Längst wurde ich darüber belehrt, daß - seit es Schulen gibt - über ihr Versagen geklagt wird. Die Krise begleitet sie. Also winken bei diesem Begriff viele Lehrer und Erziehungswissenschaftler ab.
Doch es hilft nichts: die Schule ist nicht im Lot. Das tritt immer mehr zu Tage, und unsere Debatte hat dieses Urteil verstärkt. Ein Vater sagte es so: Die Schule war auch früher dem Leben nicht nah. Aber eine solche Entfernung wie heute gab es nie.
Drei Symptome der heutigen Krise möchte ich nennen:
Leistungsschwächen von Schulabgängern, die in der Berufsausbildung, an Hochschulen und zum Teil im internationalen Vergleich auffallen.
Zweifel an den überkommenen Lerninhalten angesichts technologischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Was ist heute Grundbildung? Gibt es einen Bildungskanon? Was muß für die Zukunft gelernt werden, worauf kann verzichtet werden?
Disziplinprobleme, Gleichgültigkeit und zunehmende Gewalt unter Schülern. Die Autorität der Institution Schule sowie der Lehrer sinkt. Und alle diese Probleme müssen gelöst werden im Zeichen der Geldknappheit, unter der Pression des staatlichen Sparkurses. Welchen Stellenwert wird die Gesellschaft den Schulen in ihrer Liste der Prioritäten zuweisen? Die Position der Schulen ist schwach, auch weil die Krise sie in einer Phase trifft, in der es keine Reformbewegung gibt, die Neues denken würde. Eine Bewegung fehlt, von der Impulse und auch Druck und Mobilisierung von Öffentlichkeit für die Probleme der Schule ausgehen würde.
Die Schüler sind demotiviert, ist eine feste Formel. Sie verweigern sich.
Wie ist es dazu gekommen? Verweigern sie sich vielleicht aus Gründen, die außerhalb der Schule liegen? Blocken sie ab, weil sie sich auf eine völlig unüberschaubere Zukunft zubewegen? Weil sie vielfältige Signale empfangen, daß die Gesellschaft nicht auf sie wartet, daß sie nicht gebraucht werden, daß sie nur dann gut fahren werden, wenn sie andere verdrängen?
Der Schule kann die Lösung solcher gesellschaftlichen Probleme nicht aufgebürdet werden, wie zu Recht Heribert Seifert anmerkt (Freitag>13/99). Aber die Schule begeht nach meinen Eindrücken eine Hauptsünde: So zu tun, als wäre alles normal, als würde man in ihr »fürs Leben lernen«, für ein Leben, das nach vertrauten Mustern verlaufen könnte, wenn man nur fleißig und brav den vorgezeichneten Wegen folgt.
Sie ignoriert das Problem, das sie tatsächlich auch nicht lösen kann. Doch dieses Ignorieren macht sie so unendlich uninteressant und für die Jugendlichen zur oktroyierten Pflicht.
Warum aber scheinen die Schulen so wenig fähig, auf die »Herausforderungen der Zeit« zu reagieren? Ein Grund dürfte darin liegen, daß sich ihr Personal im Wesentlichen aus Beamten zusammensetzt. Das ist ein Schwachpunkt der deutschen Schule. Das Beamtensystem legt zudem nahe, daß ein auf Sicherheit orientierter Typus diesen Beruf wählt. Lehrer sind zwar nicht an den Sahnetöpfen der Gesellschaft plaziert, aber die Angst vor dem sozialen Abgrund ist ihnen erspart. Das Gehen auf schwankendem Grund ist ihnen unbekannt. Die Lehrerschaft ist von den sozialen Erfahrungen und Schicksalen ihrer Schüler unendlich fern. Sie ist keinen existentiellen Ungewißheiten ausgesetzt, muß kein unternehmerisches oder künstlerisches oder sonstiges Risiko eingehen. Dabei möchte ich gar nicht im Zeitgeiststil behaupten, daß erst das Risiko den Menschen ausmache. Doch die Kalkulierbarkeit der Verhältnisse fürs ganze Leben, die Selbstabschottung gegen Wenden und Wechsel, die oft eine latente Angst vor offenen Lebensbedingungen einschließt, kann Defizite mit sich bringen.
Natürlich wird die soziale Diskrepanz zwischen Lehrern und Schülern meist verdrängt, doch es macht sich nach dem psychologischen Einmaleins auf die seltsamensten Weisen bemerkbar. In schlechter Laune, in Pedanterie und sturer Pflichterfüllung, in Angst vor den Schülern und Überbetonung der Schwierigkeiten, im Gefühl des Selbstmitleids wegen der lebenslangen Fron vor den kaum zu bändigenden Klassen mit demotivierten Schülerinnen und Schülern.
Lehrerschelte ist langweilig, habe ich selbst am Anfang dieser Debatte (Freitag> 7/99) geschrieben. Inzwischen denke ich, Lehrer können keinen Schonraum beanspruchen. Der würde das Denken von Alternativen blockieren.
Eine Alternative wäre: Den Lehrerberuf können Leute erst ausüben, wenn sie vor oder nach dem Studium Praxis in einem anderen Beruf hatten. Also wenn sie mehr vom Leben kennen als Schule und Hochschule. In bestimmten Zeitintervallen legen Lehrer eine Pause an ihrer Schule ein und arbeiten woanders. Es gäbe sicher Berufe, die naheliegen, Übersetzer, Bibliothekare, Programmierer, Arbeit in der Forschung, in einem Handwerk. Wie schön dann die Rückkehr sein würde!
Währenddessen sollten Menschen aus anderen Berufen viel mehr als bisher in die Schulen geholt werden. Ich weiß: in einer Gesellschaft, die einerseits enorme Arbeitslosigkeit produziert und andererseits den Teil an Leuten, die noch im Arbeitsprozeß stehen, bis zum letzten Tropfen ausquetscht wie Zitronen, ist ein entsprechender Austausch schwer zu organisieren. Schon bei einem solchen Vorschlag greift Pädagogik ins gesellschaftliche Gefüge. Deshalb etwa auf ihn verzichten?
Unsere Debatte kreiste zum Teil um die Frage, ob die Schulpflicht nicht generell aufgehoben und durch ein freies Angebot ersetzt werden sollte (Wieland Elfferding im Freitag> 9/99), ob solche Entwicklungen nicht sowieso schon im Gange sind und wie man sich zu ihnen stellen kann (Bernd Rathmayr und Olaf Schäfer im Freitag> 12/99). Zur Zeit wurden und werden in den Parlamenten Gesetze vorbereitet, die den Schulen eine sehr viel größere Eigenständigkeit in pädagogischen und finanziellen Bereichen übertragen sollen. Die darin verborgenen widersprüchlichen Tendenzen beschreibt hier Peter Ringel, der in Lüneburg Kulturwissenschaften studiert und eine gewisse Zeit als Praktikant beim Freitag> verbrachte.
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