Der Bus aus Bosnien gleitet über gewundene Stadtautobahnen und breite Brücken ins Zentrum. Es wechseln Hochhaussiedlungen mit Hüttendörfern von Roma, bis der dickflüssige Verkehr die Fahrt anhält. Ein Tosen, Schritttempo zwischen Menschen und Autos in Strömen, die stocken und sich weiter wälzen. Nach einem abenteuerlichen Abbiegen drängt sich der Bus quälend langsam in seinen Bahnhof.
Benommen stolpern die Fahrgäste hinaus, werden fast aufgefangen von wartenden Verwandten und Taxifahrern. Schon hat mich einer okkupiert, steht stur neben mir, bis der Fahrer den Koffer hervorholt. Halt, ich brauche einen Moment Luft, sage ich. Die will er mir großmütig gewähren, wartet mit unterdrückter Ungeduld. Er ist jung, zu schlau und aufdringlich, ich sage plötzlich: Ich fahre nicht mit Ihnen. Warum denn nicht? fragt er. Ich schaue ihn an und antworte: Weil ich nicht will. Er versteht es: Nicht mit ihm, und er gibt mich frei. Beim Weitergehen lache ich fast: Nur im früheren Jugoslawien - auch in Zagreb und Sarajevo - gibt es für mich diese Momente der eindeutigen Verständigung mit wenigen Worten und Blicken.
Mengen von Taxifahrern warten neben ihren Wagen. Einer wendet sich mir zu, schon will ich einsteigen, da sehe ich, mich umwendend, den jungen Taxifahrer von vorher im Gedränge stehen, seinen Arm hat er hoch erhoben und weist mit dem Daumen auf mich: Die da, greif sie dir, so die Geste. Da drehe ich endgültig ab und beginne die Ankunft in Belgrad zu Fuß.
Der Koffer rattert über die schiefen Steinplatten eines kleinen Parks, dann tauche ich an der Straße wieder ins Menschengewühl ein, schiebe mich an einer Ampel mit der Menge über Straßenbahnschienen und aufgeworfene Bordsteine. Diese schiefen und krummen Pflaster sind ähnlich wie in Sarajevo, ebenso das Schwarz in allen Ritzen, an den Fassaden, die bröckeln, auch wenn sie nicht zerschossen sind bis auf einige monströse stumme Ruinen von Amtsgebäuden aus der Zeit des NATO-Bombardements 1999. Der Krieg hat auch diese Stadt zermürbt.
Später steige ich doch noch in ein Taxi. Ein alter Schlitten steht mit vier offenen Türen halb auf dem Bürgersteig, der Fahrer lehnt am Kühler, in Jägerjacke und Cowboystiefeln. Der Wagen scheint kaputt, doch im Vorbeigehen frage ich unwillkürlich: Taxi? Er nickt, sagt fünf Euro, und dann beginnt mit ihm eine Wahnsinnsfahrt über rote Ampeln, Schienen und Verkehrsinseln hinweg, unter dem Quietschen der Reifen. Er sitzt zwar vorgebeugt am Steuer, das er mit beiden Händen sehr fest hält, aber sonst ist keine Spannung an ihm wahrzunehmen, eher wirkt er melancholisch wie schon beim ersten Blick so bis zum Schluss, als ich meine Euro-Stücke hinzähle und er Papiergeld will, mit dem Silber bekäme er Probleme bei der Bank. In Serbien gilt der Dinar. Bald lerne ich übrigens, dass das Verhandeln mit den Fahrern überflüssig ist, denn die Taxi-Uhren zeigen den günstigsten Preis an. Überhaupt normalisiert sich alles, und die Erregung der Ankunft verfliegt wie ein Irrtum.
Aber eines bleibt: Belgrad wirkt lebendig, motorisch, da ist etwas, wofür mir nur das Wort power einfällt, eine Energie, die ich weder positiv noch negativ deuten könnte. Es mag von der Geräuschkulisse, aber mehr von der Menschendichte kommen, so scheint es. Vielleicht liegt es auch am Auf-und-Ab der Straßen, die in andersartige münden, in krumme Gassen oder in Boulevards mit schweren alten Stuckgebäuden, in parkähnliche Ecken oder turbulente Bauernmärkte. Manchmal steigt man Stufen hoch, irgendwo fern blitzen Donau und Save auf, und wieder taucht man in eine düstere Unterführung, in der Wasser von der Decke tropft und zwischen den Pfützen vermummte Leute ohne Lächeln etwas zum Verkauf anbieten.
An den Straßenrändern Kioske mit Zeitungen und Drogeriewaren. Dazwischen Bushaltestellen, an denen Mengen von Leuten warten, obwohl ständig Busse sie abholen, aber es fluten und drängen immer neue Leute heran. Oft regeln Polizisten den sich verkeilenden Auto- und Menschenverkehr mit hysterischem Pfeifen.
Es gibt Städte, deren Häuser haben Wurzeln und halten sich tief im Grund verankert. Andere sind so, als hätten Riesen die Häuser hingestellt, wie im Spiel. Sie könnten auch woanders stehen. Und es gibt Städte, die sind wie Höhlensysteme, über Jahrhunderte in die Felsen gehauen. Was gemauert wurde, ist durch Verwitterung und Druck dem Gestein ähnlich geworden. Immer wieder hat jemand eine Höhle in die Erde, die Felsen am Flussufer, durch mehrere Gebäude hindurch getrieben, unsystematisch, undurchschaubar, kaum je zu vernichten. So wirkt Belgrad.
"Ach, es ist einfach eine große Stadt", sagt Mira Erceg. Solch einen dynamischen Eindruck mache jede große Stadt, meint sie. Nach Zagreb und Sarajevo, die kleiner und provinzieller seien, würde mich die Großstadtatmosphäre anfallen. Mehr sei nicht dahinter. Als Stadt habe Belgrad ungeheuer verloren. Es sei ein geistiges Zentrum gewesen, jetzt nicht mehr.
Mira Erceg lebt in Berlin und Belgrad, ihrer Stadt, und inszeniert hier, am Nationaltheater, Goethes Faust I und II. Ein riesiges, verzehrendes Unterfangen, die erste Faust-Aufführung in der jugoslawischen Geschichte seit 1918. Dieses Experiment wird von den Belgrader Kollegen mit Neugier und Widerständen begleitet. Der Ausgang ist offen.
Auf dem Platz vor dem Nationaltheater, das wir nach einer Probe verlassen, lagern sieben große schöne Hunde. "Das sind nur die übrig Gebliebenen", sagt Mira, "von Dutzenden, die hier auf dem Platz lebten." Belgrad war von Hunden bevölkert, oft teure Rassetiere, die von den Leuten ausgesetzt worden waren, als die sie nicht mehr halten konnten, erzählt sie. Sie seien klug, würden sich wie Menschen verhalten, an der Ampel warten, Paare bilden, nie bellen und beißen. Brigitte Bardot habe ein Hundeheim außerhalb von Belgrad gegründet, zumindest es gewollt.
"Jetzt gibt es auf jeden Fall weniger Hunde", fährt Mira fort. "Ich mochte sie. Einmal aber, draußen am Stadtrand, bei meinen Eltern, hat mich ein Hunderudel zähnefletschend und knurrend verfolgt. Da verstand ich, dass sie gefährlich werden können. Im Zentrum der Stadt verwandelten sich die Hunde in Menschen. Draußen am Rand wurden sie zu Wölfen", lacht Mira über ihre Entdeckung beim Erzählen.
Auf einem Verkaufsstand, der nationalistische serbische Devotionalien wie Fahnen, Wimpel, Mützen, Kreuze anbietet, liegt ein Stapel von Mladic-Fotos, Porträts des bosnisch-serbischen Generals, der wegen der Morde in Srebrenica ganz oben auf der Fahndungsliste des Gerichts in Den Haag steht. Es ist Sonntag, durch den Prachtboulevard Kneza Mihajlova ziehen Spaziergänger. Ich frage den Jungen hinter dem Stand, den ich auf höchstens 20 schätze:
Du verkaufst den Mladic?
Warum nicht, entgegnet er herausfordernd und unsicher.
Ein Kriegsverbrecher.
Das sind alles Lügen.
Ich stehe wie angenagelt, kann weder aufhören noch weitergehen. Mit einer solchen Begegnung hatte ich nicht gerechnet. Ich bringe es auch nicht fertig, einen Polizisten zu holen, um Zeugin zu sein, wie der sich verhielte. Mich hindert die Überraschung, aber auch, dass mir der Junge sympathisch ist, nicht militant, nicht stumpf.
Es gibt viele Beweise für seine Verbrechen, setze ich den Dialog fort.
Er ist ein Held. Er hat die Serben verteidigt.
Verteidigt? Die Republika Srpska ist ein klägliches Armenhaus.
Da zuckt er zusammen und fragt: Was hätte er tun können? Um sich gleich wieder zu besinnen: Ach, alles was man Ihnen erzählt hat, sind nur Lügen.
Du weißt auch alles nur vom Erzählen.
Ich war dabei, sagt er nun und schaut stolz-erschrocken.
In Srebrenica? Auch ich bin erschrocken.
Nein, in Banja Luka. Ihm scheint es doch angenehm zu sein, diesen Ort zu nennen, nicht den schlimmsten. Denn da war er entfernt von den Kriegsgegenden. Die Stadt, die sich in "serbischer Hand" befand, war keine Hochburg von Karadzic.
Zwei Japaner bleiben stehen und kaufen eine von den serbischen Mützen, die bei den Nationalisten zeitweilig in Mode kamen, eine Sajkaca. Ich gehe.
In der Boulevard-Zeitung Stimme der Öffentlichkeit mit der Unterzeile "Wir verniedlichen nicht die Wirklichkeit" wird über den Doppelmord an den Brüdern Sljukic berichtet. Nachts starben sie im Kugelhagel auf der Autobahn in ihrem Audi, dessen Nummernschild BG 7 7 . 72 das Geburtsdatum des älteren, Sredoje Sljukic, wiedergab. Das wird mit verborgenem Respekt vermeldet. Viele Zeugen konnten den Anschlag beobachten. Die Polizei aber kommt mit ihren Untersuchungen nicht weiter. Sredoje sei das Haupt eines Clans gewesen, ein 30-jähriger Ganove, der es bis in die A-Klasse der Mafia brachte. Einige Tage später berichten Zeitungen von seiner großartigen Beerdigung, an der nicht nur sein Clan ihm und dem Bruder die letzte Ehre gab, auch Teile der Belgrader Gesellschaft.
Bozidar Jaksic, der aus Sarajevo stammt und Professor der Soziologie an der Universität Belgrad ist, empfindet es als Qual, nach der aktuellen Lage gefragt zu werden. Ähnlich wie in Zagreb und Sarajevo ist es hier fast unmöglich, sachliche Auskünfte über soziale Entwicklungen, Parteien, Folgen von NATO-Bomben zu erhalten. Die Enttäuschung ist zu groß. Auch von Katharsis, von Selbsterkenntnis der Serben, kaum eine Spur. Es gibt nichts zu reden. Doch auf Umwegen erzählt Jaksic Einiges: Über die Ursachen der Kriege habe auch er viele "Dummes" gedacht. Er suchte nach wirklichen Gründen, sei es ein eigener Staat, eine neue Grenze, ethnische Homogenität, Religion. Alles Quatsch.
Krieg sei nichts als Ökonomie, als Umverteilung des Besitzes, als Austausch der Machteliten, die sich bereichern und keineswegs ethnisch oder gar religiös definieren. Wie viele Serben sind vor Karadzic nach Serbien geflohen? Viele, meint Jaksic, niemand zählt sie. In der serbischen Geschichte gäbe es eine bis heute wirkende Tradition, die er früher sympathisch, nun aber für fatal halte: die Romantisierung der Hajduken und Uskoken, der sogenannten edlen Räuber, der vermeintlichen Kämpfer gegen die herrschenden Osmanen, im Grunde aber Banditen, die von Überfällen lebten. Überall in Europa habe es sie gegeben, begonnen bei den Rittern. Raub, Plünderung, Aneignung fremden Gutes sei eine ungeheure Verlockung, ein Reiz, dem kaum jemand widerstehe, der sich daran ungestraft beteiligen dürfe.
Seine Studenten hatte er 1999 in die Hafenstadt Bar in Montenegro geschickt, um junge Menschen nach ihren Lebensumständen zu befragen. Auf der Liste war auch jene übliche Frage nach den Leitfiguren. Von einem Drittel wurde ein nie gehörter Namen genannt. Es stellte sich heraus, dass es sich um den örtlichen Mafiaboss handelte, einen Italiener, dessen besondere Note es war, am Abend in seinem Cabrio den Korso entlang zu fahren, wo quasi der ganze Ort promenierte, und sich ein Mädchen auszusuchen. Am Morgen entließ er es mit 1.000 Mark. Es war eine Ehre, in seinen Wagen einzusteigen. Selbst Eltern waren stolz. "Man kann Menschen viel zu leicht korrumpieren, und mit korrumpierten Menschen kann man alles machen", sagt Jaksic. "Auch die Nachkriegszeit tötet. Erst in zwei Generationen wird die tiefe Krise vergehen."
Bei deutschen Freunden, die seit einigen Monaten in Belgrad sind und vorher in Lateinamerika lebten, erwähne ich das Gespräch mit Mira Erceg über die Stadt. Sie widersprechen: "Nein, Belgrad ist nicht nur groß, es hat wirklich etwas Besonderes!" Es sei schwer zu beschreiben, aber nicht zu leugnen. Vielleicht gefalle ihnen die Stadt, weil sie an Südamerika erinnere, überlegen sie: die Familienbande, das Verschieben von unangenehmen Dingen auf mañana oder sutra, die Neugierde, Freundlichkeit, das Palaver. Die Straßen seien mit ihren auf- und absteigenden Baumtunneln ein wenig wie in Montevideo, auch die Kneipen und Plätzchen an jeder Ecke. Sie seien überrascht vom Mangel an Nostalgie oder sentimentalen flash backs. Verluste würden anscheinend akzeptiert.
Die polizeiliche Anmeldung verschieben meine Gastgeberin Maca und ich auf den letzten Tag. Für die reibungslose Ausreise soll der Stempel oder Zettel wichtig sein, mahnen mich Kundige. Der Zuständige kommt zu uns in den Gang, ein junger uniformierter Mann, der die Augenlider halb über seine grünen Augen sinken lässt. Er fühlt sich offenbar sehr attraktiv, aber bellt ohne Charme: Erst jetzt? Und Macas Papiere hebt er mit spitzen Fingern aus ihrer Mappe, um verächtlich zu entscheiden, sie seien nicht gültig. Denn die Wohnung gehöre jemand anderem, und der habe keine Vollmacht für Besuche erteilt. Dass sie da schon lange wohne und gemeldet sei, interessiere ihn nicht. Ob wir ihn etwa zu einem Gesetzesverstoß verleiten wollten? Spricht´s, dreht sich um und verschwindet.
Draußen auf den Stufen schauen wir uns schweigend an. Ich beschließe einen zweiten Versuch. Hinter einer Glasscheibe sehe ich den Grünäugigen und vier weitere Polizisten um die einzige junge Frau im Raum paradieren. Habe ich es ihrem verständnisvollen Blick, als ich ans Fenster klopfe, zu danken, dass er noch einmal aus der Tür tritt, abwartend schaut und sich meinen Spruch anhört: Was kann ich tun in dieser verfahrenen Situation? Er zuckt die Achseln. Ich appelliere indirekt an seinen Patriotismus: Es ist mein letzter Tag in Belgrad. Und es hat endlich aufgehört zu regnen ... Da streckt er die Hand aus, nimmt Macas Unterlagen und meinen Pass und bringt uns alles nach wenigen Minuten würdevoll zurück. "Da siehst du es", sagt sie, "wie bei Kafka."
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