Der schwedische Konzern und das sorbische Dorf

Vattenfall oder Widerstand in den Zeiten des Neoliberalismus Horno war ein Testfall, ob sich das Abbaggern eines ganzen Ortes nach 1989 noch politisch durchsetzen ließ

Es gab ein Jahr, da klang der Name Vattenfall wie ein Versprechen. Das Wort ist schwedisch und heißt Wasserfall. Als sich das Unternehmen im Jahr 2000 in die Braunkohle und Energiewirtschaft der Nieder- und Oberlausitz einkaufte, glaubte man in dem kleinen, aber berühmten sorbischen (wendischen) Dorf Horno an eine letzte Chance im Überlebenskampf. Schweden eilte der Ruf voraus, dort seien Ökologie und Minderheitenschutz keine leeren Wörter. Doch vier Jahre später wurde Horno - nach 15 Jahren seines Kampfes um die Existenz - abgebaggert.

Vattenfall ist heute mächtig in der Region - es macht die Preise, investiert, vergibt Stipendien, unterstützt Vereine, bezahlt Fachleute bei Expertisen über Wasserfragen oder Umweltprobleme, sogar wenn sie sich als Vattenfall-Gegner exponiert haben. Vor allem ist der Konzern Herr über die meisten Arbeitsplätze. Seit Januar bekommen Berliner und Hamburger von Vattenfall ihre Stromrechnungen, falls sie nicht auf andere Energielieferanten umgestiegen sind. Denn Bewag und HEW sind nun auch Vattenfall, das wird den Verbrauchern in einer fulminanten Werbekampagne nahe gebracht. Das Grün-Blau der Firma flimmert über Briefköpfen, Werbeflächen und betriebseigenen Bauten. Aber es gibt schon die erste unangenehme Nachricht: Für Mai ist eine Preiserhöhung angekündigt.

Als Vattenfall 2000 am Horizont auftauchte, war es für Horno überhaupt ein gutes Jahr: gewonnene Prozesse, die Hauptgegner LAUBAG und VEAG schwach, weil es Überkapazitäten an Strom gab. Ein Ende des rücksichtslosen Abbaggerns schien in Sicht. Da ging dieser Existenzkampf schon ins elfte Jahr. In Schweden machte die Kunde vom wendischen Dorf Horno viele hellhörig, eine Welle von Sympathie erhob sich. Noch dazu bekam ein Titel einen neuen Sinn, den ihr König bis zum Jahr 1976 getragen hatte: "König der Schweden, Goten und Wenden". Eindeutig eine Verantwortung. Das Parlament lud Vertreter aus Horno zu einer Anhörung ein. Die Zeichen standen auf Erfolg.

Ein eiskalter, aalglatter Machtpolitiker

Ein Jahr später war diese Hoffnung geplatzt. Das schwedische Parlament hielt sich ans Prinzip, nach dem das Unternehmen, obwohl zu 100 Prozent in Staatshand, nach eigenem Ermessen wirtschaften durfte. Zwar wurde diese Politik drei Jahre später modifiziert, weil der eigenmächtige Großkonzern bei vielen Bürgern des Landes zunehmend Argwohn weckte, doch für Horno kam das zu spät.

Die Konstellationen im Kampf um das Dorf waren geradezu phantastisch, sie wechselten heftig und erfassten ganz Brandenburg, denn es ging um Arbeitsplätze. Die Stimmungen schwankten zwischen Panik, Hass, Heuchelei, Scham. Inmitten dieser Auseinandersetzung blieb das alte, aber vitale Dorf selbst stur, 320 Seelen in fast 100 Höfen, ein Runddorf auf einem Berg unter hohen Bäumen, im Süden von einem Eichenwald begrenzt. Es stand unter Denkmalschutz. Es war wirklich schön, alle sahen es. Vielleicht ist die Schönheit den Bewohnern sogar erst in diesem Existenzkampf bewusst geworden? Als ein Wert, den sie nicht nur für sich selbst verteidigten?

1992 tauchte eines Tages in Horno ein Engländer auf. Durch seltsame Zufälle war er in das nah gelegene Guben an der Neiße geraten, hatte vor, dort eine fiktive Familiengeschichte, einen Roman mit deutschem Stoff, für seine Landsleute zu schreiben. Michael Gromm sah hier zum erstem Mal einen Tagebau und war von der 50 Meter tief reichenden Mondlandschaft schockiert: Wie sollte sich eine Landschaft davon je erholen? Aus Neugier fuhr er nach Horno, über das die Zeitungen schrieben, lief durchs das Dorf mit den selbstgemalten Plakaten und empfand den Gedanken an die Abbaggerung als Grausamkeit: Wie kann man das den Menschen antun?

Als im Januar 1993 Ministerpräsident Manfred Stolpe Horno besucht, ist Gromm dort schon ein häufiger Gast, und er geht mit zur Versammlung in die Gaststätte des Ortes.

Stolpe hat zwei Jahre zuvor versprochen, seine Stimme nicht gegen den Willen der Hornoer abzugeben, sie empfingen ihn als ihren Landesvater. Doch diesmal spricht er mehr über die Kohle als "Standbein und industriellen Kern" und über die mögliche Umsiedlung des Dorfs. Im Saal entsteht Unruhe, es gibt Zwischenrufe.

Gromm sieht, wie die Leute entmutigt und unsicher wirken, und meldet sich zu Wort. Zum ersten Mal zeigt er hier, dass er keine Hemmungen gegenüber Autoritäten kennt: "Diesem Ministerpräsidenten wollte ich seit langem in die Augen schauen. Heute Abend habe ich es endlich getan, und ich bin schockiert von dem, was ich gesehen habe. Er ist ein eiskalter, aalglatter Machtpolitiker. Vertrauen Sie ihm nicht! Vertrauen Sie den Politikern nicht. Sie werden alle versagen. Verlassen Sie sich nur auf sich selbst. Wenn Sie entschlossen bleiben, gibt es keine Macht in Deutschland, die ein ganzes Dorf enteignen und zwangsweise umsiedeln könnte." Er schließt: "Wenn Sie es wollen, werde ich Ihnen dabei helfen." Ob der englische Akzent dazu beigeträgt, dass diese Rede akzeptiert wird? Der große Mann mit langem Haar, als Fremder so völlig unabhängig, wirkt auf die Hornoer ermutigend. Sie merken: Der spricht aus, was er sieht, verrenkt sich nicht, entschuldigt sich nicht - und sie nehmen ihn an.

Für die Lohntüte in der Wüste leben?

Gromm wird Ehrenbürger Hornos, erwirbt ein dreieckiges Wiesenstück, eine Kreuzung im Ort mit drei Ahornbäumen, entdeckt seinen sorbischen Vorfahren, den Müller Gromm im ehemals sorbischen Dorf Niemaschkleba in Polen, meldet mit Erfolg seinen Anspruch auf Heimat vor Gericht an und wird Sprecher der "Horno-Allianz", die aus Gruppen besteht, die Horno unterstützen.

Mit wem alles hat Gromm sich angelegt, gemeinsam mit dem manchmal zaudernden Dorf! Mit der Landesregierung, den Parteien, Gerichten, Gewerkschaften, der Rheinischen RWE, der brandenburgischen Energiewirtschaft, zuletzt Vattenfall. Er ist respektlos, aber zugleich versöhnlich. Hierarchien übergeht er. Seine Gegner verblüfft er mit Offenheit. Wenn er von seinen Auseinandersetzungen erzählt, scheinen sie eine sportliche Note zu haben, bei der Fairness unabdingbar ist. Die Hartnäckigkeit ist bei ihm ohne Bitterkeit.

Dass der Text seiner ersten Rede vorliegt, ist dem Buch zu danken, das Gromm jetzt fertiggestellt hat, Horno. Verkohlte Insel des Widerstands*. Darin hat er auf 465 Seiten den 15jährigen Kampf um das Dorf dokumentiert, auch alle Argumente der Gegenseite. Es ist eine einzigartige, komplexe Darstellung des Kampfs zwischen "den kleinen Leuten" und den "großen Wirtschaftsmächten" mit allen juristischen, politischen und medialen Finessen, die zur Verfügung stehen. Das Buch ist voller Biografien der Menschen, die in diese Auseinandersetzung verwickelt waren. Das Buch ist mit Witz geschrieben, den Gromm offenbar auch im Streit nie eingebüßt hat.

Er behandelt auch die wirtschaftlichen Gründe, die hinter allem standen. 1992 lautete die angebliche Alternative: Horno oder 60.000 Arbeitsplätze. 1989 gab es noch 110.000 Beschäftigte in der Braunkohle und in den Kraftwerken. Diese Zahlen verringerten sich durch Rationalisierungen kontinuierlich, noch lange, bevor der Tagebau in Horno ankam. Jetzt sind es noch rund 6.000 Arbeitsplätze.

Aber der Fetisch behielt Wirkung: Als am 1. September 2000 der Riesenbagger anderthalb Kilometer vor Horno per Gerichtsbeschluss abgestellt werden musste, bauten die Bergarbeiter eine Mahnwache vor dem Dorf auf. Es kamen Gewerkschafter, die Puhdys und zuletzt Bundeskanzler Schröder zur Solidaritätsbekundung für die Kumpel. Dass diese Arbeitsplätze ein absehbares Ende haben würden, eine überschaubare Frist nur, wurde ausgeblendet.

Gromm empört sich, dass "über die Arbeiter geredet werde, als bräuchten sie keine Umwelt, als hätten sie kein Interesse an ihrer Geschichte, als gäbe es für sie nur die Lohntüte, als wären sie bereit, dafür in der Wüste zu leben". An der Stadt Senftenberg könne jeder sehen, dass einem Ort nur Ödnis und Abwanderung blieben, wenn die Braunkohle vorübergezogen sei. Die neuen Landschaften der Zukunft bleiben ein leeres Versprechen.

Im Augenblick entledigt sich Vattenfall gerade der Kleinaktionäre. Am 1. März gibt es eine außerordentliche Hauptversammlung im Berliner Hotel Estrel mit einem einzigen Tagesordnungspunkt: "Beschlussfassung über die Übertragung der Aktien der Minderheitsaktionäre der Vattenfall Europe AG auf Vattenfall Aktiebolag (Hauptaktionärin) gegen Gewährung einer angemessenen Barabfindung". Das Unternehmen muss sein Vorhaben nicht begründen. "Das Verlangen eines Aktionärs, dem Aktien der Gesellschaft in Höhe von mindestens 95 Prozent des Grundkapitals gehören", reicht nach geltendem Recht. Es werden einige Hundert Aktionäre erwartet, aber die meisten haben schon resigniert. In einem der Gegenanträge heißt es: "Nun sollen wir nach 40-jähriger Mitgliedschaft ausgebootet werden?" Ein anderer Aktionär schreibt: "Ein Stück öffentlicher Kontrolle durch die Aktionäre geht verloren, weil auch die Veröffentlichungspflichten des Geschäftsberichts verloren gehen."

Gotthard Schulte-Tigges aus Berlin wirft dem Konzern vor, er würde "mit einer deutschen Tradition brechen, dass Mitarbeiter an ihrem Unternehmen beteiligt und damit auch motiviert sind, die Erträge des Unternehmens zu verbessern." So hatten Bewag-Aktionäre zur Hauptversammlung 1996 zahlreiche kritische Anträge wegen der Vernachlässigung von erneuerbaren Energien gestellt. Daraufhin wurde eine Satzungsänderung "im Zweck der Gesellschaft über die Entwicklung von dezentralen rationellen und regenerativen Energieerzeugungssystemen und deren Markteinführung" beschlossen. Den Passus hat Vattenfall bei der Übernahme gestrichen. Nun wolle Vattenfall offenbar die kritischen Stimmen in Deutschland loswerden, werfen die Kleinaktionäre dem Konzern vor.

Die Grünen, die Grüne Liga, auch die Verteidiger der Fischteiche von Lakoma melden sich auf der Vattenfall-Hauptversammlung zu Wort, um die Aktionäre aufzufordern, die Entschädigungszahlung in Aktien zu investieren, die ausschließlich mit erneuerbaren Energien zu tun haben. Auch als Verbraucher sollten sie sich von dem klimabelastenden Stromversorger Vattenfall Europe AG abwenden und zu einem ökologisch produzierenden Stromlieferanten wechseln, um einen positiven Betrag für die Zukunft zu leisten. Das Umsteigen sei nicht schwer, verkünden sie - wer Auskünfte sucht, könne sie unter www.stromauskunft.de finden.

Die Seele zieht nicht mehr um

Die Hornoer hatten lange gemeinsam ausgehalten. Als sich der Bagger dem Dorf unaufhaltsam näherte, ließen sich 60 Familien zusammen umsiedeln - in die neu gebaute Dorfanlage Horno/Rogow, einen Stadtteil von Forst. Manche Leute neiden ihnen kleinlich das perfekte Dorf mit Teich und Kirche, in das aber die Seele des alten Orts gar nicht mitgezogen ist.

Die nächste Hürde für Vattenfall beim Braunkohleschürfen bis an die Neiße sind die bereits erwähnten Fischteiche von Lakoma, ein unwiederbringliches Naturschutzgebiet mit vielen bedrohten Tierarten. Es liegt bei Cottbus. Wieder ist Vattenfall zum Abbaggern entschlossen. Kohle für zwei Jahre läge dort, es würde dafür eine Landschaft zerstört, die in Jahrhunderten ihren Reiz entwickelt hat. Unter Horno lag übrigens fast gar keine Kohle, es gab nur Steine und Lehm - heute fast ähnlich wertvoll wie Kohle -, die verkauft Vattenfall zum Auffüllen alter Tagebaulöcher an die öffentliche Hand.

(*) Michael Gromm, Horno. Verkohlte Insel des Widerstands, Edition Dreieck Horno,
85 Fotos, 43,50 Euro


Der Staatskonzern Vattenfall

Das Unternehmen "zählt zu den fünf größten Energieunternehmen in Europa und ist der wichtigste Wärmeerzeuger Nordeuropas", so die eigene Beschreibung. Es ist aktiv in Schweden, Finnland, Polen und Deutschland. Als 2000 die Hamburger Elektrizitätswerke HEW die Brandenburger Energiewirtschaft übernahmen, war das der Einstieg von Vattenfall in die Region, als Hauptaktionär von HEW. Bald darauf kaufte der Konzern die Berliner Bewag und übernahm die HEW vollständig. In Schweden ist Vattenfall verpflichtet, seine Gewinne in den ökologischen Umbau zu investieren - in Deutschland erwirtschaftet das Unternehmen inzwischen mehr als ein Drittel seiner Gewinne mit einer umweltzerstörenden, "schmutzigen" Energieproduktion.


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