Wolfgang Hilbig Nach Gedichten erscheinen nun im 2. Band der Werkausgabe von Wolfgang Hilbig Erzählungen und Kurzprosa. 13 Stücke sind noch unveröffentlicht und stammen aus dem Nachlass
Drei Jahre nach Verleihung des Büchner-Preises an Wolfgang Hilbig begann sein Schweigen als Schriftsteller mir in den Ohren zu dröhnen. Schrieb er noch? Im Herbst 2005 übergab ich einem Frankfurter Lektor den Tonmitschnitt einer inoffiziellen Ost-Berliner Lesung von 1982 mit Hilbigs Erzählung Die ewige Stadt. Die grandiose Darstellung apokalyptischen Verfalls in einer ideologisch zweigeteilten Stadt, in die das Meer vordringt, beginnt ganz harmlos im Stil einer Reiseempfehlung: „Im Sommer nach Rom zu reisen, ist wenig empfehlenswert.“ Hilbig hat den Text nicht publiziert. Aber bei seinem frühen Tod 2007 gehörte er mit zum Nachlass.
In Band II der Werkausgabe fehlt er. Aus dem Nachlass aufgenommen wurden hier nur solche Erzählungen, die maschine
e maschinenschriftlich vorlagen. Doch eines Tages wird man sich die Mühe machen und auch Die ewige Stadt edieren.Das früheste Stück aus dem Nachlass heißt Weihnachtswald (1960/82). In romantischer Manier erzählt es von einem schuldhaft erlebten Ablösungsversuch von der Mutter. Der Übergang vom Kind zum Mann hält in der Mitte an. Bild dafür ist die „gefrorene Jugend der weißen Weite“ des Winters. Doch das Prosastück beginnt mit der Reflexion eines Briefes, in dem der Absender schrieb, „er sei wieder zurückgekehrt in Wald und Schnee“. Dieses Bild eröffnete dem Autor den mythischen Weg zurück in die Winter seiner Kindheit.Der Einbruch der RealitätDer Brief war, wie wir aus einer Rede von Hilbig wissen, von Franz Fühmann. Er hatte Hilbig 1980 überhaupt erst zu einem öffentlich anwesenden Dichter in der DDR gemacht. In einer Festrede auf Fühmann 1982 feiert Hilbig die mythische Kraft der Sprache: Erst in ihren „irdischen“ Wörtern wird das Wesen der Dinge existent und schafft Gedächtnis.Im Prosabild Schläfriges Gras (1968) vergegenwärtigt sich der Erzähler Einsamkeit und Fremdheit vor der Welt seit früher Kindheit. Sexualität entdeckte er als „ein Mittel ... gegen diese Fremdheit“, aber er kann sie nicht leben. „Ich hatte mich stets gewehrt – verzweifelt – gegen den Einbruch der Realität in meine Träume“. So bleibt „ein überwältigendes Verlangen nach Zärtlichkeit“, „unstillbar ... mein Leben lang“, eine „unendliche Müdigkeit“ und die Sehnsucht nach Schlaf. Das Bild schließt offen: „O welches Land, o welche müde Generation“, „es gibt so vieles, von dem wir uns befreien müssen, denke ich, so viel und zuletzt auch von unserer Müdigkeit“.Fünf Jahre später entsteht ein Fluchtbild von satirischer Vehemenz: In den Galerien. Am Tag eines Volksfestes im Mai eilt ein Verspäteter in eine „der großen Ausstellungen kämpfender Kunst“ im örtlichen Museum. Er durchläuft zunehmend befremdet die Arbeiter-Bilder, die Frauenakte und die ihnen in geruchloser Reinheit und Jungfräulichkeit verwandten „ländlichen Motive“ der Ackerflächen. Gebannt verweilt er vor antithetisch aufgeteilten „Martyrien“-Bildern von Krieg und Frieden. Die Synthese findet sich in den politischen Akteuren dieser Bilder, in den Köpfen ihrer Maler und den gleichgültig einverstandenen Betrachtern.Aber der Erzähler kann sich außer in der Antithese der Schreckensbilder mit ihren Opfern und einer „vergessenen Vergangenheit“ nirgendwo erkennen, am wenigsten im Porträt des großen Führers. Er bleibt der Abwesende auf all diesen Bildern, ein nicht abbildbarer Schatten. Geschlagen von dieser „Blendung“, flüchtet er auf die obere Empore der Galerie und findet sich ganz allein vor einem riesigen, „kunstfertig gerahmten“ leeren Tafelbild, das „keinen Blick in die Tiefe“ mehr zulässt, sondern nur noch Anbetung. Entsetzt stürzt der Einzelgänger aus der „Wirklichkeit dieses Museums“. Aber draußen weiß er das feiernde Volk schon „verwandelt in die unersetzlichen Prachtstücke der Galerien“.In Wald und SchneeHilbigs Erzählung handelt von einer Kunstwahrnehmung, die sich vom offiziellen „Realismus“ absetzen und zu einer in Oppositionen und Doppelgänger-Figuren angelegten zweiten „Romantik“ werden muss, wenn sie der disparaten Wirklichkeit gerecht werden will. Dieser Kunstform geht eine besondere Existenzform voraus: sich absetzen und die im „Realismus“ nicht vorgesehene eigene Existenz schreibend behaupten. „Ich werde aus dem Text ... herausfahren als die Person, die ich sein werde“, heißt es in einem anderem Nachlasstext (Der Abend des Vergessens).Hilbigs Schreiben fand statt als Selbstkonstituierung. Dazu zitierte er 1982 Fühmann: „Schreiben ist nicht etwas, das man muß, doch nur, wenn man es muß, ist es Schreiben.“ Das Schreiben-Müssen erklärte sich für Hilbig vor allem aus der mythischen Kraft der Wörter: „daraus, daß seine Texte nicht mehr Medium für irgendwelche Weisheiten sind, sondern daß sie ihr Leben begonnen haben, weil ihr Gedächtnis sich zu erhalten im Begriff ist“. Mythische Wörter wie „in Wald und Schnee“ stifteten auch ein Band der Gemeinschaft. Wie kam es, dass Hilbig seit 2001 bis auf Weniges nichts mehr schrieb?Sein letztes Nachlassfragment Die Nacht am Ende der Straße (2005) versucht eine Antwort. Der Schriftsteller „C. H.“ kämpft mit Altern und Alkohol. Schlaflos ist er den eigenen Fragen nach dem Grund seiner „Lähmung“ ausgeliefert. Angesichts der schwindenden Lebenszeit erscheint ihm die Idee vom Schreiben-Müssen nur noch als „dämonische Lüge“. In jungen Jahren war es eine Schutzbehauptung gegenüber den Zumutungen der Umwelt. Aber „wieviel ehrlicher wäre es gewesen zu sagen, daß er schreiben wolle“. Jetzt wird dieses „Müssen, wollen, können“ als gottgleiche Selbstüberhebung verdammt, die das Leben von H. zerstörte. Im Innern spürt er nur noch „Leere“, „keinerlei Resonanz“.Schreibt er nicht, weil er wieder trinkt? Oder trinkt er, weil er nicht schreibt? Diesen Teufelskreis hatte schon Hilbigs letzter Roman Das Provisorium (Freitag 13/2001) erschöpfend beschrieben. H. jedenfalls ist es unmöglich, das Nicht-Schreiben zu akzeptieren und in einem „Zustand bar jeder Existenz“ weiterzuleben: „Es kann nie genug sein, nicht für mich, denn es kommt mir so vor, als hätte ich noch gar nicht richtig angefangen“.Zerfall der SpracheDoch er beklagt den Verlust der „eigenen Worte“. Versuche, „irgend etwas zu beschreiben“, geraten zu einem „schrecklichen trockenen Deutsch“ wie „aus den Massenmedien“. Wenn H. die Ursache für seinen Sprachverlust im 11. September 2001 zu sehen meint, ist das zweifellos ein Konstrukt. Aber dass der Zerfall der eigenen Sprache außer mit dem persönlichen Elend von Alkohol und Verlust der Geliebten auch etwas mit der medialen Öffentlichkeit zu tun hat, liegt nahe.In eine Schreibkrise geriet Hilbig, als er die Frankfurter Poetik-Vorlesungen übernahm. Die ihm fremde Form öffentlicher Reflexion seines Schreibens (Abriß der Kritik, 1995) blockierte ihn derart, dass er fürchtete, nicht mehr schreiben zu können. Im Provisorium erwägt „C.“ Fluchtgedanken: „Er mußte aufhören, ein öffentlicher Schriftsteller zu sein“, wobei der Akzent auf „öffentlich“ liegt. Je mehr Hilbig zur öffentlichen Figur gemacht wurde, desto mehr zog es ihn ab von seinem eigenen Denken „in Bildern“. Und das schien den „Literaturbetrieb“ auch immer weniger zu interessieren.Das Provisorium, diese radikale Abrechnung mit sich selbst und seiner Zeit um die Jahrtausendwende, ist folgerichtig in einer Sprache geschrieben, die nicht mehr die hochliterarische der frühen Erzählungen sein konnte. Hilbigs letzte Worte aus dem Nachlaß lauten: „Es waren die Sätze der Massenmedien… H. fand keine anderen Sätze.“Band II der Werkausgabe von Wolfgang Hilbig bringt uns die literarische Qualität seiner Kurzprosa zurück, diese „Territorien der Seele“, das Beste, was ihm neben den frühen Gedichten gelang. Der Abstand zur gegenwärtigen Literatur, die Sexualität als eine Art männliche Turnübung beschreibt und allerhand tüchtige Schilderei für Erzählung hält, ist eklatant. Aus der ästhetisch verdichteten Ordnung der Dinge und ihrer nicht alltäglichen Sprache bei Hilbig leuchten Sinnbilder auf, die in der schieren Realität nicht zu haben sind. Die grenzenlose radikale Freiheit seines Denkens in Bildern erzeugt eine Atmosphäre, die dem Einzelnen in der dunklen Geschichte des 20. Jahrhunderts seine Würde wiedergibt.
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