kulturell interessierte Publikum an seiner Arbeit teilhaben. 1968 erschien seine Übersetzung der Fabeln des Äsop, 1973 Ovids Ars amandi, 1970 die Ars poetica des Horaz, 1978 die Poetik des Aristoteles. Und Pindars Oden in der Übersetzung von Gasparow 1980 gelten als "die besten russischen Verse der Gegenwart". Nicht umsonst liebte ihn Joseph Brodsky, der ihn 1991 auf einer Mandelstam-Konferenz in London kennen lernte.
Von 1957 bis 1990 arbeitete Gasparow am Institut für Weltliteratur unter hohltönenden Funktionären, die mit Begeisterung die Erinnerungen des Genossen Generalsekretärs Breschnew herausgaben. Seine Überlebensstrategie dort hieß "Anabiose": Der knapp zwei Meter große Ironiker machte sich klein und unauffällig. Mit eiserner Freundlichkeit hielt er sich die Funktionäre vom Leib und arbeitete im Stillen für drei. Empathie, Grundeigenschaft jedes Philologen, schien bei ihm bis zur Selbstlosigkeit gesteigert. Sie gab sich aus an den ungeheuren Mangel an Einfühlungsvermögen in der Sowjetöffentlichkeit. Gasparow kultivierte den Anti-Egoisten. In seinem Diskussionsbeitrag Philologie als Moralität den die Literaturnoe obozrenie 1979 nur deshalb druckte, weil ein Gegenbeitrag zu seiner "Entlarvung" ansetzte, hieß es: "Liebe zum Wort" als kritische Wissenschaft vom Verstehen lehre, sich in andere Wertesysteme hineinzuversetzen, sie ziehe den Menschen ab von "geistiger Egozentrik". Das war nicht eben im Sinne totalitärer Deutungsmacht, aber für manchen angehenden Philologen in der Sowjetunion ein Rettungslicht.
Gasparows Kompetenz und Integrität genoss über die nationalen Grenzen hinweg unionsweit Vertrauen. Er hielt Vorlesungen im Baltikum, in Georgien, Armenien und 1996 auch an der neuen Weißrussischen Europäischen Universität in Minsk, die Lukaschenko kurz darauf schließen ließ. Nach den Todesopfern in Wilna im Januar 1991 schrieb er: "Was auch an Reaktion folgen wird, eine Rückkehr zum früheren Zustand ist unmöglich. Das Perestroika-Tauwetter, das den Menschen gestattete zu denken und zu reden, hat in Rußland etwas geschaffen, was es seit langem nicht mehr gab: eine öffentliche Meinung. Die läßt sich nicht mehr ersticken. Sicher, eine Meinung vermag nichts gegen Kanonen. Aber die Kanonen werden verstummen und die Meinung lebt weiter."
Den Beginn der Reformen nutzte Gasparow, um 1990 an das exzellente Akademie-Institut für Russische Sprache zu wechseln. Hier und in Forschungsaufenthalten in den USA entstanden sein neuartiger Kommentar zu Mandelstams Gedichten und Prosa (2001) und die Studie über Die staatsbürgerliche Lyrik des Jahres 1937,die Ode auf Stalin und die Gedichte auf den Unbekannten Soldaten. Gasparow zeigt Mandelstam nicht, wie üblich, als Held und Märtyrer des antisowjetischen Widerstands, sondern weit tragischer als Dichter, der die Sowjetmacht aufrichtig bejahte, obgleich er wusste, dass sie seinen Untergang bedeutete.
1989 las Gasparow am Moskauer Literatur-Institut über die Geschichte der antiken Literatur. Der Hörsaal war überfüllt, denn er stellte literarische Techniken vor, das Handwerkszeug der ars poetica. Gleichzeitig gab er am MGU-Institut für Theorie und Geschichte der Kulturen der Welt eine Einführung in die Zivilisation der Griechen nach einem Buchmanuskript, das er schon 16 Jahre zuvor für Jugendliche geschrieben hatte, aber niemand verlegen wollte. Als die junge Anglistin Irina Prochorowa 1992 mit ihrer Kulturzeitschrift NLO auch einen Verlag gründete und 1995 Gasparows Spannendes Griechenland herausgab, wurde das Buch zum Bestseller.
Gustav Schwab erzählte 1837 für Leser des deutschen Bürgertums Die schönsten Sagen des Klassischen Altertums. Aber Gasparow schrieb Ende der siebziger Jahre für einen "jungen Leser", der nichts anderes kannte als totalitäre Herrschaft und heroische Sowjetgeschichte. Deshalb erzählt er nicht die Mythen der Götter und Heroen, sondern über Alltagskultur und Geschichte der altgriechischen Demokratie: über das Familienleben, den Anfang der Philosophie, den Krieg als Vater aller Dinge, Frauen unter Männern, Sklaven unter Freien, Arithmetik in Versen, Theater, Pest, Müßiggang etcetera. Am spannendsten aber erzählt er, wie das entstand, was Sowjetrussland fehlt, eine Kultur des allgemeinen Rechts: "Griechenland wird Griechenland, oder: Vor dem Gesetz war die Überlieferung", "Das Jahrhundert der sieben Weisen, oder: Griechenland entdeckt das Gesetz", "Der Krieg zwischen Persern und Griechen, oder: Das Gesetz kämpft mit der Selbstherrschaft".
Die Rückständigkeit seines Landes begriff Gasparow als Bildungsauftrag: "Über meiner Arbeit denke ich immer daran, welche Unmengen halbgebildeter Leser sich ihren Geschmack danach bilden, was wir, die Übersetzer und Kulturhistoriker, ihnen mitteilen" (1988). "Wieviele Jahre wird es brauchen, um diese Rückständigkeit zu überwinden? Ich weiß es nicht. Viele. Was kann ich tun, um dabei zu helfen? Nur das, was ich schon tue: zur Aufklärung beitragen. Ich kann Solschenizyn das kränkende Wort vom Bildungsgewese nicht verzeihen. Ohne dieses Bildungsgewese, altmodisch gesprochen: ohne Aufklärung geht weder in Rußland noch in Afrika noch irgendwo sonst etwas voran" (1992).
Gasparows selbsterteilter Bildungsauftrag war von unmodischem Demokratismus. Als 1993 zum 100. Geburtstag Majakowskijs keiner seiner Zunftgenossen etwas über den größten Dichter des Sowjetkommunismus schreiben wollte, fand er das psychologisch verständlich, aber beschämend. Und so verfasste er einen stupenden Aufsatz über die "Feiertagslyrik" von Majakowskij. Wie andere "an die frische Luft" gehen, ging Gasparow ins Archiv, entdeckte und edierte zu unrecht vergessene Dichter. Das war der Demokratismus des Literarhistorikers.
Daneben folgte er seinem Aufklärungsbedürfnis im politischen Bereich. Als die Nationalitätenkonflikte mit unvermuteter Radikalität aufbrachen, schrieb er 1991 einen Artikel über Nationalismus, den er nicht allein aus wirtschaftlicher Not oder Sozialneid, sondern aus menschlicher Einsamkeit und mangelndem Verständnis ableitete. Aber die Hauptursache beschrieb er so: "Jener emotionale Kräftevorrat, der so lange auf den Klassenkampf verschwendet wurde, wird jetzt mit erschreckender Geschwindigkeit auf den nationalen Kampf umgelenkt. Und hier kommen wir zum Thema Narzißmus zurück: Völker, die vom Eifer des Nationalismus erfaßt sind, verlieren die Fähigkeit, Schuld und Reue zu empfinden" (1992).
Er litt darunter, dass den Politikern seines Landes eine demokratische Redekultur fehlte und deshalb ein Schirinowskij mit seiner Fortsetzung stalinistischer Propaganda 1993 bei den Wählern Erfolg hatte: "Wenn so viel erschöpftes Volk bereit ist, jedweden demagogischen Versprechungen entgegenzukommen, dann ist das entsetzlich und gefährlich. Ich bin kein Wirtschaftsspezialist, ich weiß nicht, wie Rußland da zu helfen wäre. Aber ich bin Philologe. Ich weiß, wie wichtig es ist, mit den Menschen in einer ihnen verständlichen Sprache zu reden. Und es schmerzt mich zu sehen, daß sich außer Schirinowskij niemand darauf versteht. Die alte stalinistische Technik der Propaganda haben sie verlernt, aber eine neue, demokratische noch nicht erworben" (1994). Gasparow reagierte 1994 mit einer Neuausgabe seiner frühen Übersetzung von Ciceros Orator, dem Idealbild eines politischen Redners in der Tradition griechischer "Aufklärung" und Demokratie.
Er hoffte darauf, dass Gorbatschow, durch Fehler klug geworden, noch einmal in die Politik zurückkehren würde: "Gorbatschow hat in der Gesellschaft eine Unterstützung, an die sich nicht alle erinnern: Die Jugend ist ihm dankbar dafür, daß er den Afghanistan-Krieg beendet hat. Jetzt ist sie betäubt und noch gleichgültig gegenüber gesellschaftlichen Dingen. Aber in einigen Jahren wird sie erwachsen sein und dann ist mit ihr zu rechnen" (1992). Die Wahl Putins zum Präsidenten kommentierte er: "Ich traue niemals meiner Intuition, doch hier schon: Mit dem neuen Präsidenten wird es uns schlechter ergehen" (2000).
Im Jahr 2000 überraschte Gasparow mit einem ungewöhnlich komponierten Selbstbildnis, den lakonischen Notizen und Auszügen. Sie bestehen aus drei Textblöcken mit Essays über den Wert philologischer Arbeit, Übersetzungen aus der französischen Moderne und Erinnerungen an seinen eigenen Werdegang. Eingerahmt werden sie durch vier Wortglossare "Von A bis Z", wobei der letzte Buchtstabe des kyrillischen Alphabets "ja" auch "Ich" bedeutet.
Den alphabetisch geordneten Stichworten folgen aber Literaturfunde, Gesprächsteile, Selbstkommentare, Träume, Reisebilder, Märchen, Verse, Erinnerungssplitter an die Gewalt des Krieges, der Nachkriegsschulen und der spätstalinistischen Gesellschaft, Szenen aus dem Instituts- und Arbeitsleben, die den soziokulturellen Wert von Selbstbehauptung in Frage stellen. Gasparows "Ich" gibt sich ganz aus an seine vielfältigen philologischen Tätigkeiten des Verstehens und Ordnens und tritt genau damit in seinem einmaligen Reichtum zutage. Die streng geformte Enzyklopädie eines Aufklärers von leidenschaftlicher Nüchternheit, eines lakonischen Humoristen und stillen Analytikers seiner persönlichen Tragik wurde gerade für jüngere russische Leser zum Logbuch in unübersichtlich schwerer Zeit.
Gasparow hatte Mitstreiter am Institut für Weltliteratur. Der Ethnologe Jeleasar Meletinskij (1918-2005) erforschte dort seit 1956 die Genese der Erzählstrukturen aus Mythen, Epen und Volksmärchen. Er begeisterte sich für Claude Lévi-Strauss´ rationale Deutungen der Mythen und schuf etwas Vergleichbares für seine Kultur. Die Poetik des Mythos (1975), in zehn Sprachen übersetzt und in der Reformzeit neu aufgelegt, wurde zu einem Bestseller, da sie auch Fragen der Religion berührte. "Offenbar", so Meletinskij 1989, "ist Religiosität für einen Teil unserer Jugend der einzige Weg, moralische Werte zu bewahren. Für die Masse der Menschen spielt eine bestimmte Ebene des mythischen Bewußtseins eine starke Rolle: das Bedürfnis, sich das Leben harmonischer vorzustellen und in dieser harmonischen Welt seinen eigenen kleinen Ort der Geborgenheit zu finden."
Gasparow goss sein aufklärerisches Wissen in Artikel für die Literatur-Enzyklopädie. Meletinskij erhielt 1990 den Staatspreis für seine Enzyklopädie Mythen der Völker der Welt. Beide wurden sie mitten unter den Opportunisten ihres Instituts zu Rationalisten und Enzyklopädisten, die wie Diderot und d´Alembert gegen das Dunkelmännertum ihrer Zeit arbeiteten. Im Stil der Parteilosung "Die Fabriken den Arbeitern!" gab Meletinskij gegen die von Karrieristen überfüllte Russische Akademie der Wissenschaften 1990 die Losung aus: "Die Wissenschaft den Wissenschaftlern!"
Ab 1976 traf sich in Meletinskijs Wohnung am Südrand Moskaus ein- bis zweimal im Monat ein "Hausseminar" zur Poetik. Auch Gasparow nahm regelmäßig daran teil. Der Gastgeber selbst trug nicht vor und blieb aufmerksamer Zuhörer im Hintergrund. Danach aber, beim Tee bis über Mitternacht hinaus, belebte Meletinskijs expansive Lebensfreude und Lust auf alles kulturell Neue die Gäste. 1983 kam Andropow, ein Mann des KGB, an die Macht und Meletinskij rief das Seminar nicht mehr zusammen. Aus diesem Kreis aber wurden später die Lehrenden der neu gegründeten RGGU berufen.
Als 1998 seine Erinnerungen erschienen, erfuhr man, dass der Kriegsfreiwillige Meletinskij 1942-43, nachdem er sich aus einer Einkesselung der Deutschen Wehrmacht befreit hatte, neun Monate Gefängnis wegen "antisowjetischer Spionage" verbüßte, 1949 erneut verhaftet wurde und fünf Jahre im Lager zubrachte. Das war Hintergrund der couragierten Lebensfreude dieses in seiner Laufbahn immer wieder behinderten und doch für die Kultur seines Landes unerschöpflich produktiven europäischen Rationalisten.
Ein dritter Mitstreiter am Institut für Weltliteratur, der Altphilologe, Kultur- und Religionswissenschaftler Sergej Awerinzew (1937-2004), Abgeordneter im Obersten Sowjet 1989-91, Neuübersetzer der Psalmen und Evangelien und zu anderen Zeiten wohl ein Kirchenreformator, bilanzierte im Rückblick auf die Zeit der Stagnation: "Literaturgeschichte ist nicht nur einfach ein Erkenntnisobjekt, sondern gleichzeitig die Chance, eine große Zeit zu atmen, statt in einer kleinen zu ersticken."
Alle drei waren sie entschiedene Kritiker des neuen Irrationalismus in Wissenschaft und Gesellschaft Russlands. Awerinzew sprach vom "Pyrrhussieg des gegenwärtigen Postmodernismus", der im Umgang mit Phänomenen der Kultur eine vereinfachende, die historischen Zusammenhänge zerstörende Beliebigkeit praktiziere. Gasparow ging in seinen Notizen und Auszügen mit dem unreflektierten, selbstherrlichen Subjektivismus der Poststrukturalisten ins Gericht.
Zu tief hatten sie sich in das sinnreiche Gebäude europäischer Kultur hineingedacht, als dass sie es ahistorischer Beliebigkeit preisgegeben hätten. Was ihnen selbst in Krisenzeiten Halt gab, wollten sie so auch an die nachfolgende Generation in der Krise der Öffnung Russlands weitergeben. Das Anti-Kommerzielle ihres Verhaltens und Schreibens scheint aus dem gegenwärtigen Wissenschaftsmilieu zu verschwinden. Es wird neuer Aufklärer und Rationalisten bedürfen.
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