Wer sich morgens auf den Weg nach Cottbus machte, sah noch am Horizont den Vollmond übergroß und gelb in den Nebel abtauchen. Freitag, der 13. war vorüber, der Zug wohl gefüllt mit Delegierten und Gästen des PDS-Parteitags. Später bewegten sich Leute mit dem ganz anderen Ziel in dieselbe Richtung, zum Fußballspiel der Cottbusser gegen die Bayern. Nachmittags wehte das Tosen aus dem ausverkauften Stadion herüber in die Messehallen, in denen der Parteitag ablief.
»Die PDS leistet sich den Luxus, die Pferde mitten im Strom zu wechseln.« Das stammt aus der »unverlangten Ansprache an den Cottbusser Parteitag« von Gerhard Zwerenz, der auf den offenen Listen der PDS bis 1998 im Bundestag saß. Ein solcher Wechsel muss angstbesetzt sein. Man sieht es Hans Modrow an, dem ersten Redner des Parteitags. Die Sorge ist in seiner gepressten Stimme zu hören: »Nur in enger, kameradschaftlicher, uneigennütziger, konstruktiv-kritischer Arbeit mit der neuen Vorsitzenden haben wir die Chance ...«
Bisky aber spricht zu den Anwesenden wie zu einer Familie, die ihm vertraut und teuer ist, ungeachtet der Ermüdungserscheinungen des Übervaters. »Zehn sehr aufregende Jahre« würden hinter ihnen allen liegen. Immerhin sei es nicht gelungen, die PDS aus dem gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik auszugrenzen. Sie habe sich grundlegend erneuert. Und das alles angesichts des Drucks und der ständigen Prophezeiungen ihres Zerfalls. Sein Schlusssatz scheint die erste, noch winzige Provokation zu sein, der aber an diesen zwei Tagen gar keine weiteren folgen: »Machts doch besser!« Sagt's, dreht sich um, geht.
Die Liste der Diskussionsredner und Rednerinnen, immer im Wechsel männlich - weiblich, wird abgearbeitet, für jeden Beitrag fünf Minuten. Die weibliche Form ist hier ganz in die Sprache eingegangen. »Wir als Sozialistinnen und Sozialisten«, sagt ein Redner. Hinter dem Podium spannen sich zwei riesige Leinwände, auf denen die Redenden in seltsamer Intimität zu beobachten sind. Da ist vieles zu sehen: Verlegenheit, Eitelkeit, Machtbewusstsein. Delegierte aus dem Westen sind oft an ihren Kurzvorträgen über das System erkennbar. Sahra Wagenknecht steht in der Liste als 32. Bis zu 20 oder 21 gelangte man bis zum Abend.
Ist die Kommunistische Plattform etwa ausgetrickst worden? Wo bleibt der erwartete Krach? Wann provozieren die Hamburger, wann treten die angedrohten Rausschmeißer in Aktion? Eröffnen die radikalen Plattformen der Kommunisten und Marxisten nicht endlich das Feuer auf die opportunistischen Tendenzen? Sollte das alles ausbleiben? Spielen alle mit? Diether Dehm zu irritierten Journalisten: »Das ist die Antwort auf Münster, der Pendelschlag.«
Gabi Zimmer hat ihre Bewährungsprobe zu bestehen. Tatsächlich haben die Medien, die mit Blick auf den Abschied von Gysi und Bisky voll Hohn und Häme über die Nachfolgerin berichteten, an diesem Wochenende den Ton gewechselt. Während die Stimmen ausgezählt werden, umringen die Kameraleute und Fotografen im Halbkreis die Kandidatin. Die erste Reihe kniet, dahinter hocken die nächsten, die dritte und vierte Reihe steht. Die Geräte im Anschlag warten sie still an die zehn Minuten auf die Verkündigung. Gabi Zimmer sitzt ausgesetzt da, neben ihr die Plätze leer, sie wendet sich den Delegierten in der Reihe hinter ihr zu, die tapfer mit ihr ausharren. Endlich wird das Ergebnis mitgeteilt: 93,3 Prozent der Stimmen für sie, mehr als sie erwarten durfte. Ende der Erstarrung, Bewegung, Blumen, Umarmungen, Blitzlichter.
Inzwischen ist oft beschrieben worden, wie ihre Souveränität im Verlauf der »Rede der neu gewählten Parteivorsitzenden« zunahm. Gabi Zimmer teilt innerparteiliche Kritik aus und macht zugleich das Angebot der loyalen Zusammenarbeit auf glaubwürdige Art. Als sie das am meisten umstrittene Thema anschneidet, die Zustimmung von Helmut Holter aus Mecklenburg-Vorpommern zur Steuerreform, betont sie: »Was wir an der Steuerreform nicht ändern konnten, haben wir alle nicht ändern können. Wir alle - nicht nur ein Landesverband. Wir alle!«
Die heikle Öffnung der PDS zur »Mitte« hin behandelt sie so, dass sich die Skeptiker wie die Befürworter auf sie berufen können. Und das wirkt nicht unentschieden, sondern als Ausgangspunkt für künftige Debatten. »Wir sind doch nicht ein exklusiver Klub, keine Avantgarde, keine Versammlung von Moralaposteln... Wir sind mitten in der Gesellschaft und nicht etwa an deren Rande.« Das Beispiel der Grünen allerdings nehme sie ernst: wie sie sich von ihrer Identität verabschiedet und damit ihre Funktion in der Gesellschaft verloren hätten. Koalitionen mit der SPD seien nicht Ziel, sondern eine politische Möglichkeit unter anderen.
Bei einer spontan eingeschobenen Pressekonferenz gibt sie knappe, klare Antworten. Das ist wie die dritte Prüfung. In ihrer Rede kam die Passage vor: »Ich liebe Deutschland und hasse zugleich die Dinge, die es arrogant, laut und hässlich erscheinen lassen.« Den Begriff »Volkspartei« verteidigte sie. Und als Motto des Parteitags steht groß die Brecht-Zeile über dem Podium: »... dass ein gutes Deutschland blühe.« Das ist viel Deutschland für einen PDS-Parteitag. Gabi Zimmer antwortet, ihr sei erst kürzlich bewusst geworden, wie unterschiedlich der Begriff Volk in Ost und West verwandt werde. Für sie sei er nicht negativ belegt, während Westlinke eine Gänsehaut bekämen. Das gehöre zu den kulturellen Differenzen.
Dann bohren die Journalisten: Wie es komme, dass die Kommunistische Plattform so kooperativ sei? Ist da etwas passiert? Zimmer erklärt, dahinter würde die Erkenntnis stehen, dass jetzt die Partei nicht aufs Spiel gesetzt werden dürfe. Und damit hat sie den ganzen Parteitag charakterisiert.
Sahra Wagenknecht kommt zwar nicht als Diskussionsrednerin zu Wort, aber sie stellt sich als Kandidatin für den 18-köpfigen Parteivorstand vor, in den sie anschließend auch gewählt wird. Sie verstehe sich nicht als »Gralshüterin der reinen Lehre«, wirft sie in den Saal, sie wolle gesellschaftliche Veränderungen heute, mit politischen Partnern. Aber in der SPD könnte sie bei sozialen Fragen keinen Bündnispartner sehen. Im Gegenteil, die SPD nutze ihren Einfluss auf die Gewerkschaften zur Zeit dafür, die unsoziale Politik durchzusetzen.
Angela Marquardt mit ihren grünen Haaren, ihrem augenbrauenlosen Knabengesicht polemisiert gegen Harmoniesucht: »Wer in dieser rechten Zeit linke Politik macht, muss Lust zum Angriff und zum Widerspruch haben.« Als Ostpartei habe die PDS keine Überlebensberechtigung. »Ostdeutscher Regionalismus wird nicht die klugen, weltoffenen Köpfe anziehen, die wir so dringend benötigen...«
Mit diesem Parteitag habe sich der Reformflügel durchgesetzt, ist die Interpretation der Medien. Festgemacht wird es im Grunde daran, wie die Partei mit Helmut Holter umgeht, dem Landeschef der PDS in Mecklenburg-Vorpommern und dort stellvertretender Ministerpräsident als Koalitionspartner der SPD. Er kandidiert erstmals für den Bundesvorstand der PDS. Seine Wahl gilt vorher nicht als gesichert. Doch bekommt er die zweithöchste Stimmenzahl auf der männlichen Liste. Damit scheint ein Zeichen gesetzt.
Die Kennzeichen eines Reformers scheinen sich auf die Bereitschaft zu beschränken, mit der SPD zusammenzuarbeiten. Zumindest ist das in der Außensicht so. Und es ist ja wohl auch die Gretchenfrage für die PDS-Mitglieder, in der sich eine ganze Reihe von grundsätzlichen Fragen bündelt. Ein Problem der PDS könnte aber daraus erwachsen, dass sie - im Verein mit der Medienöffentlichkeit - alle Kritiker und Gegner des Kurses, der die Partei näher an die SPD führt, zu Hardlinern, Dogmatikern, Traditionalisten erklärt. Modrow wandte vorsichtig ein, die PDS würde sich zu sehr anbieten: nehmt uns. Die FDP hingegen fordere die SPD noch heraus: kämpft um uns.
Man trifft jedoch auch PDS-Mitglieder, oft jüngere, denen der Begriff Reformer ebenfalls zustehen dürfte: Sie gehen von der Realität aus, sie finden sich in dieser Welt und den Kommunikationstechnologien zurecht, durchschauen die sozialen und Macht-Verhältnisse und bringen eine Radikalität auf, die eher eine kräftige politische Opposition befördert als eine taktierende Regierungsbeteiligung. Gerd Walther, Landvermesser und Vorsitzender im Uecker-Randow-Kreis leitet seinen Diskussionsbeitrag so ein: »Eine Todesgefahr für die PDS ist Beliebigkeit.« Welche Wirkungen eine Partei auch in der Opposition erzielen kann, ist kaum ein Thema auf diesem Parteitag.
Noch ein ganz anderes Thema zieht sich durch die Debatten: der Rechtsradikalismus. Für die PDS ist er eine mehrfache Herausforderung. Zu ihrem Selbstverständnis gehört die antifaschistische Tradition und Zielsetzung. Das DDR-Bild ist berührt. Es sind die östlichen Gegenden, in denen sich derzeit die rechte Gewalt am meisten zeigt. Liegen die Ursachen in der DDR-Geschichte? Bisky nennt die damalige Abschottung, die geistige Enge, die Fixierung auf Disziplin und Zentralismus als Anteile der DDR. Den Antifaschismus allerdings verteidigt er als in der DDR »gelebten Wert«. Die suggestive Gleichsetzung von Honecker und Hitler führe dazu, dass der Nationalsozialismus harmlos erscheine.
Dem Parteitag liegen etliche Anträge zum Kampf gegen die Rechtsentwicklung vor. Man einigt sich auf eine Resolution, die aus VVN-Kreisen stammt, und erklärt diesen Kampf zu einer der Hauptaufgaben. Von vielen Seiten wird gefordert, die noch geübte Distanz zu den autonomen Antifa-Gruppen aufzugeben. Immer wieder streiten jedoch Rednerinnen auch gegen einen »elitären Antifaschismus«, gegen eine rechthaberische Haltung von Linken, die von oben urteilen.
Zum Fußballspiel Energie Cottbus gegen Bayern-München gibt es viele Wetten. 4:1 für Bayern heißt eine davon. Die Bayern sind einfach gut, Cottbus ist nichts, begründet es der Journalist. Aber in der Stadt rechnet man wider alle Vernunft mit einem Sieg oder einem Unentschieden. Das sei mehr als ein Wettkampf, erklärt eine Cottbusser Journalistin, da tritt der beleidigte kleine Mann aus dem Osten, der seine Spieler mit geringen Summen in Südosteuropa kauft, gegen die arroganten reichen Säcke aus Bayern an. Es ist eines der Spiele mit symbolischer Bedeutung. Und der Cottbusser Sieg unter dem hellblauen Himmel scheint auch den Parteitag zu beflügeln.
In den zwei Tagen wird allmählich klar, dass es unter den aktiven Leuten eine Lust gibt, ohne Gysi und Bisky sichtbar zu werden. Sie haben sich damit abgefunden, dass sie ohne diese begabten, schlagfertigen, auch biografisch so überzeugenden Figuren an der Spitze auskommen müssen. Da ist niemand mehr, hinter dem sich die PDS verschanzen könnte. Eine zweite Wahrheit wird zu Tage treten müssen - über die eigentliche, ungeschönte Substanz dieser Partei, die als sozialistische im Kontext der europäischen Linksparteien bestehen will. In diesem Sinn hält auch der neue Fraktionsvorsitzende, der Gysi-Nachfolger Roland Claus, am zweiten Tag eine nicht eingeplante Rede, die zum einzigen Moment von wirklicher Begeisterung auf dem Parteitag wird. Von Cottbus aus kann die PDS in die nächste Phase eintreten. Das immerhin ist ihr gelungen.
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