Blicke aus den Augenwinkeln

AUSLÄNDER BEI DER DEUTSCHEN POLIZEI Nicht einmal die Uniform gehört der Nation allein

Im Zug, jenseits des Ganges, sitzt ein Zeitungsleser. Über einer von ihm aufgeschlagenen Seite steht groß die Frage: Was ist deutsch? Drei Tage lang habe ich Gesprächen über dieses Thema zugehört, Gesprächen zwischen zwölf Polizisten und Polizistinnen aus Mecklenburg-Vorpommern und ihren Hamburger Gästen, von denen einige - tja, wie sagt man's? - »anderer Herkunft« oder »ursprünglich Ausländer« - sind. Sie sind nicht unbedingt deutsche Staatsbürger, aber Beamte und auf die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland vereidigt und eingeschworen. In den grünen Uniformen fahren sie Streife, nehmen Protokolle bei Verkehrsunfällen auf, schlichten Familienstreitigkeiten. Zunehmend müssen sie Neonazis in Schach halten. Manchmal geht es um Leben und Tod - für andere, für sie selbst.

Der Zug bummelt durch die Nacht. Der Mitreisende sitzt gerade in seinem Trenchcoat, den Aktenkoffer neben sich, die Schuhe blank. Rühr mich nicht an, ist seine Botschaft. Als der Zug in den letzten Bahnhof einrollt, frage ich ihn: Könnte ich vielleicht diese eine Seite bekommen? Der Blick, der mich trifft, ist erstaunt, aber kühl. Und sein Nein ist sachlich, ohne Bedauern. Nach den drei Tagen, in denen geduldig die Differenzen zwischen Deutschen und Nichtdeutschen aufgeschlüsselt und interpretiert wurden, kann ich nicht anders, als die winzige Episode einzusortieren: die war deutsch.

Geben und Nehmen

Jaroslaw, der aus Kiew stammt und jetzt deutscher Polizeimeister ist, hätte wahrscheinlich die ganze Zeitung herübergereicht. - Mit der Freude, etwas geben zu können und vielleicht auch mit der aufflackernden Neugier: »Was interessiert Sie denn daran?« Die Gelegenheit hätte er kaum verpasst, in der letzten Reiseminute einen Dialog aufzunehmen, so dass man noch einige Schritte zusammen geht, über den Bahnsteig, die Treppe hinunter, bis sich die Wege trennen. Das wäre es ihm wert, auch wenn er die Zeitung noch nicht ganz gelesen hätte. Er hätte sie eingetauscht gegen die Momente des Kontakts.

Alexander aus Moskau erklärt irgendwann, er und seine Landsleute seien beim Geben durchaus berechnend. Wenn sie den Nachbarn gern etwas bringen, können sie erwarten, von ihnen ein anderes Mal etwas zu bekommen. Eine einfache Rechnung. Die Deutschen scheinen sie nicht zu kennen. Sie fürchten jenen kleinen Zwischenschritt und halten das Ihre lieber von Anfang bis Ende fest zusammen, gehen kein Risiko ein, bleiben bedeckt. Das ist einer der Unterschiede. Haben etwa die Deutschen mit Großzügigkeit so schlechte Erfahrungen gemacht?

Unsere Freiheitsordnung

Die Zeitung des Mitreisenden war DIE WELT, wie ich im letzten Moment erkennen konnte. Und die Seite über das »Deutsch-Sein« war von dem Mann geschrieben, der trotz des manifesten Neonazismus ausgerechnet jetzt die Formel von der deutschen Leitkultur ins politische Spiel bringt. Friedrich Merz exklusiv. Ein Text mit dem Unterton einer Drohung.

Merz bescheidet sich mit einem schulmäßigen Schema von den »Regeln des Zusammenlebens in Deutschland«, die zu »respektieren« seien. »Wir dürfen die Entstehung von Parallelgesellschaften nicht dulden.« Der Artikel lebt von der Unterstellung einer Gefahr. Formelhaft wird »unsere« Werteordnung aufgelistet: freiheitlich, von der unbedingten Achtung vor der Würde des Menschen geprägt, von Bürgerpflichten begleitet und Europa verpflichtet. Besonders die »erkämpfte Stellung der Frau« stellt er heraus, sie gehöre zur »Identität unserer Freiheitsordnung«. Wer aus religiösen Motiven ein anderes Verständnis habe, müsse das deutsche Verständnis akzeptieren.

Welcher unausgesprochene Verdacht schwingt mit? Dass Moslems deutsche Frauen im Harem einsperren? Oder geht es um das Kopftuch? Alles bleibt offen. Misstrauen durchsetzt den Text. »Das Miteinander ... stößt an seine Grenzen, wo der Minimalkonsens zur Freiheit, der Menschenwürde und der Gleichberechtigung nicht mehr eingehalten wird.« Merz erhebt das Ressentiment zur nationalen Tugend.

Die Stille im Bus

Boubakari kam 1988 aus dem Kamerun zum Studium nach Leipzig. Landung in Schönefeld, mit einem Bus zum Bahnhof. Seltsame Stille im Bus. Er versucht sie sich zu erklären: es müsse gerade ein Nationaler Trauertag angesetzt sein. In Leipzig klärten andere Afrikaner ihn auf, hier sei es immer so still. »Wir Afrikaner brauchen immer Menschen um uns herum. Mir ist klar geworden, dass die Deutschen, noch mehr, die Nordeuropäer, keine anderen Menschen brauchen«, resümiert er.

Im rumänischen Karpatendorf, aus dem Stefan kommt, tummeln sich ähnlich wie in Boubakaris Haus neben den Eltern die Geschwister, Neffen, Nichten und Nachbarn. Seine deutsche Frau fühlt sich bei Besuchen unendlich wohl in der lebhaften rumänischen Familie. Zu Hause aber gesteht sie: immer würde sie es nicht ertragen. Sie brauche doch ihre Ruhe, ihr Alleinsein, ihre Konzentration auf sich. Stefan kann sich noch in beiden Milieus bewegen. Wenn er in Rumänien ist, ist er Rumäne. Wenn er in Deutschland ist, dann - ja dann ist er mehr und mehr ein Deutscher. Fast aufgebracht ruft er in die Runde: »Ich kann meinen Kindern nicht die rumänische Kultur weitergeben. Die Sprache vielleicht. Aber nicht die Kultur. Ich weiß das alles nicht mehr, ich kann nicht rumänisch kochen, ich sehe nicht die Filme, lese nicht die Bücher. Ich interessiere mich jetzt für die deutsche Kultur. Was soll ich bewahren? Es ist nützlich für meine Kinder, wenn sie zwei Sprachen kennen, ich hoffe das zumindest.« Nützlichkeit ist noch am ehesten überzeugend.

Zwei Kulturen

Dragan gehört zur Wasserschutzpolizei in Hamburg, seine Familie stammt aus Serbien, Hamburg ist sein Geburtsort, aber aufgewachsen ist er in beiden Ländern und Kulturen. Ihm ist es mit einer Ausnahmeregelung gelungen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen und die jugoslawische zu behalten. Den Deutschen ist solche Doppelung nicht Recht, er weiß es, aber darauf nimmt er keine Rücksicht: »Tut mir leid, es ist die beste Lösung. Denn ich trage nun einmal beide Kulturen in mir! Warum soll ich mich von einer ganz trennen? Wer kann das mit gutem Gewissen von mir verlangen? Und wozu?«

Dragan ist selbstbewusst. Sein Deutsch steht ihm perfekt zur Verfügung und verrät ihn nicht sofort als »Fremden«. Die Wasserschutzpolizei hat im Hamburger Hafen fast nur mit Menschen aus aller Herren Länder zu tun, und seine Lebenserfahrung zwischen den Kulturen erweist sich da immer wieder als sein Vorteil. Nur die Mutter kann kaum akzeptieren, dass er nun ein deutscher Polizist ist. Damit sei er ja Teil dieses Staates, Teil auch der deutschen Geschichte geworden. Sie verschweigt es gegenüber der Verwandtschaft.

Hamburg hat bislang 60 Polizisten eingestellt, die nicht von Haus aus Deutsche sind. Kürzlich kam ein Inder dazu, dort der erste dunkelhäutige Polizist in grüner Uniform. Unter 8.000 Polizisten fallen sie nicht ins Gewicht, aber fallen auf: Sie verkörpern einen Tabubruch.

Polizisten mit fremdem Akzent

Was ist denn ein »Ausländer«? Wie nennt man ihn, wenn er hier in zweiter, dritter Generation lebt? »Mitarbeiter ausländischer Herkunft«, so lautet eine korrekte bürokratische Lösung bei der Polizei. Und wenn er deutscher Staatsbürger ist, was ist er dann?

Polizei solle die Gesellschaft widerspiegeln, erklärt der Hamburger Oberkommissar Martin Dörnte, der für die Einstellung der Polizisten nichtdeutscher Herkunft verantwortlich ist. Vorbilder sind Holland, London. Die Hamburger Polizei wirbt mit dem Filmporträt einer jungen Türkin, die Polizistin wurde. Sie patrouilliert gemeinsam mit einem grauhaarigen Kollegen über einen türkischen Markt in der Hansestadt. Beide in der gleichen Uniform. Ihr schwarzes Haar fließt unter der Schirmmütze hervor, ihr Gesicht wendet sie jugendlich streng den Verkaufsständen links und rechts zu. Polizisten müssen immer um ihre Autorität bangen.

Dörnte will erreichen, dass die Erfahrung von zwei Kulturen und die Kenntnis von zwei Sprachen als ein »zusätzliches Eignungsmerkmal« gelten, als positiv bewertete Qualifikation. Ansonsten heißt das Ziel Normalität. Alle müssen dieselben Tests bestehen bei den Aufnahmeprüfungen, dann folgen zwei Jahre Ausbildung. Im Beamtenrecht ist seit den fünfziger Jahren eine Klausel für die Aufnahme von Staatsbürgern anderer Länder versteckt, mit der ursprünglich für Wissenschaftler die Tür geöffnet werden sollte. 1993 hat die deutsche Polizei beschlossen, diese Klausel zu nutzen.

Konfusion

Immer wird der Begriff Kultur so benutzt, auch während der Diskussionen unter den Polizisten und Polizistinnen, als wäre er eine feste Größe, gebunden an ein Volk, welches wiederum einen Staat verkörpert. In Kamerun gibt es 260 Sprachen und Völker, wirft Boubakari lächelnd in die Runde. Das Gleichgewicht zwischen ihnen hat bisher niemand angetastet, darum lebt das Land in Frieden.

Was ist denn typisch deutsch? Thüringer Klöße, ruft Elli zur Erheiterung der Anwesenden. Dann kommt Goethe. Und Bach. Weihnachten. Weihnachten ist ernst. »Aber es ist doch meine persönliche Freiheit, welche Tradition ich pflege und weitergebe! Darf ich nur Bach und Beethoven hören? Ich höre gern die Donkosaken, da können sich mir manchmal die Nackenhaare aufstellen«, bekennt Dietmar. Die Russen und Ukrainer wundern sich, dass die Deutschen keine Trachten kennen außer der Seppelhose. Der Däne Lars amüsiert sich über die Hemmungen von Deutschen, sich als solche zu bekennen.

»Wir schaffen es ja gar nicht mehr, unsere Kultur zu pflegen, wir haben überhaupt keine Zeit. Und dazu noch die vielen Ausländer - «, ruft Angela dazwischen. »Wieso kommen eigentlich alle Ausländer nach Deutschland? Haben wir nicht schon genug? Nirgends gibt es so viele wie bei uns«, behauptet Solvejg.

»Nicht alle kommen hierher«, berichtigt Alexander, und jährlich seien es auch 100.000 Deutsche, die auswandern. Überall würden Menschen den richtigen Platz für sich suchen. Angela tut wohl ihr heftiger, nicht zu Ende gesprochener Satz leid und sie gibt zu bedenken: »Wie kann man überhaupt eine andere Kultur kennen lernen? Früher gab es die Deutsch-Sowjetische Freundschaft, da lernte man Russen kennen, aber jetzt, ich kann ja nicht einfach hingehen zu den Ausländern, die bei uns wohnen und sie fragen, wie sie leben.«

Beiläufige Gesten

Die Konfusion ist perfekt. Wenn Russen in Polizeiuniform in Anklam oder Pasewalk einen Dieb oder einen betrunkenen Schläger dingfest machen, hören sie oft: »Was, ich soll mich von einem Polen verhaften lassen?« Polen sind hier die Nachbarn, die ersten, über die sich alle nur möglichen Vorurteile ergießen. Türken treten bislang kaum in Erscheinung. Russen scheinen den Leuten in dieser Gegend vertrauter, als angesichts der abgeschotteten Kasernen von damals anzunehmen war. Das klingt in den erzählten Episoden an und ist eine Überraschung für die Hamburger Kollegen.

Eine große Hilflosigkeit wird sichtbar. Am meisten fehlt in der deutschen Kultur die Kunst des Umgangs mit Fremden. Man findet nicht das erste Wort. Man beobachtet die fremde Person aus den Augenwinkeln. Es mangelt an geeigneten Gesten, die den Kontakt herstellen: die beiläufige Selbstverständlichkeit, mit der dem unbekannten Nachbarn eine Zigarette gereicht wird, ein Keks, die Hälfte der Zeitung. Auch die Geste des Nehmens ist nicht so vertraut, immer noch lernen viele Kinder, höflich nein zu sagen: Nimm nichts von Fremden an. Die Rituale der Gastfreundschaft stehen nicht zu Verfügung, die es selbst den Schüchternen erlauben, die Tür für die unbekannten Menschen der Umgebung zu öffnen. Deutsche müssen sich selbst erfinden als Wesen, die offen und kommunikativ mit Fremden umgehen.

Parallelwelten

Boubakari ist überzeugt, dass eine fremde Kultur erlernbar ist. Die Sitten, die Umgangsformen, die Wertvorstellungen, die ein Kind aufwachsend in seiner Umgebung mitbekommt, kann sich auch ein Erwachsener aneignen, der später von anderswo hinzukommt. Und er empfiehlt, das zu tun. Es lebe sich einfach besser. Die erste Brücke dahin ist die Sprache. Aber da der Mensch träge ist, wie er erklärt, nehmen nicht alle diese Anstrengung auf sich. Und auch das mache nichts, man könne, ohne andere damit zu verletzen, in seiner Welt bleiben. In seiner Parallelwelt.

Immer schon gab es die Parallelwelten in der Geschichte, und sie bereicherten die jeweiligen Gesellschaften. Die Deutschen, die weit nach Osten zogen, bildeten in Rumänien, Jugoslawien, Russland, Polen ihre Inseln. Hat nicht die deutsche Politik oft den hohen Wert betont, der in der Bewahrung der deutschen Sprache in tausenden Kilometer Entfernung lag? Ist nicht beklagt worden, dass sich diese Kulturen nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch halten konnten? Die Polizisten, die als Russen gelten, kamen als deutsche Spätaussiedler. Ihre Eltern sprachen noch Deutsch in der Familie. In der letzten Generation verlor sich diese Kenntnis. Sind nicht Schuldvorwürfe ausgeteilt worden an die Regimes, die diese deutschen Inseln nicht mehr tolerierten und durch ständigen Druck zerstörten? Wenn in moralischen Fragen mit verschiedenen Maßen gemessen wird, entsteht Zynismus. Auch Aggression.

Die sanfte Familie

Boubakari hat zu der Tagung seine Frau Yvonne mitgebracht, die von der Insel Usedom kommt, und ihre gemeinsame einjährige Tochter Lela. Hin und wieder lacht Lela leise. Sie streckt unvermutet einen Arm zu jemandem aus und schiebt sich hinüber auf den fremden Schoß. Die Eltern lassen das leicht geschehen, ohne besorgte Blicke. Auf Fragen erzählen sie unaufgeregt von den offenen und verborgenen Widerständen, die sie als Paar zu überwinden hatten und haben. Von Tag zu Tag wird es klarer, sie sind die neuen Menschen ohne Vorurteile und die daraus folgenden Ängste. Sie haben sich eine Freiheit erworben, indem sie sich verändert haben. Das strahlt von ihnen aus, ohne Absicht, einfach durch ihre Anwesenheit. Keine Beschwörung von multikulturellen Werten hätte das vermocht. Das Beispiel ist nötig. Nichts ist überzeugender.

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