Die Attitüde der Ratlosigkeit hat sich erschöpft

KOSOVO-KRIEG Wann wissen wir genug, um einen Standpunkt vertreten zu dürfen?

Es war Zufall, dass ich das letzte Drittel der Sendung sah. Gerade erklärte Jamie Shea, NATO-Sprecher während der zweieinhalb Monte des Krieges, dass in den Bevölkerungen, auch in Deutschland, die Zustimmung zum Krieg stark gesunken war, nachdem die NATO ein Flüchtlingskonvoi bombardiert hatte. "Wir mussten sechs Wochen hart arbeiten, um die öffentliche Meinung zurückzugewinnen." Er sprach behäbig, war kaum mehr als jener schnellzüngige Interpretator der Ereignisse wiederzuerkennen, der vor zwei Jahren in Brüssel die täglichen Pressekonferenzen beherrscht hatte. Jetzt war es für ihn sichtlich eine alte Geschichte, sein Job war längst getan. Nach ihm brummte Scharping seine unbedarften Erklärungen und Ausreden zu Fragen nach dem damals behaupteten KZ im Stadion Prishtina, nach den aufgedrehten Gashähnen und Kerzen auf den Dachböden in albanischen Häusern, nach dem serbischen Hufeisenplan. Zum Schluss erklärte General a.D. Loquai, man habe ihm im Verteidigungsministerium ausdrücklich bestätigt, dass es diesen Hufeisenplan nicht gegeben habe.

Was war das? Die Hauptmatadoren des NATO-Engagements werden im Ersten Programm vorgeführt! Plötzlich müssen sie sich scharfen Fragen stellen! Die Freude, die darüber aufkommen könnte, wäre keine "klammheimliche", wie Norbert Mappes-Niediek hier vor zwei Wochen schrieb. Sie wäre von keinen Bedenken getrübt, nur von der Resignation: die nachträgliche Aufdeckung wird voraussichtlich nichts und niemanden mehr bewegen. Der Krieg ist geführt, die Tatsachen sind geschaffen, die Vorwände für den Krieg sind nicht mehr relevant. In diesem Zusammenhang fällt mir immer wieder die berühmte Geschichte im Golf von Tonking ein: Mit einem Anschlag auf ein US-Marineschiff hatte, so schien es, Nordvietnam 1964 die Weltmacht provoziert und wurde von da an in legitimer Abwehr und als Bestrafung mit Bomben belegt. Bald wurde bekannt, dass die Öffentlichkeit mit einer Inszenierung getäuscht worden war. Die Entrüstung darüber reichte allerdings nicht aus, um eine Einstellung der Bombardements zu erzwingen. Ganze Landschaften Nordvietnams waren am Ende bis zu den Horizonten aufgewühlt von Bombentrichtern.

Die eigene Bevölkerung soll jeweils den Krieg wünschen, wenn entschieden wurde, ihn zu führen. Die "Stimmung" ist im Kalkül der Kriegführung eine bestimmte Größe, vor allem in der Phase der Vorbereitung. Die Geschichte ist voller konstruierter Vorwände, meist wird "zurückgeschossen".

Doch an jenem Abend hatten wir uns getäuscht: der WDR-Beitrag weckte Erregung. Im Bundestag wurde höchst gereizt gestritten. In der FAZ erschien eine Reihe von Artikeln, fast kampagnenartig, zum Schluss eine wütende Seite von Matthias Rüb gegen den "Bulldozer-Journalismus" der Sendung und auch gegen den WDR. Der Experte pocht auf seinen Deutungsanspruch mit tausend Details. Wer nicht "über verbrannte Dörfer und Felder gefahren" sei, wer nicht "den Verwesungsgeruch von verendetem Vieh gerochen" habe, sollte lieber nicht mitreden.

Wann darf man mitreden? (Das Glück, gefragt zu werden, ist allerdings selten.) Was alles brauchte man vor zwei Jahren und was heute an Informationen, um den NATO-Einsatz im Himmel über dem Kosovo, Serbien und Montenegro abzulehnen?

Dass die NATO ein Instrument des Kalten Krieges war, das in Legitimationsnöte geriet, als der Warschauer Pakt dahinschwand, lag auf der Hand. Dass sie ihr 50-Jahre-Jubiläum im April 1999 mit einer Erneuerung ihrer Rolle als Interventionsbündnis begehen wollte, wurde oft genug berichtet. Um einen Zusammenhang mit der plötzlich unermesslich gesteigerten Erregung über die Zustände im Kosovo wahrzunehmen, musste man kein Experte sein. Das Eigeninteresse der NATO-Staaten am militärischen Eingreifen war zu erkennen, und schon von daher war Skepsis angebracht. Dass dieser Krieg völkerrechtswidrig war und ohne Konzept für den Frieden begonnen wurde, war unübersehbar. Und dass ein Militär keine mehrdimensionalen Konflikte lösen kann, gehört, denke ich, zu einem alten Wissensbestand. Man musste aber dem eigenen Wissen vertrauen und auch einen gewissen Mut aufbringen, es zu benutzen, denn scheinbar verletzte man das große Gefühl der Anteilnahme mit den Kosovo-Albanern. Das war das Schwierigste.

Skepsis gab es schon 1999 den Meinungsumfragen zufolge mehr, als sich in den Medien oder im Bundestag spiegelte. Mir schien, und darin wurde ich ständig bestätigt, dass allen klar war, wie mit unseren Emotionen des Erschreckens und der Wut gespielt wurde. Obwohl die Methode durchschaubar war, erlag man ihr doch (auch gern). Ein verborgener Konsens lenkte in Wirklichkeit die Zustimmung zum NATO-Einsatz: Deutschland sollte dabei sein. Nicht am Katzentisch sitzen. Nicht Hilfskuli sein, sondern "wenn schon, denn schon". Wir machen richtig mit. Und darum sind wir auch dankbar für die Lieferung von Gründen, für die Rechtfertigung, die uns über die Bildschirme zufließt, damit wir gar nicht mehr weiter grübeln müssen.

Für die Kosovo-Albaner ist es nach den zehn Jahren der Willkür eine Erlösung, dass sie die Provinz, die sie mehrheitlich bewohnen, nun irgendwann auch verwalten, regieren, gestalten werden. Diese Aussicht besteht, auch wenn die Vorzeichen selbst für sie, die im Moment die Gewinner zu sein scheinen, niederschmetternd sind. Es gibt inzwischen eine lange Liste der Absurditäten. An ihrem Anfang steht, dass die NATO-Staaten die UÇK unterstützten, obwohl sie den Separatismus fürchten, der an ungewünschten Punkten des Globus' ihre Ordnung destabilisieren könnte. Dem Separatismus wollen sie eigentlich keine gelungenen Präzedenzfälle liefern. Dieser Widerspruch drückt sich auch in den völkerrechtlichten Verrenkungen um den Status des Kosovo aus, die den militanten Kräften unter den Albanern Auftrieb geben. Immer wieder riefen und rufen die großen Mächte Geister, die sie nicht im Griff haben, auch die Taliban zählt schließlich dazu.

Die Manipulierbarkeit der Menschen ist die Haupterfahrung der vergangenen Jahre. Es lässt sich offenbar jede beliebige Stimmung herstellen. - Vielleicht aber nicht immer aufs Neue? Ich hoffe es, ich will das Vertrauen in die Lernfähigkeit von Teilen der Gesellschaft nicht leichtfertig aufgeben. Und wenn die WDR-Sendung und die ihr voran gegangenen Untersuchungen in Büchern auch keine großen politischen Folgen haben, werden sie die Kritikfähigkeit vieler Leute stärken. Diese Kriege waren mit dem alten Begriffsinstrumentarium nicht mehr zu beschreiben: Sie waren und sind nach dem Verschwinden des Sozialismus neuartige Erscheinungen. Waffentechnisch begrenzt, sind sie aber in einem globalen Waffenhandel vernetzt, werden von verschiedenen Mentor-Staaten offen oder im Verborgenen unterstützt. Die Interessenlagen sind undurchsichtig. Diese Kriege bringen neue Eliten hervor, die auf mafiotische Weise verbunden sind. Sie sind von nationalistischen und religiös auftretenden Ideologien durchtränkt, deren Heftigkeit am Ende des 20. Jahrhunderts nicht erwartet worden war. Beobachtet von Tausenden Kameras, betreut von internationalen Hilfsorganisationen, begleitet von Konferenzen, die sogar in belagerten Städten stattfinden, und über das Fernsehen wird die halbe Welt zu Voyeuren der Gemetzel gemacht. Angesichts dieser Unübersichtlichkeit ging dann die Widerspruchsfähigkeit fast verloren. Und die NATO sollte endlich dem quälenden Schauspiel ein Ende bereiten.

Ich muss mich in diesem Streit nicht fürchten vor dem "Vorwurf", nicht am Ort gewesen zu sein. Ich war dort. Das hat mich vor einem einfachen Freund-Feind-Denken bewahrt. Ich habe vieles über Menschen erfahren, was sie sich antun können, über die Tapferkeit der Frauen, über Sehnsucht, Loyalität, Bindung an eine Gruppe, über die Trauer der Weggehenden, über die schreckliche Vergeudung von Leben und Kreativität durch den Krieg. Ich habe erfahren, dass entgegen aller Ideologie soziale Bindungen wie auch soziale Klüfte tiefer sind als ethnische. Und dass der Mensch sich doch noch als denkendes Wesen behauptet, indem eine politisch-ethische Grundentscheidung oft seine Beziehungen zu Menschen mehr prägen als nationalistische Propaganda. Diese Erfahrungen helfen mir, die Dinge zu verstehen, und wer möchte nicht verstehen? Aber letztlich brauchte ich sie nicht, um gegen eine militärische Intervention der NATO zu sein. Auch die Widerlegung des Tonking-Zwischenfalls brauchte ich nicht, um zu wissen, dass eine Bormbardierung Nordvietnams unvertretbar war.

Eine Berliner Gymnasialklasse lud mich vor einem Jahr ein, um über die Kriege auf dem Balkan zu sprechen. Mir schien, sie schauten mich verzweifelt an, als dächten sie: Müssen wir das wissen? Da sagte ich am Anfang, es sei nicht nötig, dass sie alle Experten für den Balkan werden. Aber ganz ohne Erkenntnis zu bleiben, wäre doch erbärmlich, vor allem, nachdem sich unser Land durch die Kriege verändert habe. Die nun folgenden anderthalb Stunden diskutierten sie tatsächlich heiß über die Wirkungen der Kriege aufs eigene Land und somit über ihr eigenes Politikverständnis: Wie der nationalistische Diskurs Einzug gehalten hat und salonfähig geworden ist (wenn die im Balkan das dürfen, dürfen auch wir uns zumindest ein wenig auf unser Deutschsein besinnen...); wie die angeblich sauberen militärischen Lösungen im Zuge der Technikgläubigkeit akzeptiert werden, wie die Öffentlichkeit sukzessive daran gewöhnt wird, ihre Kompetenz abzugeben. Der letzte Grund dafür wird wohl sein, dass es sich die Bundesrepublik Deutschland versagt hat, eine eigene, alternative, antimilitaristische Außenpolitik zu betreiben. Wir wollten mit im großen Boot sein. Nun wird sich die politische Opposition gegen diese ganze Richtung erst wieder langsam herausbilden müssen.

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