Die endlose Weiterbildung

Überlebensstrategien Zwei neue Bücher umkreisen Individuum und Gesellschaft sowie verschiedene Definitionen von Freiheit

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ob der Mensch einen freien Willen habe oder nicht, ist sicherlich eine der beständigsten Fragen der Menschheit. Der Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut, Joachim Bauer, ist überzeugt, dass der freie Wille eine dem Menschen natürlicherweise gegebene Eigenschaft ist.

In seinem kürzlich beim Blessing Verlag publizierten Buch Selbststeuerung – Die Wiederentdeckung des freien Willens stellt Bauer, der an der Universität Freiburg lehrt, in anschaulicher und zugleich unterhaltsamer Weise aktuelle neurobiologische Sichtweisen auf den menschlichen Geist vor. Demnach sei menschliches Denken ohne seine biologischen Grundlagen selbstverständlich nicht möglich, trotzdem seien Gedanken laut Bauer nicht durch die Biologie determiniert.

Bauer vergleicht die Funktionsweise des Gehirns mit der Funktionalität eines Klaviers. Das Klavier stelle lediglich die materielle Bedingung für Musik und Töne dar. Welche Art des Musikstücks auf dem Klavier erklinge, sei damit jedoch noch lange nicht entschieden. Die Gedanken eines Menschen sind laut Bauer vielmehr durch die gedankliche Welt geprägt, welche sich durch Lebenserfahrungen und übermittelte Wertvorstellungen im Laufe eines Lebens herausbildet. Die nervliche biologische Grundlage diene zwar als materieller Träger, wirke jedoch nicht determinierend auf die Inhalte.

Um das menschliche Denken zu erläutern, geht Bauer insbesondere auf zwei Hemisphären des Gehirns ein, einerseits auf das sogenannte Basissystem andererseits auf den Präfrontalen Cortex.Das Basissystem bildet die neurobiologische Grundlage für triebhafte, spontane und überwiegend automatisch ablaufende Verhaltensweisen. Zu dem Basissystem zählen die Angstzentren, der für Stressreaktionen wichtige Hypothalamus sowie die im Mittelhirn sitzenden Belohnungssysteme. Die zweite Hemisphäre, das Stirnhirn, auch Präfrontaler Cortex genannt, bildet den Sitz des freien Willens. Neben der Fähigkeit der Informationsverarbeitung verfügt der Präfrontale Cortex über eine Reihe weiterer wichtiger Eigenschaften. So ermöglicht er die Fokussierung der Aufmerksamkeit, aber auch die Fähigkeit, sich auf mehrere Aspekte gleichzeitig konzentrieren zu können. Auch die Fähigkeit, Regeln und ihre Veränderung zu erkennen und sich diesen anzupassen, wird dem Präfrontalen Cortex zugeschrieben. Neben diesen Eigenschaften steht der Präfrontale Cortex in Zusammenhang mit der sozialen Intelligenz. Er ermöglicht die Kreation innerer Bilder anderer Menschen und bildet auf diese Weise die Vorrausetzung für emphatisches Denken.

Bauers spannend verfasstes Buch will den Leser gewissermaßen davon überzeugen, sich der Fähigkeiten des Präfrontalen Cortex stärker zu bedienen. Vorrausschauendes Denken, Kreativität, Selbstwachstum, die Fähigkeit sich selbst zu steuern und auf diese Weise wichtige Lebensziele zu erreichen, der Verzicht auf schädigende Substanzen und selbstzerstörerisches Verhalten – alle diese Handlungsvoraussetzungen werden insbesondere durch den Präfrontalen Cortex gesteuert. Bauer verbindet seinen Ansatz bzw. seine Überzeugungsarbeit dabei durchaus mit Gesellschaftskritik.

Die deutsche Gesellschaft bezeichnet er als eine teilweise süchtige Gesellschaft, in der zu viele Menschen durch ihre Abhängigkeiten von Drogen, Alkohol, Medien etc. im Grunde fremdbestimmt leben, beziehungsweise den Kontakt zu ihren Lebenszielen verloren haben. Laut Bauer handeln viele Menschen im Sinne eines Reizreaktionsschemas, gesteuert durch äußere mehr oder weniger zuträgliche Ereignisse und Angebote. Bewusste Selbststeuerung sollte als alternative Handlungsstrategie wieder viel stärker angestrebt und auch schon Kindern vermittelt werden. Neben zahlreichen spannenden Darstellungen psychologischer Experimente, schildert Bauer, wie Kindern (und jungen Menschen) die Fähigkeit zur Selbststeuerung beigebracht werden kann und welche langfristigen Vorteile sie gewissermaßen bietet. Darüber hinaus geht Bauer in mehreren Kapiteln auf Themen zu Gesundheit und Gesundheitswesen ein.

Bauer spricht sogar von Glück und Lebensfülle, welche man durch eine bewusste Selbststeuerung erlangen könne, dieser Aussicht würde der Politikwissenschaftler Patrick Schreiner vermutlich nur mit Einschränkung zustimmen. Zwar erhöhe gezielte Selbststeuerung die Chance, im Leben erfolgreich und glücklich zu werden, garantiert werden könne dies jedoch nicht.

In seinem Buch Unterwerfung als Freiheit – Leben im Neoliberalismus (2015, PapyRossa Verlag) widmet er sich dem neoliberalen Gesellschaftssystem und der mehr oder weniger unvermeidbaren Umsetzung neoliberaler Konzepte in der Alltagspraxis. Freiheit ist laut Schreiner im Neoliberalismus als eine Form der negativen Freiheit zu verstehen, d.h. als eine Freiheit von etwas, anstatt einer Freiheit zu etwas, welche als positive Freiheit bezeichnet wird.

Im Neoliberalismus wird eine besondere Form der negativen Freiheit geschaffen, nämlich in der Weise, dass sich der Staat so weit wie möglich aus Eingriffen in den Markt heraushält, die Möglicherweise zu einer sozialverträglicheren Verteilung der Gehälter führen würden. Das Individuum, d.h. der Arbeitnehmer ist gewissermaßen frei von staatlicher Unterstützung. Andererseits greift der Staat im Neoliberalismus dann regulierend ein, wenn es darum geht, gute (sogenannte wettbewerbsfähige) Bedingungen für Industrie und Unternehmer zu schaffen, z.B. in Form von Steuersenkungen für Unternehmer.

Teilaspekt des Neoliberalismus sei, dass es nicht allen (gleich) gut gehen könne, dies sei auch nicht gewünscht, weil Gleichrangigkeit den Wettbewerb einschläfern würde. Während sich der Staat im Neoliberalismus aus sozialpolitischen Eingriffen möglichst weitestgehend heraushält, wird Bildungspolitik besonders gefördert. An dieser Stelle kann die mögliche gemeinschaftliche Verantwortung einer Gesellschaft auf das Individuum übertragen werden. Das neoliberale Individuum ist selbst für sein Glück verantwortlich, und das Tor zu diesem Glück sei Bildung. Da es viele arbeitslose Akademiker/innen gibt, stellt sich an dieser Stelle zunächst ein Widerspruch ein. Dies wird jedoch durch die von Neoliberalen vertretene Einschränkung aufgehoben, dass hohe Bildung und Wettkampf zwar die Chancen erhöhe, jedoch kein Garant für Glück und Erfolg im Arbeitsleben seien.

Spannend sind Schreiners Analysen zur neoliberalen Alltagspraxis. Diese zielen darauf ab, den Menschen marktkonform umzugestalten. Dabei gehen der Druck von außen und die eigene Überzeugung oftmals Hand in Hand. Ein Beispiel hierfür sei die Bereitschaft zu endlosen Weiterbildungskursen, welche die ArbeitnehmerInnen noch fitter für den Wettbewerb erscheinen lassen sollen. Kennzeichen des idealen neoliberalen Arbeitnehmers sind der Wille zur Wettbewerbsfähigkeit, Aktivität, unternehmerisches und egoistisches Denken, Selbstdisziplin, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Um den kompetitiven Ansprüchen gerecht zu werden, müssten Arbeitnehmer sich kontinuierlich selbstkritisch analysieren, optimieren und ihre Fortschritte darstellen - Denn auch die beste Weiterbildung nutzt nichts, wenn die Kollegen und Kolleginnen davon nichts mitbekommen.

Weitere Mediatoren des neoliberalen Denkens seien Ratgeberliteratur, esoterische Philosophien, Castingshows, Reality Soaps und sogenanntes Positives Denken. Sie alle führen von der Gesellschaftskritik fort und lenken den Fokus auf das Individuum, welches sich vermeintlich ändern müsse. Grundsätzlich kritisiert Schreiner an der neoliberalen Ideologie, dass sie nur am Individuum ansetzt und nur von diesem Anpassungsleistungen erwartet werden, während die Gemeinschaft für sozialverträgliche Zustände nicht mehr verantwortlich gemacht wird. Auf diese Weise sind System und Gesellschaft gänzlich aus jeglicher Verantwortung entlassen. Mediale Resultate hiervon sind zum Beispiel die Ächtung Arbeitsloser, die als arbeitsunwillig bezeichnet werden.

Die verschiedenen Perspektiven der beiden Bücher werfen viele neue Fragen auf und sind daher für die Lektüre sehr zu empfehlen.

Info

Selbststeuerung - Die Wiederentdeckung des freien Willens Joachim Bauer, Blessing Verlag; 240 S. ; 19,99 Euro

Unterwerfung als Freiheit - Leben im Neoliberalismus Patrick Schreiner, PapyRossa Verlag; 127 S. ; 11,90 Euro

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden